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'Zum ewigen Frieden'
Bemerkungen zu Helmut Schmidts Kant-Lektüre
Kant ist der Moses
unserer Nation, der sie aus der ägyptischen Erschlaffung
in die freie einsame Wüste seiner Speculation führt,
und der das energische Gesez vom heiligen Berge bringt. Freilich
tanzen sie noch immer um ihre güldenen Kälber und hungern
nach ihren Fleischtöpfen und er müßte wohl im
eigentlichen Sinne in irgend eine Einsame mit ihnen auswandern,
wenn sie vom Bauchdienst und den todten, herz- und sinnlos gewordenen
Gebräuchen und Meinungen lassen sollten, unter denen ihre
bessere lebendige Natur unufhörbar, wie eine tief eingekerkerte,
seufzt.
I TRÄUMEREIEN
Nichtes kann die zweideutigkeit des Titels der im Herbst 1795
erschienen Schrift 'Zum ewigen Frieden' kürzerund treffender
bezeichnen als das anscheinend skeptische Wort, mit dem sie der
zweiundsiebzigjährige Kant seinem Schüler Kiesewetter
ankündigt, der ihn im vorigen Jahr mit einem Fäßchen
Teltower Rübchen verwöhnt hatte. So wohlschmeckend
waren die Rübchen, daß hiesige seinem Gaumen nicht
mehr behagen wollen. Er erbittet sie sich zum zweiten Mal, gegen
Erstattung der Auslagen versteht sich, doch werde Kiesewetter
demnächst seine reveries 'zum ewigen Frieden' bekommen;
durch Nicolovius, den Königsberger Verleger Kants. Das Wort
Träumereien errinnert an Jean Jaques Rousseaus letztes,
1782 posthum erschienenes Fragment 'Reveries du promeneur solitaire',
das er gelesen haben muß nicht ganz ohne Nutzen,
denn der dort zentrale Begriff einer 'morale sensitive' erscheint
auch bei Kant, als moralisches Gefühl, dem er freilich die
verpflichtende Konsequenz jenes moralischen Gesetzes abspricht,
auf dem auch die Schrift 'Zum ewigen Frieden' beruht. Dennoch
entsteigt, worauf noch die beiläufige Bemerkung hinweist,
Rousseaus Umschreibung des Gewissens und Kants kategorischer
Imperativ der gleichen, nicht weiter befragbaren Tiefe, als Bedingung
des Menschseins oder als a priori gegenwärtiges Sittengesetz,
dessen Existenz der Philosoph am Ende seiner 'Kritik der praktischen
Vernunft' ebenso anstaunt, wie den bestirnten Himmel über
sich. Damit ist eingeräumt, was die Epigonen Kants verdrängten,
daß die Insel der Vernunft von unbekannten Meeren umgeben
ist. Insofern wäre das herabsetzende Wort Inbegriff einer
Kritik, die nach den Grenzen der Aufklärung fragt. Doch
täuschen wir uns nicht; so lange das Traumland noch überspült,
noch nicht dem Meer des Unbewußten abgerungen war, galt
das Träumerische nicht viel. Unter Aufklärern war es
die abschätzige Metapher für alles Trügerische,
übertroffen nur noch vom offenbaren Betrug. Kant selbst
hatte Emanuel Swedenborgs Architektonik des Himmels (die, in
ihrer quasirationalen Vermessung des Irrationalen, so paradox
das klingt, ebenso aus dem Geist der Aufklärung war wie
die Kantischen Vernunftkritiken) als Träume eines Geistersehers
abgetan. Der Widerspruch muß vewundern, daß Kant
gerade jenen abschätzigen Begriff des Träumens, der
in Rousseaus Vermächtnis als das letzte und legitime Asyl
des aus der Gesellschaft verstoßenen Subjekts definiert
ist, hier auf Gedanken anwendet, die für sich den höchsten
Grad gesellschaftlicher Allgemeinheit beanspruchen. Wird doch
das 'Projet de Paix perpêtuelle' französischer Aufklärer,
das übrigens auch Rousseau in seinem späten Diskurs
'Rousseau juge Jean Jaques' in die Waagschale seines imaginären
Prozesses wirft, und das erst Kant aus der Sphäre des bloß
Projektierten erhoben hat, von einem Einwand durchkreuzt, dem
der Friedensgedanke, seitens einer anderen Sorte von Aufgeklärten,
stets gewärtig sein muß. Das hieße Kant unterschätzen,
würde das Wort 'reveries' als vorgezogene Retourkutsche
verstanden. Nein, jener seltsame Widerspruch löst sich ganz
anders, bewunderungswürdig und überraschend. An der
immer wieder mißlingenden Stelle des Übergangs von
der Theorie zur Praxis beweist der alternde Kant Fähigkeit
für die Welt (wovon noch zu sprechen ist). Das Vernünftige
hat mit dem Widerstand der Unvernünftigen zu rechnen und
die Weltweisheit, wie Philosophie einmal hieß, wäre
es nicht, wenn sie den Weltklugen nicht das Wasser reichen könnte.
Wie sich jetzt noch zeigt, waren und sind die von Kant formulierten
Wahrheiten der gewohnheitsmäßigen Politik gefährlich;
so sehr, daß die Betroffenen, wenn sich nicht, mit Kants
Worten, 'die falschen Vertreter der Mächtigen der Erde zum
Geständnisse bringen lassen wollen, daß es nicht das
Recht, sondern die Gewalt sei, der sie zum Vorteil sprechen',
entweder ihre Verbreitung verhindern, oder ihren Inhalt verfälschen
müssen. Damals schien das erste opportun, heute das zweite.
Darum kam es Kant darauf an, zu verhindern,daß jene ohnehin
nicht für den Tag berechnete Wahrheit im Augenblick ihres
Erscheinens unterdrückt würde; die kalkulierte Verharmlosung
ihres revolutionäres Inhalts war der einzig gangbare Weg.
Darum spielte er seinen Gegnern einen Einwand in die Hände,
auf den sie bei Lektüre des philosophischen Entwurfs und
bei der Präzision seiner Argumente schwerlich von selbst
verfallen wären. Mit dem ironischen Wort 'reveries' deutet
Kant auf die Eselsbrücke, die er eigens für
die Zensur in der knappen Einleitung seiner Schrift installiert
hat.
II RETTENDE KLAUSEL
Noch in der Art der angewandten List unterscheidet sich Kants
Vorgehen von der durchtriebenen, deren sich die Ehrlosen bedienen.
Er spielt nicht falsch wie jene, denen der Zweck die Mittel heiligt,
sondern legt, was größere Kunst erfordert, die Karten
offen auf den Tisch. Daß dies keineswegs dasselbe wie das
Spiel sei, hat Adorno in der Vorrede zur 'Negativen Dialektik'
angemerkt. Damit wird diese List selbst zum Beispiel für
die Einhelligkeit von Politik und Moral, deren Senkblei und Richtschnur
die transzedentale Formel des öffentlichen Rechts ist: 'Alle
auf das Recht anderer Menschen bezogen Handlungen, deren Maxime
sich nicht mit der Publizität verträgt, sind unrecht.'
Dieser Satz ist so wahr und so anwendbar wie der Pythagoräische.
Erst wenn eingesehen ist, daß das mit Vorsatz Heimliche
dem öffentlichen, d. h. republikanischen Recht widerspricht,
hat die Geschichte den Kantischen Gedanken eingeholt. Republiken,
in denen das Öffentliche unter Ausschluß der Öffentlichkeit
verhandelt wird, sind Lüge.
ZUM EWIGEN FRIEDEN
'Ob diese satirische
Überschrift auf dem Schilde jenes holländisches Gastwirts,
worauf ein Kirchhof gemalt war, für die Menschen überhaupt,
oder besonders die Staatsoberhäupter, die des Kriegs nie
satt werden können, oder gar wohl nur die Philosophen gelte,
die jenen süßen Traum träumen, mag dahingestellt
sein. Das bedingt sich aber der Verfasser des Gegenwärtigen
aus, daß, da der praktische Politiker mit dem theoretischen
auf dem Fuße steht, mit großer Selbstgefälligkeit
auf ihn als einen Schulwissen herabzusehen, der dem Staat, welcher
von Erfahrungsgrundsätzen ausgehen müsse, mit seinen
sachleeren Ideen keine Gefahr bringe, und den man immer seine
elf Kegel auf einmal werfen lassen kann, ohne daß sich
der weltkundige Staatsmann daran kehren darf, dieser auch, im
Falle eines Streits mit jenem sofern konsequent verfahren müsse,
hinter seinen auf gut Glück gewagten und öffentlich
geäußerten Meinungen nicht gefahr für den Staat
zu wittern; durch welche Clausula salvatoria der Verfasser
dieses sich dann hiermit in der besten Form wider alle bösliche
Auslegung ausdrücklich verwahrt haben will.' Wer wird sich
einfallen lassen, einen süßen Traum zu zensieren,
auch wenn er auf gut Glück gewagt sein sollte? Die Anspielung
auf den unglücklichen Jean Jaques erhält hier ihren
konkreten Sinn: die Wahrheit begibt sich in den Schutz der Unmündigkeit,
der Ohnmacht, im Bild des Kegelschiebens sogar ins Provinziell-Läppische,
um nicht mundtot gemacht zuwerden. Indem Kant das gesellschaftlich
verändernde Moment seiner Schrift diskriminierte, sie unter
den Augen der Obrigleit verharmloste, verwies er sie in den Untergrund
der Geschichte. Gegenüber dem Kantischen Extrem von Scharfsinn
und Weitblick, einer Subversion solcherart, war und ist die Staatsverwaltung,
die Hölderlin einmal als 'einfältig' charakterisierte,
weit überfordert. Mit der Bürokratisierung der einstigen
Feudalmacht, der Büroherrschaft nichts weiter war als ein
fiskalisches und juristisches Hilfsinstrument, hat jene Kurzsichtigkeit
nur noch zugenommen. Seit sich Politik auf Reagibilität
einschränkte, seit sie zur mehr oder weniger empfindlichen
Membran des Interessenlärms wurde, setzt sich der Kanzler
die Brille auf, wenn er das nächste Haushalts- oder Wahljahr
ins Auge faßt.
ERSTER EXKURS
Zeitgenössische Zensur
Rückblickend könnte geschlossen werden, Kants Vorkehrungen
gegen die Zensur seien überflüssig gewesen nur
Symptom jener Paranoia, der auch Rousseau verfiel. Daß
es anders war, ist aktenkundig: 'Verehrungswürdiger Mann,
zum Erstaunen aller denkenden und gutgesinnten Menschen verbreitet
sich hier das Gerücht, daß es der blinden Glaubenswuth
gelungen sei, Sie in den Fall zu setzen, entweder die Wahrheiten,
die Sie ans Licht gezogen und verbreitet haben, für Unwahrheiten
zu erklären, oder Ihr Amt, das Sie so sehr verherrlichet
haben, niederzulegen. Ich will zwar zur Ehre des ablaufenden
Jahrhunderts noch hoffen und wünschen, daß dieses
empörende Gerücht eine Erdichtung sei; sollte der Lehrer
des Menschengeschlechts den Königsbergischen Lehrstuhl wirklich
nicht mehr betreten dürfen, und sollte für Sie, edler
Mann, auch nur die geringste Verlegenheit sei's Ansehung
Ihrer körperlichen oder geistigen Bedürfnisse
daraus entstehen: so erlauben Sie mir eine Bitte, durch deren
Erfüllung Sie mich sehr glücklich machen würden.
Sehen Sie in diesem Falle sich als den Benutzer alles dessen
an, was ich mein nennen darf; machen Sie mir und den Meinigen
die Freude zu uns zu kommen
' So Joachim Heinrich Campe
am 27. Juni 1794 aus Braunschweig. Kant antwortet gerührt,
daß es so weit noch nicht sei, doch im Oktober trifft die
Kabinettsorder ein, die ihm den Mißbrauch der Philosophie
zur Herabwürdigung und Entehrung der Religion vorwirft und
zugleich androht, daß er sich bei fortgesetzter Renitenz
unfehlbar unangenehmr Verfügungen zu gewärtigen habe.
Kant fügt sich zum Schein, wie sich später zeigt
und teilt Friedrich Wilhelm II. mit, daß er,
'um in keinen Verdacht zu gerathen, sich fernerhin aller öffentlichen
Vorträge in Sachen der Religion, es sei der natürlichen
oder der geoffenbarten, in Vorlesungen sowohl als in Schriften'
völlig enthalte und sich 'hiermit dazu verbinde'. Dem Verleger
de la Garde erläutert er wenig später seine Schwierigkeiten.
Die eine sei sein ziemlich hohes Alter, das ihm schriftstellerische
Arbeit erschwere, die andere bestehe darin, daß, da sein
Thema eigentlich 'Metaphysik in der weitesten Bedeutung sei und,
als solche, Theologie, Moral (mit ihr also Religion) ingleichen
Naturrecht (und mit ihm Staats-und Völkerrecht), obgleich
zwar nur nach dem, was blos die Vernunft von ihnen zu sagen hat,
befasse, auf welcher aber jetzt die Hand der Censur schweer liegt,
man nicht sicher sei, ob nicht die ganze Arbeit, die man in einem
dieser Fächer übernehmen möchte, durch einen Strich
des Censors vereitelt werden möchte'. Unter diesen Bedingungen,
besser, trotz dieser, ist der philosophische Entwurf 'Zum ewigen
Frieden' entstanden. Nötig war der Exkurs darauf, weil diese
Schrift zu jenen wenigen gehört, die ihre öffentliche
Wirkung noch vor sich haben.
III DIALEKTIK DER AUFKLÄRUNG
Kants Vorschläge, in der Form eines Friedensvertrags, sind
von apodiktischer Kürze, ihre Erklärungen, die beiden
Zusätze und Anhänge so klar gehalten, daß man
fragen muß, warum eine solche Schrift an deutschen Schulen
nicht nur nicht gelesen wird, daß ihr Unterricht erst gar
nicht darauf hinausläuft, solche Gedanken in ihrer unkorrumpierbaren
Klarheit faßlich zu machen, daß es merkwürdig
berührt, wie viele zwar vom Frieden reden, wie wenige jedoch
seine fundamentalste Begründung kennen. Angesichts Kants
radikalem Republikanismus darf diese herbeigeführte oder
absichtliche Rezeptionsverweigerung nicht verwundern; sie gehört
zum Unbelehrbarkeitssyndrom, das früher durch Katastrophen
behoben wurde und jetzt nur noch durch Aufklärung zu heilen
ist. Verwundern, nein, verwunden muß darum, wenn auch die
hierzu Befähigten resignieren und hier und da mit zynischen
Lächeln im Wust herumstochern, statt der allgemeinen Verwüstung
entgegenzutreten. Der intellektuellen Destruktion ohnehin zerfallender
Mißverhältnisse müssen konstruktive Gegenentwürfe
entsprechen. Die bloße Beschleunigung des Zerfalls potenziert
nur eine Verzweiflung, in der noch das Schlimmste und Abwegigste
möglich wird. Wer die Hoffnung der Erneuerung aufgegeben,
wer den Gedanken einer möglichen Rettung verworfen hat,
den hat die Vernichtung längst schon erreicht, und es gibt
keinen Grund, warum sie im realen Herannahen einhalten sollte.
Das Paradox, jenes Neue sei längst schon da, nur vernachlässigt
und mißverstanden, wie die Gesänge Hölderlins
und Kants Übergang zu philosophischer Praxis, dieses Paradox
löst sich auf, wenn die Linie des kulturellen Fortschritts
nicht, wie seit Beginn des 19. Jahrhunderts, als stetig
ansteigende Perfektibilitätslinie, sondern, in Übereinstimmung
mit den amplitudischen Bewegungen natürlicher Prozesse,
nach einem Wort Hölderlins, als 'schlangengleiche' Bewegung
verstanden wird, in deren Verlauf jede Aszendenz, jede Kulmination
mit einer nachfolgenden Deszendenz zu rechnen hat. Daß
dieser Gedanke mehr als geschichtsphilosophische Spekulation
sei, lehrt die Geschichte selbst; sie ist ein Meer solcher Wellen.
Und wenn es bis jetzt dem Bewußtsein unerlaubt und überhaupt
nur in Zusammenbrüchen möglich war, die Ignoranz des
herrschenden Tags historisch zu relativieren, so ist uns jetzt
erstmal die tragische Verkettung von Verhängnis und Erkenntnis
verboten
VI TOPOLOGIE DES VERRATS
'Philosophie, die einmal überholt schien' und 'sich am Leben'
erhielt, nur 'weil der Augenblick ihrer Verwirklichung versäumt
ward', hatte gut lachen. Inzwischen liegt sie wieder im Gerümpel
und die Wiederbelebung kann von neuem beginnen. Aber Versäumnis
war es niemals darin ist Adornos plakativer Satz zu korrigieren;
immer war es Verrat, begangen vom bestenfalls Mittelmäßigen,
das sich gegen die Herrschaft des Höheren auflehnte, nur
um sich für einen vergänglichen Tag an dessen Stelle
zu setzen. Die Schmidt'sche Kant-Rede ist ein seltenes Dokument
dieses Vorgangs. Der Verrat darf sich so öffentlich zeigen,
weil er sich selbst unbekannt wurde. Und dies ist nicht nur ein
Zeichen für die Verblendung des an Verrat erkrankten Subjekts,
sondern Anzeichen auch für den Grad der allgemeinen Deszendenz,
die ihn begünstigt. Zu sehr täuscht das perspektivelose
Bild, das den Menschen auf einer Treppe zeigt; als sei er von
Spiegeln umgeben, die diese optische Täuschung unablässig
wiederholen und vervielfältigen, am meisten den, der, nach
'materialer Wertethik' auf oberster Stufe steht. Nun meint er
wahrhaft das zu sein, was er zu sein scheint. In der Unfähigkeit,
das täuschende Verhältnis zu entzerren, noch lächerlicher,
im naiven, im unreflektierten Bedürfnis, die so vorteil-
wie fehlerhafte Konstruktion für die beste aller möglichen,
eigentlich für die einzig mögliche auszugeben, in dieser
Chuzpe im vorgegebenen Rahmen; in der Unfähigkeit, Gegebenes,
das falsch sein kann, wie das Beispiel zeigt, anzuzweifeln, aufzugeben,
in der Unfähigkeit zu kritischer Selbstbeschränkung,
die mit gebotener Vorsicht als Führer-Syndrom zu umschreiben
wäre, in einer Unfähigkeit, die beim bloß Falschen
nicht stehen bleibt, die in immer neuen historischen Gestalten
gemeingefährlich werden kann, in dieser Schwäche des
mit tausend Ketten an die Immanenz geschmiedeten Verräters
offenbart sich der Geist in seiner Negation, als abwesend und
stolz, seiner selbst nicht mehr bedürftig. Gleichwohl enthält
der 'homo novus', den Helmut Schmidt als Phänotyp des bürgerlichen
Sozialdemokraten so lehrreich repräsentiert, den Traum des
neuen Menschen ebenso wie den durchaus normalen Verrat am antiquierten
Menschenbild. Im topologischen Problem der Überführung
der Kantischen Philosophie in die was ihm wohl selbst
entschlüpfte Reagibilität der Schmidt'schen
Politik (wobei jener technizistische Euphemismus dem Reaktionären
kongruent ist, das man im Parteienhader dem Antipoden und Rivalen
im Kampf um die Macht anzuhängen beliebt) ist aber das Verhältnis
von alt und neu verkehrt: denn liegt in Kants 'Philosophischem
Entwurf', wie in Hölderlins Gesang, das Versprechen einer
'Neuen Welt', so bleiben beide so lange, bis sie in der vorgedachten
und angekündigten Welt aufgegangen sind. Jeder frühere
Versuch, das Neue in seiner vorzeitigen Gestalt verschwinden
zu machen, etwa mit der Behauptung, im sozialpolitischen Netz,
in der Reagibilität sozialdemokratischer Innen- und Außenpolitik,
sei das Versprechen erfüllt, ist keine progressive Tat,
kein ödipaler Totschlag, sondern so regressiv wie der Mord
des Ältesten am Sohn. Das ist Rückschritt im Namen
des Fortschritts, Liquidierung der Hoffnung inmitten des Ruins,
dessen Katastrophe schon fest eingeplant ist. Deswegen ist Kants
illusionsloser Satz, daß der Pragmatiker eher das ganze
'Volk, und, wo möglich, die ganze Welt' preisgeben würde,
als einmal freiwillig zurückzutreten, ernsthaft auf seinen
appellativen Sinn hin zu prüfen
VII DEMOKRATIE UND REPUBLIKANISMUS
Kants Vorschläge zum Frieden bestehen oder fallen mit den
drei Definitivartikeln zur notwendig republikanischen Verfassung,
zum immer umfassender werdenden Bund der republikanischen Gemeinwesen
und zum Weltbürgerrecht. Leicht zu sehen, daß die
republikanische Verfassung der Ausgangspunkt aller weiteren Schritte
ist. Die Falschheit beginnt mit der Umdeutung dieses zentralen
Postulats. So liest man in der Einleitung zur Reclam-Ausgabe
('zu schulischen Zwecken genehmigt von den Kultusministern der
Länder'): 'Die nach kantischer Ausdrucksweise republikanische
nach heutigem Sprachgebrauch demokratische Verfassung
steht im Gegensatz zu der despotischen, bei der ein oder mehrere
Machthaber, nicht aber das Volk über den Krieg entscheiden.'
Das allerdings ist dreist und es lohnte, den Kommentaren dieser
'Universal-Bibliothek' eine kritische Untersuchung zu widmen
(in dieser Hinsicht kaum überbietbar das rechtstaatliche
Nachwort zu Rousseaus 'Gesellschaftsvertrag'). Ähnlich Schmidt,
nach einer vagen Hymne über die 'Stärke der westlichen
Demokratien', die 'gerade in ihrer Offenheit, in ihrer Lernfähigkeit,
in ihrer Anpassungsfähigkeit an neue Situationen und neue
Probleme' liege: 'Diesen demokratischen Prozeß konnte Kant
sich noch nicht vorstellen. In unserem Sinne konnte er ein Demokrat
noch nicht sein schon gar kein Sozialdemokrat.' Nach Kants
Analyse der demokratischen Verfassung wird verständlich,
warum der gewählte Kanzler dieses Landes zu einer solchen
Formulierung seine Zuflucht nehmen muß, denn genau gegen
diese, auch unter Aufklärern anzutreffende Vermischung der
Begriffe wendet sich der Text: '
Alle Regierungsform nämlich,
die nicht r e p r ä s e n t a t i v
ist, ist eigentlich U n f o r m ,
weil der Gesetzgeber in einer und derselben Person zugleich Vollstrecker
seines Willens sein kann.'
Unmißverständlich
ist danach die parlamentarische Demokratie eine wenn auch gemäßigte
Parteien-Diktatur, ebenso wie alle übrigen auch, die diesen
Namen tragen. Die in demokratischen damit noch längst
nicht republikanischen Wahlen um die Gunst für dumm
verkaufter Wähler buhlenden Parteikader repräsentieren
den Volkswillen ebensowenig wie in jenen Staaten, in welchen
der Volksentscheid als Wahl nur eines Partei- und Herrschaftskaders
zur zynischen Farce herabgewürdigt wurde. Hier steht den
Bürgern frei, vom Regen unter die Traufe zu treten. Im gewagten
Wort des Kanzlers, der Republikaner Kant habe 'Demokrat noch
nicht' sein können, 'schon gar nicht Sozialdemokrat', verrät
sich zugleich die verblendete, rechthaberische, mit einem Wort
despotische Struktur des Parteibewußtseins, die sich vom
faschistoiden Führungsanspruch der Einheitsparteien nur
durch ein geringfügiges Detail unterscheidet, daß
ein Teil des Ganzen, der im radikalen Pluralismus der Republik
das volle Recht genösse, so zu sein wie er ist, sich die
Überlegenheit über alle anderen anmaßt. Um das
Zwietrachtsmodell, auf dem die Demokratie und der in ihr permanent
stattfindende Bürgerkrieg beruht, gegen Kants Demokratie-Kritik
zu retten, muß der Konflikt selbst zur staatstragenden
Idee erhöht und die Harmonie als Konservatismus verdächtigt
werden.
Um die Demokratie gegen Kants Einwand der 'Unform'
zu retten, räumt Schmidt dem Konflikt das Vorrecht ein.
Damit verstärkt er nur den ohnehin latenten und stes aufbruchbereiten
Mars. Damit verweigert die parteiische Linientreue die mögliche
Versöhnung unter dem Zeichen des Gemeinwohls oder der Republik,
die ja nichts anderes als öffentliche Sache bedeutet. Parteiisches
Denken ist Krieg in Gedanken. Im unversöhnlichen Streit
der Parteien ist der Krieg schon präfiguriert. Diese Lehre
zu ziehen, haben die Väter des Grundgesetzes versäumt.
Verführt vom eigenen Erfolg und getäuscht von einer
jetzt verhängnisvoll zerbrechenden Stabilität, sanktionieren
die Erben den Fehler, erklären ihn für unumstößlich
richtig, für inkorrigibel, und verfolgen jeden, der das
geltende Grundgesetz für ein Übel erklärt, nicht
schutz-, sondern änderungsbedürftig.
Die Bürger
erwarten von diesem Staat nicht die Stiftung des Friedens, sondern
nur, daß er keinen Krieg anstiftet, keinem Krieg Vorschub
leistet. Hier hilft kein Drehn und Deuteln: gegen die eigene
Intention bekennt sich dieser Mann zum begrenzten Krieg, und
das ist gefährlich. Denn diesmal bedarf es nicht des erklärten
Willens zum Krieg; diesmal genügt es schon, die unabänderliche
Notwendigkeit des Krieges anzuerkennen.
Vor dem Hintergrund
des minutiös vorbereiteten atomaren Konflikts ist die Wendung,
'Angst vor dem Konflikt' gefährde die Demokratie, mehr als
demagogisch. Nicht auszudenken, wenn Kant auch hierin Recht behielte,
daß die demokratischen Herren das 'Volk, wo möglich
die ganze Welt preisgeben' würden, ehe sie die Demokratie
republikanisierten, d. h. den Bürgern darin republikanische
Rechte gäben.
Unter dem Aspekt, daß sich in
den Demokratien Partei-Aristokratien und in der Personalunion
von Parteivorsitz und Regierungsführung auch monarchische
Strukturen herausgebildet haben, besteht kaum Hoffnung einer
freiwilligen r e p u b l i k a n i s c h e n
R e f o r m durch eine der
regierenden Parteien. Gleichwohl, die Bedrohung dieses Landes
durch seine Verbündeten und deren Feinde, sein ökonomischer
und sein ökologischer Zustand, aber auch seine relative
Stabilität, seine Prädestination zu Bündnissen
mit der 'Dritten Welt', könnte zur Einsicht bringen, daß
es jetzt an der Zeit sei für den von Kant empfohlenen Schritt,
zu dem, was Hölderlin metaphorisch 'Zeit
deutschen
Schmelzes' und terminologisch bestimmt 'vaterländische Umkehr'
genannt hat; Umkehr zur abendländischen 'Vernunftform',
die 'republikanisch' sei.
VIII
KATHARSIS OHNE KATASTROPHE
Nur dann wäre der Vorwurf, der Helmut Schmidt nach seiner
Kant-Rede zu machen war, ein Stück zu weit gegangen. Solange
die Notwendigkeit einer republikanischen Wende von innen bestritten
und die notwendig zu Erstickung und Einäscherung des Landes
führende Rechtfertigungspolitik weiterbetrieben wird, ist
er aufrechtzuerhalten. Daß ein an Kant geschulter Politiker
ein solches Amt erlangen und von hier aus, mit Umsicht und Beharrlichkeit,
das Vernünftige durchsetzen wlürde, wäre ein Glücksfall
gewesen, von dem keiner wüßte, wie ihn die Deutschen
verdient hätten. Nach dem, was zu lesen ist, scheint diese
Möglichkeit vertan, denn der Kanzler hat den gültigen
und unwiderlegten Einwurf Kants einer Politik geopfert, die der
Welt, wie sie war, und nicht, wie sie sein soll, nachhängt.
Nicht umsonst lautet die Mosaische Gottesformel nicht einfach
'Ich bin der ich bin', sondern 'Ich bin der ich sein werde'.
Helmut Schmidt hat Kants Entwurf nicht, was nahegelegen hätte,
als 'reverie' abgetan. Er hat den Gedanken Kants ihre Gültigkeit
abgesprochen, so, als seien sie veraltet, wie das Modell vom
vorigen Jahr. Doch das Neue, das als Zukunft in die Gegenwart
tritt, ist längst schon da: seit es an der Zeitwende des
18. Jahrhunderts erstmals, als reine Möglichkeit, in
die Wirklichkeit trat. Aber nicht nur das; Helmut Schmidt hat
die Kontur des Kantischen Entwurfs stehenlassen und seinen Inhalt
durch die Doktrin der gegenwärtigen Außen- und Innenpolitik
ersetzt. Ihm gelingt es, die irreale Idee eines 'Gleichgewichts
des Schreckens', eine auf den alten monopolistischen Wirtschaftsstrategien
beruhende und im übrigen desaströse Energiepolitik,
die eigene Rüstung und den Rüstungsexport mit den Maximen
des Kantischen Entwurfs zu vereinbaren. Ehrlicher und besser
wäre es gewesen, wenn er seine Jugendlektüre beiseite
gelassen hätte. Bis heute, vielleicht noch bis morgen mag
der Kanzler mit seiner Politik des Augenmaßes recht behalten.
Spätestens ab übermorgen wird das Ausmaß des
Schreckens und der Umfang der Verwicklungen des Augenmaßes
spotten. Was gestern, heute und morgen real hieß, wonach
Realpolitik sich auszurichten hatte, wird übermorgen irreal
geworden sein; dann jedoch ist es für jede Realität
zu spät. In allen Bereichen sind die Risiken der bisherigen
Politik so angewachsen, daß das Risiko einer Kursänderung,
die den Namen verdient, immer geringfügiger wird. Die Tendenz
dieser Änderung muß republikanisch sein; sie wird,
darüber besteht kein Zweifel, wirtschaftliche und politische
Macht dort zurückschneiden und an die Bürger zurückgeben,
wo ihre Konzentration gemeingefährlich geworden ist. Diese
Möglichkeiten zu untersuchen, sie zu präzisieren, die
Reihenfolge der Schritte zu bestimmen, ist nächste Aufgabe.
Die außenpolitischen Konsequenzen jener republikanischen
Wende sind in Kants Entwurf 'Zum ewigen Frieden' schon umrissen.
Sie bedürfen nur noch der Modifikation. Erstmals muß
im Trauerspiel der Geschichte die Umkehr vor dem Zusammensturz
stattfinden; Katharsis ohne Katastrophe.
antwort im auftrag
des bundeskanzlers
Bundesrepublik Deutschland
Der Bundeskanzler
Leiter des Kanzlerbüros
Bonn, den 14. Juni 1982
Sehr geehrter Herr Sattler,
der Bundeskanzler hat mich gebeten, Ihnen für Ihren Aufsatz
zu seiner Kant-Rede herzlich zu danken.
Es hat ihn sehr gefreut, daß Sie sich mit seinen Ausführungen
so intensiv beschäftigt haben, wenn er Ihre politischen
Schlußfolgerungen auch nicht in jedem Fall teilt.
Einem Irrtum möchte ich aber auf jeden Fall vorbeugen: Der
Verzicht auf einen v o m S t a a t
gestifteten Sinnzusammenhang heißt für den Bundeskanzler
nicht, wie Sie dies interpretieren, Verzicht auf Friedenspolitik,
sondern Verzicht auf jede Art von 'formierter Gesellschaft' unter
'geistiger Führung' des Staates.
Mit freundlichen Grüßen
Dr. Bruns
- helmut schmidt muszte sein amt am 1. oktober 1982 nach einem
konstruktiven misztrauensvotum an helmut kohl abtreten
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