/ d e sattler -
entwuerfe publikationen / ungedruckte aufsaetze und
vortraege /
im unterland
1
am 18. februar 1870 schreibt der Lauffener pfarrer Eduard
Bürger an Chr Th Schwab, den herausgeber der zweibändigen
Hölderlin-ausgabe von 1846
In der Hausflur
des Hofcameralamts sind zwei Fensterscheiben, auf deren Einer
steht: // Wer wolte sich mit Grillen plagen, / Solange Lenz und
Jugend blühn, / Wer wolt in seinen Blüthen Tagen /
Die Stirn in düstre Falten ziehn? // C. F. den 21. Nov
1779. // Auf der andern Tafel steht: // Wo, wo seyd Ihr? / Seyd
Ihr ganz verschwunden? / Euch, euch sucht mein thränenvoller
Blick, / Süße, unaussprechlich süße Stunden,
/ Kehrt, o kehret doch zu mir zurück. // Die zweite Handschrift
gleicht Ihrem Autograph und ist unzweifelhaft von Hölderlin.
Die erste Handschrift differirt etwas, doch scheint der zweite
Vers auf die seelige Zeit der Kindheit, in welcher die ersten
Zeilen geschrieben waren, hinzudeuten umsomehr, als diese sich
in dem Fenster schon vorfanden als der zweite Vers geschrieben
wurde. Die orthographischen Fehler sind auch Zeugniß für
einen 9 jährigen Knaben und die Handschrift ändert
sich ja mit den Jahren. C. F. würde Christian Friedrich
bedeuten. Der erste Vers ist wohl nicht von H. selbst gedichtet,
sondern eben aus dem Gedächtniß hingerizt. Ueber dieses
unschuldige Kinderspiel freut sich der Dichter im zweiten Vers
und sehnt sich nach der seeligen Zeit.
2
in seinem am gleichen tag verfaßten, am 20. februar
in der 'Schwäbischen Kronik' (dem lokalteil des 'Schwäbischen
Merkur') erschienenen artikel präzisiert Bürger seine
angaben zur herkunft der scheiben
Auf der Hausflur
von Hölderlins Geburtshaus, in welchem am 20. März
d. J. die Säkularfeier stattfinden wird, sind in ein
Fenster zwei Scheiben eingefügt
und weiter unten
Die beiden Fenstertafeln
sind, um nach Analogie des Papierformats zu reden, in Oktav,
sie sollen ursprünglich in der Kanzlei gestanden haben,
und als diese mit Tafeln im Quartformat versehen wurde, in die
Hausflur versezt worden sein.
3
den geist dieser ersten 'ehernbürgerlichen' feier im namen
Hölderlins hat Friedrich Nietzsche im ersten stück
seiner 'Unzeitgemäßen Betrachtungen' festgehalten
und demaskiert
Hier und da werden
nämlich die Philister, vorausgesetzt daß sie unter
sich sind, des Weines pflegen und der großen Kriegsthaten
gedenken, ehrlich, redselig und naiv; dann kommt mancherlei an's
Licht, was sonst ängstlich verborgen wird, und gelegentlich
plaudert selbst einer die Grundgeheimnisse der ganzen Brüderschaft
aus. Einen solchen Moment hat ganz neuerdings einmal ein namhafter
Aesthetiker aus der Hegel'schen Vernünftigkeits=Schule gehabt.
Der Anlaß war freilich ungewöhnlich genug: Man feierte
im lauten Philisterkreise das Andenken eines wahren und ächten
Nicht=Philisters, noch dazu eines solchen, der im allerstrengsten
Sinne des Wortes an den Philistern zu Grunde gegangen ist: das
Andenken des herrlichen Hölderlin, und der bekannte Aesthetiker
hatte deshalb ein Recht, bei dieser Gelegenheit von den tragischen
Seelen zu reden, die an der 'Wirklichkeit' zu Grunde gehen, das
Wort Wirklichkeit nämlich in jenem erwähnten Sinne
als Philister=Vernunft verstanden. Aber die 'Wirklichkeit' ist
eine andere geworden: die Frage mag gestellt werden, ob sich
Hölderlin wohl in der gegenwärtigen großen Zeit
zurecht finden würde. 'Ich weiß nicht, sagt Fr. Vischer,
ob seine weiche Seele so viel Rauhes, das an jedem Kriege ist,
ob sie soviel des Verdorbenen ausgehalten hätte, das wir
nach dem Kriege auf den verschiedensten Gebieten fortschreiten
sehen. Vielleicht wäre er wieder in die Trostlosigkeit zurückgesunken.
Er war eine der unbewaffneten Seelen, er war der Werther Griechenland's,
ein hoffnungslos Verliebter; es war ein Leben voll Weichheit
und Sehnsucht, aber auch Kraft und Inhalt war in seinem Willen,
und Größe, Fülle und Leben in seinem Stil, der
da und dort sogar an Äschylus gemahnt. Nur hatte sein Geist
zu wenig vom Harten; es fehlte ihm als Waffe der Humor; er konnte
es nicht ertragen, daß man noch kein Barbar ist, wenn man
ein Philister ist.' Dieses letzte Bekenntniß, nicht die
süßliche Beileidsbezeigung des Tischredners geht uns
etwas an. Ja, man giebt zu, Philister zu sein, aber Barbar!
Um keinen Preis. Der arme Hölderlin hat leider nicht so
fein unterscheiden können. Wenn man freilich bei dem Worte
Barbarei an den Gegensatz der Civilisation und vielleicht gar
an Seeräuberei und Menschenfresser denkt, so ist jene Unterscheidung
mit Recht gemacht; aber ersichtlich will der Aesthetiker uns
sagen: man kann Philister sein und doch Culturmensch darin
liegt der Humor, der dem armen Hölderlin fehlte, an dessen
Mangel er zu Grunde gieng.
der schlimmste scherz
an alledem, daß von den hier zitierten nicht Nietzsches,
sondern Vischers urteil haften blieb und klischee wurde
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nach seinem besuch in Lauffen vermerkte Chr Th Schwab auf Bürgers
brief
Die Unterschrift
lautet vielmehr C. v. F. u. ist wohl keinesfalls von Hoelderlin,
so wenig als der Hoelty sche Vers!
über Bürgers
voreiliges 'unzweifelhaft von Hölderlin' setzt er zwei fragezeichen,
um dann, am unteren rand, seine erste lesart zu korrigieren
N.B. ohne Zweifel
ist weder die eine noch die andere Inschrift von Hölderlin,
bei der ersten heißt die Unterschrift L. v. F. / C. Schwab.
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daß er in seiner zweiten glosse tatsächlich 'L. v.
F' und nicht 'C. v. F.' schrieb, wird durch die nachfolgende
initiale 'C' seines eigenen namens verdeutlicht; wie auch der
unbekannte schreiber unterzeichnet Schwab in lateinischer Schrift
und demonstriert damit stillschweigend, daß wohl die deutsche
Versalie 'C' mit einem lateinischen 'L', nicht aber das lateinische
'L' mit einem lateinischen 'C' verwechselt werden kann; Friedrich
Beißner, der die beiden inschriften unter der rubrik 'Zweifelhaftes'
ediert, dennoch für Hölderlin als deren urheber plädiert,
übergeht die zweite glosse und bemerkt zur ersten
Christoph Schwabs
Vermerk auf dem an ihn gerichteten Brief des Lauffener Stadtpfarrers
Eduard Bürger vom 18. Februar 1870, worin die beiden Inschriften
mitgeteilt werden (Stuttgart fasc. Vd Nr. 2), die Unterschrift
unter den Höltyschen Versen laute C. v. F., ist irrig: was
er als 'v.' ansieht, ist nichts als der mit dem ungefügen
Schreibgerät übermäßig verdeutlichte Punkt
hinter dem C.
auf dem vermutlich
anfang der vierziger jahre hergestellten photo zeigt sich Schwabs
'v.' oder der 'übermäßig verdeutlichte Punkt'
Beißners als ein kurzer, vertikaler, durch den punkt gezogener
strich
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die scheiben selbst verschwanden kurz vor oder nach der einnahme
Lauffens im frühjahr 1945; zur zweiten, nicht nur in Tübingen,
sondern auch hier 'veranstalteten' säkularfeier hatte die
stadt eine 'Hölderlin-Gedächtnisstätte' eingerichtet;
das zimmer befand sich in einem an der stelle des 1919 abgerissenen
geburtshauses errichteten gebäude, das bis zum kriegsende
dem 'RADwJ' (Reichsarbeitsdienst weibliche Jugend) gehörte;
wie im stadtarchiv belegt, wurde das benötigte inventar
in der hauptsache von dem Heilbronner antiquar Ernst Dauer erworben
oder von diesem leihweise zur verfügung gestellt; laut protokoll
einer ratssitzung vom 2. februar 1946 war beschlossen worden,
'nunmehr die Beibringung der aus dem Hölderlin-Gedächtniszimmer
entwendeten Möbel' zu veranlassen und, wenn die nachforschungen
durch den bediensteten Köhler und den betreuer der ehemaligen
gedenkstätte, präzeptor Rhein, ergebnislos blieben,
'polizeiliche Massnahmen' zu ergreifen
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daß die direktiven des bürgermeisters nicht ausgeführt
wurden, ergibt sich mittelbar aus zwei ergebnislosen anfragen
Walther Killys; als leiter des Hölderlin-archivs schreibt
er am 27. februar 1948 aus Bebenhausen
In dem früher
Herrn Paul Dochtermann, jetzt Tettnang, darauf dem weibl. Arbeitsdienst
gehörigen Haus, ehemals ein Teil des Klostergutes, befanden
sich noch im Jahre 1943 zwei Fensterscheiben, in die vermutlich
von der Hand Hölderlins zwei Gedichte eingeritzt waren.
Da das Haus an Hölderlins Geburtsstelle steht, ist die Vermutung
nicht von der Hand zu weisen, dass eines der beiden Gedichte
von Hölderlin selbst stammt. Das Hölderlin-Archiv hat
seinerzeit mit einer Arbeitsdienstführerin namens Zweigle
in der Absicht korrespondiert, diese so wertvollen Gegenstände
in geeignete Verwahrung zu nehmen. Der Arbeitsdienst hat jedoch
dieser Bitte nicht entsprochen, sodass nunmehr zu befürchten
ist, dass die Scheiben und mit ihnen die Originalschrift eines
Gedichtes verloren gegangen ist. // Darf ich Sie, sehr geehrter
Herr Bürgermeister, bitten, sich dieser Frage annehmen zu
wollen und nach dem Verbleib der Scheiben zu fahnden. Uns liegt
umsomehr daran, als der Text in die grosse, im Auftrag des Württ.
Kultministeriums erscheinende HölderlinAusgabe aufgenommen
werden muß. // Indem ich Ihnen für Ihre Bemühungen
danke bin ich // Ihr sehr ergebener Dr. W. Killy.
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der bürgermeister befragt, wie aktenkundig schon einmal
im märz 1946, den präzeptor Rhein und dieser antwortet
handschriftlich, eingangsstempel vom 5. märz
Sehr geehrter Herr
Bürgermeister! // Die fraglichen Scheiben waren in dem Sekretär
aufbewahrt. Es ist gleicherweise möglich, daß die
Scheiben in dem Durcheinander weggeworfen u. vernichtet wurden,
oder aber (am ehesten) mit dem genannten Möbelstück
zufällig oder [von] einem Interessenten absichtlich mitgenommen
wurden. Ich kam s. Zeit gleich ein paar Tage nach der Einnahme
Lauffens in das GedächtnisZimmer, konnte jedoch von dem
vorher Vorhandenen gar nichts mehr entdecken, obwohl ich auf
dem unordentlichen Boden herumsuchte.
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daraufhin erhält der präzeptor das schreiben Killys
'mit der Bitte um Wahrnehmung'; der in Lauffen befindliche durchschlag
eines schreibens vom 18. märz 'An die Württembergische
Landesbibliothek / Schloß Bebenhausen bei Tübingen'
wurde dem kürzel nach von Rhein diktiert und vom bürgermeister
unterzeichnet; ohne anrede
Auf Grund einer
Aussprache mit dem Betreuer des Gedächtnis Zimmers möchte
ich auf Ihr Schreiben vom 27. 2. 48 mitteilen, dass über
den Verbleib der beiden fraglichen Scheiben bisher nichts mehr
festgestellt werden konnte. Der Text der einen Scheibe stammte
von Hölty, während der Verfasser des zweiten Textes
unbekannt war. Beide Verse zeugten inhaltlich eine Reife und
Beschwingtheit des Rythmus, dass sie wohl kaum von dem jungen
Hölderlin verfasst sein konnten. Falls je begründete
Möglichkeit bestand, dass das Einritzen von Hölderlin
besorgt war, wäre es freilich sehr bedauerlich, falls die
Scheiben ganz verloren gingen. // Der Betreuer des Zimmers ging
bei der ersten möglichen Gelegenheit nach der Einnahme Lauffens
in das Gedächtniszimmer, und mußte leider feststellen,
dass dort nichts mehr vorhanden war. // Wir werden jedoch weiterhin
jeder Möglichkeit nachgehen, dieselben vielleicht doch noch
zu entdecken. // Hochachtungsvoll
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als Killy am 14. juli 1949, nun gleichfalls ohne anrede,
aber 'Hochachtungsvoll', an den letzten satz des bescheids vom
vorjahr erinnert, erhält die 'Württ. Landesbibliothek
/ Schloss Bebenhausen / über Tübingen' die kurze, jetzt
sogar hochachtungslose antwort
Leider ist es uns
bisher nicht gelungen, auch nur irgendwelche Anhaltspunkte über
den Verbleib der beiden fraglichen Scheiben zu erlangen.
11
die offenbar unterlassenen nachforschungen, das nichtergreifen
'polizeilicher Massnahmen' und schließlich auch die abweisende
haltung gegenüber einer institution des landes hatten gründe;
auf dem 'Großen Feld' nördlich von Lauffen war während
der ersten kriegsjahre die Stuttgart vortäuschende scheinanlage
'Brasilien' errichtet worden; sie sollte die nachtangriffe der
RAF auf sich ziehen, mit dem effekt, daß die militärisch
bedeutungslose stadt mit ihren rund fünfeinhalbtausend einwohnern
ziel von 37 luftangriffen wurde; das massivste bombardement vom
13. april 1944, einige monate nach dem abbau der längst
erkannten attrappe, forderte 56 tote; am ende des kriegs waren
40% aller gebäude zerstört und 99 zivilpersonen umgekommen;
verständlich darum die jahrelange animosität gegenüber
allem, was aus der kapitale Stuttgart und ihrer zentralistischen
verwaltung kam; verständlich auch, daß man von nachforschungen
unter den geschädigten und der wiederherstellung jener dubiosen
gedenkstätte absah
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nach diesen vorgängen erlangen zwei gedruckte berichte ex
visis den rang einer primärquelle; in der 'Kölnischen
Zeitung' (1937) schildert Gustav René Hocke eine 'Fahrt
zu Hölderlin'; der kunsthistoriker befragte den besitzer
des an der stelle des alten hofmeistergebäudes errichteten
hauses und erfuhr
Kein Mensch könne
mit Sicherheit sagen, wo das Geburtshaus wirklich gestanden habe.
Man habe behauptet, das Haus, das früher an Stelle seines
neuen gestanden habe, sei das Geburtshaus gewesen. Nichts aber
verbürge die Wahrheit dieser Aussage. Der Bund für
Heimatschutz habe deswegen auch von der Erhaltung dieses alten
Hauses, das nun völlig verschwunden ist, abgesehen. Sein
Haus habe, trotz aller noch verbreiteten Ansicht, nichts mit
dem Geburtshaus zu tun. Vergebens suche man wesentliche Zeichen
der Erinnerung. Trotzdem kämen oft Fremde, suchten, fragten
und gingen wieder. Die Kette der Besucher risse nicht ab. Es
handle sich aber um eine unausrottbare Täuschung. // Als
ich fragte, ob im alten Haus nichts mehr auf Hölderlin gewiesen
habe, nahm er von einem Tisch mit vorsichtigen Händen zwei
Bruchstücke von Fensterscheiben und hielt sie gegen das
Licht. Eine kindliche Handschrift wurde sichtbar, fast unleserliche
Verse, kindliches Stammeln von Frühjahrssonne, Vogelsang
und Blütenduft. Unsichtbar im Schatten, wahrnehmbar nur
im vollen Licht, von ätherischer Feinheit letzte, sagenhafte
Zeichen, die noch von frühester Kindheit zeugen sollen.
Nachdem er mich hinausgeleitet hatte, zeigte mir dieser Mann,
der sich zur Pietät des Bewahrens bekannte, im Hintergrund
des kleinen Parks eine Gedenktafel in einer grossen, denkmalartig
gebauten Steinnische.
13
ein photo des abgerissenenen hauses wurde in Friedrich freiherr
von Gaisberg-Schöckingens aufsatz 'Lauffen am Neckar und
das Geburtshaus des Dichters Hölderlin' ('Schwäbisches
Heimatbuch' 1919, hg. vom Bund für Heimatschutz in Württemberg
und Hohenzollern) veröffentlicht; hier fehlen schon die
auf der um 1800 entstandenen zeichnung Julius Nebels sichtbaren
wirtschaftsgebäude, die erst 1870, durch den ersten käufer
des areals, generalmajor v. Seeger, abgebrochen wurden;
am schluß der studie, die nebenbei auch erste und zuverlässige
angaben zur familie Hölderlins enthält, wird vom hin
und her um die erhaltung des schließlich doch beseitigten
gebäudes berichtet
Das vor kurzem in
andere Hände übergegangene Haus ist noch in gutem Zustande,
mit gutem Willen könnte es zu einem recht behaglichen, altertümlichen
Landhaus umgeschaffen werden. Der Bund für Heimatschutz
in Württemberg und Hohenzollern hat sich die größte
Mühe gegeben, den neuen Besitzer vom Einreißen abzubringen,
wobei wir vom Schillerverein tatkräftig unterstützt
wurden. Zuerst hatten die Unterhandlungen den gewünschten
Erfolg, dann scheiterten sie. Nachher ist dem Landesausschuß
für Naturund Heimatschutz erfreulicherweise die Erhaltung
gelungen. // In unserm Heimatbuche soll das Hölderlinhaus
in seinem jetzigen Zustande nach einer Photograpie unseres geschäftsführenden
Mitgliedes, des Herrn Verlagsbuchhändler Meyer-Ilschen,
vom letzten Sommer festgehalten werden.
14
daß jene fensterfragmente nicht, wie bei gewöhnlichen
zimmerfenstern zu erwarten, aus durchsichtigem glas, sondern
eingefärbt waren, ergibt sich auch aus Friedrich Beißners
beschreibung
Die beiden Inschriften
stehen jede auf einer kreisrunden, bleigefaßten Scheibe,
die, grünlich gefärbt, die Mitte eines größeren,
dunkelgrauen Rechtecks einnimmt; das graue Glas wird durch Bleifassungen,
die den Rechteckseiten parallel gehen, in vier gleiche Teile
zerlegt.
anscheinend waren
die kreisrunden, 'grünlich' eingefärbten scheibensegmente
durchscheinender oder 'heller' als die 'dunkelgrauen' rechtecke,
die sie umgaben
15
nach diesem befund ist zu fragen, ob sich die unterschiedlich
getönten scheiben tatsächlich von anfang an in der
'Kanzlei' befanden, wie aus der von Bürger weitergegebenen
nachricht zu schließen wäre, oder ob sie nicht, worauf
eine nach der inschrift vorgenommene reparatur der zweiten scheibe
hindeutet, schon aus einem früher abgerissenen gebäude
dorthin gelangten; zweifelnd zu fragen ist auch, wie jene kindliche
und nochmals jene adoleszente inschrift gerade am offiziellen
ort des hauses eingeritzt werden konnten; nach Ernst Müllers
aus der inventarliste von 1773 abgeleiteter beschreibung bewohnte
die familie des klosterhofmeisters Heinrich Friedrich Hölderlin
eine große wohnstube im unteren stock, eine obere stube
im zweiten stock, als schlafzimmer der eltern eine stubenkammer
im unteren stock; als gastzimmer diente die obere stubenkammer,
die kinder schliefen in der unteren, die magd in der oberen öhrnoder
flurkammer. die amtszimmer, eine registratur und die genannte
kanzlei befanden sich vermutlich parterre, neben der erhöhten,
über eine steintreppe erreichbaren und mit dem wappen des
erbauers herzog Eberhard III (1665) geschmückten eingangstür
und dem dahinterliegenden flur und treppenhaus; da der größte
teil des alten, 1003 als schenkung kaiser Heinrichs II und seiner
gemahlin Kunigunde errichteten klosters erst 1807/1808 abgerissen
wurde, ist es nicht unwahrscheinlich, daß die altertümlichen
fenstertafeln aus einem dieser schon längere zeit ungenutzten,
somit auch leichter zugänglichen gebäude stammen und,
schon damals der inschriften wegen, aus dem ruin gerettet und
in ein fenster der 'Kanzlei' eingefügt wurden; Carl Christoph
Renz, der unbestrittene primus der promotion Hölderlins,
war übrigens von 1803 bis 1819 pfarrer in Lauffen
16
um diese zeit war der stabskeller Carl Friederich Lederer (1729-1804),
der nachfolger Heinrich Friedrich Hölderlins, nicht mehr
am leben; er hatte den klosterhof bald nach dessen tod am 5. juli
1772 übernommen und mehr als vierzig jahre lang verwaltet;
wer immer sich ohne erlaubnis des hausherrn auf jenen scheiben
'verewigt' hat er hätte, sofern sich diese von anfang
im wohnund amtsgebäude lederers befanden, zum ersten mal
als knabe und nochmals als jüngling, gegen die ungeschriebenen
regeln der 'hospitalität' verstoßen.
17
wie Anna Maria Barbara Essich (1683-1735), die mutter von Hölderlins
in Großbottwar geborenem großvater Jakob Friedrich
Hölderlin (1703-1762), war auch Lederers frau Sibylla Regina
(1735-1796) eine geborene Essich und damit gar nicht so weitläufig
mit der Hölderlinschen familie verwandt; bei den drei kindtaufen
in der familie der schwester von Hölderlins mutter in Löchgau
erscheint, neben Hölderlins Stiefvater Johann Christoph
Gock (3. mai 1776) und seiner mutter (10. mai 1779
und 18. mai 1780) auch Friedrich Jakob Essich, pfarrer in
Heumaden bei Esslingen, und seine ehefrau Louisa Friederica;
dies beweist, daß die beziehungen zu diesem älteren
familienzweig enger waren, als nach der graduellen entfernung
angenommen werden konnte; demnach dürfte sich Carl Gocks
erwähnung einer wahrscheinlich im spätsommer oder herbst
1800 unternommenen reise zu verwandten in Löchgau, Adelshofen
und Lauffen auch auf die familie Lederer-Essich in Lauffen beziehen;
die bisher nicht ausgewertete stelle lautet
Er benüz. diese
Zeit auch zu klei. Ausflüg. in die Geg., und zu einem Besuche
bei sein. ihm sehr wolges. Verwandt. in Löchgau Adelshofen
und Laufen, wo er zugleich auch der [vermutlich zu ergänzen:
'Grabstätte seines Vaters einen Besuch abstattete'].
18
bis zur heirat mit Johann Christoph Gock und ihrem umzug nach
Nürtingen zwei jahre nach dem tod ihres gatten bewohnte
Hölderlins mutter Johanna Christiana, geb. Heyn, zusammen
mit dessen gleichfalls verwitweter älteren schwester Maria
Elisabeth von Lohenschiold (1732-1777) ein von Hölderlins
großvater Jakob Friedrich hinterlassenes haus 'in der nähe
ihrer früh. Wohnung' (so Carl Gock wiederum in seinem im
april 1841 entworfenen 'Lebensabriß'), von welchem ein
drittes erbteil der jüngeren schwester der mutter, Juliane
Friederike (1741-1788), gemahlin des amtmanns Ernst Ludwig Volmar
(1727-1784) in Markgröningen, zustand; dieses haus wurde
nach dem tod der kinderlosen Maria Eliabeth veräußert,
so daß es bei den späteren, in der hauptsache dem
grab Heinrich Friedrich Hölderlins geltenden besuchen wohl
kaum noch zur verfügung stand; umso wahrscheinlicher, daß
die mutter bei solchen gelegenheiten auch den bewohnern des hofmeisterhauses,
den verwandten und nachbarn der zwei letzten Lauffener jahre,
ihre aufwartung machte
19
übernachtet wurde aber in der regel im nur zwei stunden
entfernten Löchgau, bei dem in Hölderlins briefen häufig
erwähnten 'Oncle', dem pfarrer Johann Friedrich Ludwig Majer
(1742-1817) und seiner frau Maria Friederica, geborene Heyn (1752-1816);
wie im dezember 1795 auf dem weg nach Frankfurt dürfte er
im mai des gleichen jahres, von Jena über Heidelberg kommend,
und nochmals anfang Juni 1800, bei der zweiten 'Rükkehr
in die Heimath', station gemacht haben
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der früheste bisher bekannte besuch ist nur mittelbar durch
Johann Friedrich Blum (1759-1843), seit 1777 schreiber bei Hölderlins
Markgröninger onkel, bezeugt; in seinem im herbst 1779 begonnenen
und im sommer 1788, vor seiner hochzeit mit Hölderlins base
Ernestine Friederike (1772-1856) abbrechenden 'Tagebuch meines
Lebens' heißt es unter dem 25. april 1780
Vergangenen Samstag
machte die verw. Frau KammerRath Gokin, mit ihren 2 Kindern,
in erster Ehe mit dem verst: HE: Klosterhofmeister Hölderlen
zu Laufen, einem Bruder der Frau OberAmtmännin erzeugt,
hier Besuch. Sie kam von Sachsenheim aus zu Fuß hieher
und wolte gestern wieder dahin zurük; weil es aber regnerisch
Wetter war, und ihre beede Kinder nicht fort wolten, so blieb
sie auf zureden des HE: OberAmtmans noch heute über
Nacht. Diesen Vormittag aber lies sie sich nicht länger
mehr aufhalten, sondern sie bestelte wegen des üblen Wetters
Miethpferde und entlehnte eine Kutsche und fuhr wieder fort.
// Sie ist eine junge schöne Witwe von ungefehr 26-28 Jaren;
voller Anmuth und scheint sehr vernünftig zu seyn. Ihre
Kinder ein Knäblein von 11 und 1. Mägdlein von 8. Jaren
sind sehr wohl gezog.
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das knapp anderthalb meilen entfernte Sachsenheim gibt anscheinend
nur die richtung nach Löchgau an, wo Maria Friederica Majer
ihr drittes kind, die allerdings erst am 18. mai 1780 geborene
Johanna Christiana Dorothea, erwartete; ob die im benachbarten
Cleebronn geborene mutter jene vier wochen im unterland blieb
oder zur taufe noch einmal hinunterreiste, muß offen bleiben;
festzuhalten ist aber, daß durch die taufen der beiden
ersten kinder (vgl 17) zwei weitere besuche in der Lauffener
gegend nachgewiesen sind; mit der zweiten taufe am 10. mai
1779 wäre der von Beißner nur hypostasierte Lauffen-besuch
des jungen Hölderlin wahrscheinlich geworden
22
der ansatz zu 'M[ai]' im datum der ersten scheibe (und auf der
zweiten scheibe rechts oben) könnte auf diesen wahren, dem
inhalt der zitierten verse eher entsprechenden zeitpunkt deuten;
in diesem fall hätte der knabe die tatzeit in die zukunft,
nach ansätzen zu '2' und '3' auf den 21. november verlegt,
woraus die undurchsichtigkeit der scheiben ins kalkül
gezogen der fast zu gewöhnliche schluß zu ziehen
wäre, daß jene heimliche tat am 'heimlichen ort',
und zwar an einem nicht mehr benutzten, geschehen sein müsse;
der umstand, daß Blums im oktober 1779 begonnenes tagebuch
über eine spätere, zum datum der ersten inschrift passenden
reise der mutter und ihrer kinder schweigt, wäre als weiteres
indiz für jenen früheren besuch zu werten
23
Ludwig Christoph Heinrich Höltys lied 'Aufmunterung zur
Freude', aus welchem der gerade erst neunjährige auswendig
zitiert hätte, war unmittelbar nach dessen frühemtod
am 1. september 1776 im musenalmanach von Johann Heinrich
Voß, mit noten von Johann Friedrich Reichardt, erschienen;
wie schnell das lied in Deutschland verbreitet wurde, ob es zwei
jahre später einem württembergischen kind bekannt sein
konnte, ist hier nicht zu klären; anzunehmen ist aber, daß
eine breitere wirkung Höltys erst nach erscheinen der beiden
konkurrierenden ausgaben, 'Sämtliche Gedichte', 1782/83
herausgegeben von A. F. Geissler (anhang 1784) und 'Gedichte',
1783 'besorgt durch seine Freunde Friederich Leopold Grafen zu
Stolberg und Johann Heinrich Voß', begann; Voß war
es auch, der schon beim ersten druck den schluß der ersten
strophe 'An finstrer Schwermuth Altar knien!' zu 'Die Stirn'
in düstre Falten ziehn?' geändert hatte
24
die frühesten manuskripte Hölderlins stammen aus dem
herbst 1785 (vgl FHA 1, p 63 f); sie lassen einen
schlüssigen vergleich mit der dem datum nach sechs jahre
älteren inschrift nicht zu; schon darum nicht, weil zu diesem
zeitpunkt die abhängigkeit von den schreibmustern die ersten,
eben erst wahrnehmbaren duktischen eigenheiten bei weitem überwiegen
dürfte; hinzu tritt die materielle schwierigkeit der gravur
auf vertikaler ebene und dies nicht mit einem sicher in der hand
liegenden gerät, sondern vermutlich doch mit jener obligat
zum sonntagsstaat gehörenden, demgemäß auch im
nachlaß des vaters und in Hölderlins ausstattung beim
antritt der ersten hauslehrerstelle in Franken aufgeführten
diamantnadel; gleichwohl hätte der neunjährige eine
erstaunliche sicherheit der hand bewiesen, denn abgesehen von
der korrektur der schreibrichtung nach der vierten zeile ist
die frühere inschrift kalligraphischer, auch in der raumaufteilung
ausgewogener angelegt als die flüchtigere, eine 'ausgeschriebene
hand' verratende zweite
25
da aber zwei auffällig 'vorschriftsmäßige' figuren
der ersten inschrift auch in der zweiten, geradezu pronociert
gegen deren zügigeren 'Canzlei'-duktus, wiederholt werden,
nämlich das besonders sorgfältig ausgeführte kleine
kurrent-'w', mit welchem nicht nur die orthographisch eigenwillige
Hölty-strophe 'wer wolte sich
', sondern auch die spätere,
vom schreibenden offenbar improvisierte strophe 'wo? wo seyd
ihr
' gegen die regel beginnt, und die 'gebrochene' versalie
'T', die, wiederum irregulär, übergroß zuerst
in 'blüthen Tagen', dann in 'Thränen / voller' erscheint,
dürfte, trotz der duktischen unterschiede, beide male die
gleiche hand am werk gewesen sein; darauf deuten auch die 'ad
infinitum' gereihten gedankenstriche am schluß der inschriften
26
wenn aber der schreiber der zweiten inschrift sich nicht mit
dem melancholisch irrealen rückruf der 'verlorenen zeit'
begnügte, sondern deren rückgewinnung dort real ins
werk setzte, wo dies dem schein nach möglich war
in der wiederholung einiger der früh gelernten formen ,
müßte bei der zuschreibung auch das willkürliche,
das regressiv kalligraphische der handschrift und nicht allein
ihr individuell sich ausbildender automatismus berücksichtigt
werden; dann aber wären die in Hölderlins jünglingsschrift
nicht mehr nachweisbaren formen 'w' und 'T' kein unwidersprechlicher
einwand gegen seine autorschaft; immerhin lassen sich mehr oder
weniger deutliche relikte jener älteren schreibfiguren auch
in den frühesten manuskripten Hölderlins, in den reinschriften
vom spätherbst 1785, nachweisen
27
tragen aber beide inschriften züge des rollenspiels oder
der camouflage, entfiele auch das kriterium der vergleichbarkeit
und mit ihm die möglichkeit einer identifikation durch die
charakteristika des schriftbilds; sie gäben sich vielmehr,
in diesem modus der verstellung, als paradigmen jener späteren
zu erkennen: der turmgedichte mit ihren die geschichtszeit negierenden
zeitangaben, mit ihren keineswegs zum schein fingierten unterschriften
28
diese überlegung führt zurück auf die problematischen,
von Eduard Bürger als 'C. F.', von Chr Th Schwab zuerst
'C. v. F.', dann 'L. v. F.', von Friedrich Beißner wieder
als 'C. F.' gelesenen initialen der ersten inschrift; da aber
die zweite, übereinstimmend als 'F' entzifferte versalie
eindeutig nicht in der kurrent der Hölty-verse, sondern
in lateinischer schönschrift geschrieben wurde (nur das
lateinische 'F' gleicht, bis auf den hier durch einen lichten
punkt vertretenen mittelstrich, der versalie 'T'), kann auch
die vorhergehende initale ein 'C' nicht sein; Bürgers und
Beißners lesart setzt aber stillschweigend voraus, daß
das 'C' in gebrochener deutscher type geschrieben sein müsse;
dem widerspricht der sichtbare ansatz zur 'L'-schleife, die aber,
als signatur der minuskel 'l', die regeln der schreibkunst verletzt
hätte und darum unterbleibt; vorschriftsmäßig
dagegen ist die gleichfalls lateinische versalie 'L' unter der
zweiten inschrift; nachdem aber die lesart 'C' unwahrscheinlich
und das bisher sicher scheinende 'F' auch als 'T' zu lesen ist,
ist die frage nach herkunft und bedeutung der inschriften anders
zu akzentuieren
29
zu fragen ist nicht nur, wer, wenn nicht Hölderlin, die
Hölty-strophe zitiert und jene spätere, mit ihrer reihung
von anaphern eindringliche, durchaus seiner würdige strophe
gedichtet haben könnte, sondern auch, wie jene mehr oder
weniger deutlichen hinweise zu bewerten sind, die auf Hölderlins
kenntnis der in seinem geburtshaus aufgefundenen und, wenn nicht
in diesem selbst, doch zweifellos in dessen nächster nähe
entstandenen inschriften hindeuten
30
gegen Hölderlin, der, wie Friedrich Beißner argumentiert,
'den ersten seiner drei Vornamen unterdrückt' und sich,
wie die amtlichen dokumente der Frankreich-reise belegen, 'nur
Christian Friedrich' genannt haben könnte, spricht außerdem
die nur ende 1785 und erst vom frühjahr 1795 an durchgängige
schreibweise 'seyd' (jedoch ohne die nach schreibmeistervorschrift
gesetzten diphtong-zeichen über dem 'y'), so daß die
laut Beißner 'von Hölderlin mutmaßlich improvisierten
Verse', trotz der stilistischen nähe zu ähnlich 'beschwörenden
Wortwiederholungen' in 'Auf einer Haide geschrieben' v. 6-14,
'Die Meinige' v. 37-43, 'Die Ehrsucht' v. 19,20 und
'Der Kampf der Leidenschaft' v. 6-10, der Maulbronner oder
Tübinger zeit nicht zugerechnet werden dürften; da
auch Beißners 'apologetische' lesung 'zurük' statt
'zurück' wenigstens dem augenschein nach korrigiert werden
muß, Hölderlin aber ein solches 'ck' niemals schrieb,
müßte, um seine autorschaft zu retten, auch diese
irregularität für möglich gehalten werden
31
andererseits wendet sich Beißners einleuchtende bemerkung,
es lasse 'sich schwer denken, daß jemand, der täglich
die erste Inschrift gesehen, plötzlich jene wehmütige
Beschwörung in die andre Scheibe geritzt haben sollte',
gegen den naheliegenden gedanken, daß der unbekannte schreiber
unter den späteren bewohnern des hauses oder deren wohl
kaum noch nachweisbarem umgang zu suchen sei; Carl Friedrich
Lederer, dessen vornamen zwar mit der zweifelhafteren lesart
der initialen 'C. F.', dessen nachname mit der wahrscheinlicheren
lesart 'L' übereinstimmt, war im gesetzten alter von dreiundvierzig
jahren nach Lauffen gekommen und kommt als urheber der inschriften
ebensowenig in frage wie seine ehefrau Sibylla Regina oder eine
ihrer vier in Mundelsheim geborenen töchter; Charlotta Sibylla
starb 1777 im alter von elf, Beata 1783 im alter von fünfzehn
jahren; die vermutlich älteste tochter Christina Elisabetha
heiratete 1776 den Heilbronner bauschreiber Bernhard Friederich
Göz; im haus verblieb nur die ein jahr nach dem tod ihres
vaters ledig verstorbene tochter Friderika
32
so wird diese mühselige untersuchung mangels anderer
fakten erneut auf Hölderlin als gelegentlichen gast
der Lauffener verwandtschaft zurückverwiesen; da sein stammbuch
vom 19. april bis zum 2. august 1785 in Markgröningen
kursiert und die mutter um diese zeit 2 gulden 'zur Reiß
ins Unterland' in ihre liste der 'Ausgaben vor den L. Fritz'
einträgt, könnte er, worüber allerdings das tagebuch
Johann Friedrich Blums schweigt, einige tage dieser ersten Denkendorfer
vakanz bei der schwester des vaters verbracht haben; der wohl
schönste eintrag, urbild der rhapsodischen oden und unverkennbar
auch motivisches vorbild der 1797 entstandenen ode 'An die Parzen',
ist von der hand der zur verwandtschaft der großmutter
Sutor gehörenden Christiane Luise Bardili (1769-1848), damals
schon befreundet mit dem dichterisch begabten Friedrich Ludwig
Wilhelm Theuß (1767-1828), mit dem sie sich 1789 im benachbarten
Eglosheim, der wahlheimat des als waise aufgewachsenen bräutigams,
verheiratete
Freund der Schimmer
des Glücks
Und die gepriesene Hoheit schwinden dahin
Wie uns diß
leben flieht
Aber
Freundschaft
Sie
folgt auch hinunter
Ins
Schattenreich.
33
drei jahre später, am 18. april 1788, starb Friederike
Juliane Volmar; Hölderlin hatte sich am 18. märz,
zu beginn der letzten Maulbronner vakanz, in Schwieberdingen
mit der von Nürtingen kommenden mutter und schwester getroffen,
und blieb, von zwei durch Blums tagebuch bezeugten reisen nach
Löchgau (und wohl auch Lauffen) abgesehen, bis mitte april
bei der leidenden tante in Markgröningen; während jener
vier wochen kam es gleichwohl zur bekanntschaft mit dem schon
im stift studierenden Rudolf Magenau (1767-1846) und vielleicht
auch zu begegnungen mit dem drei jahre älteren Theuß,
zumal dieser, wie aus seinem vom september 1785 bis oktober 1786
geführten tagebuch hervorgeht, auch im haus des Stuttgarter
expeditionsrats Karl Christian Jäger verkehrte, desselben
Jäger vermutlich, der bei der am 10. mai 1774 in Lauffen
vollzogenen inventur und eventualteilung des Hölderlinschen
vermögens zum tutor der kinder bestellt worden war
34
jedenfalls fand Hölderlin die 'ganze Vakanz' über keine
gelegenheit, den 'kaum eine Meile' entfernt in Leonberg wohnenden
freund Imanuel Nast zu besuchen oder ihn zu sich einzuladen;
wenn Hölderlin ihm etwa zwei wochen später schreibt,
er habe ganze vier wochen am 'Todtenbette' seiner tante gesessen,
so dient diese offenkundige übertreibung auch der rechtfertigung
seines verhaltens; der gleiche brief enthält aber auch einen
ersten hinweis auf jene durch nichts als solche andeutungen belegte
bekanntschaft mit dem eben sein jurastudium beendenden Friedrich
Ludwig Wilhelm Theuß
Meine Gedichte sind
wirklich auf der Wanderschaft; wann sie wieder ohne blutige
Köpfe nach Haus kommen und sie ihr HE. Papa Hölderlin
nicht aus väterlicher Vorsicht wieder ein halb Jahr ins
Pult einsperrt, (denn es sind gar zu dumme Jungen) nun ja! wann
diß nicht ist, sollen sie auch nach Leonberg marschiren.
35
hier wäre auch an den karlsschüler Franz Karl Hiemer
(1768-1822) zu denken, der Hölderlin im herbst 1787 ein
gedicht auf den 'hizigen rachsüchtigen abenteurlichen Trenk'
geschickt hatte, doch wird in Hölderlins briefen an Nast
dieser freund stets beim namen genannt; Rudolf Magenau dagegen
wird erst ende juni oder anfang juli 1788 zu einem 'Urteil' über
eine vorstufe zur ode 'Die Unsterblichkeit der Seele', die Ovid-paraphrase
'Hero', ein verlorenes 'Lied des Schweden' und ein viertes, in
dessen brief vom 10. juli nicht näher bezeichnetes
gedicht gebeten; wenig später schickt Magenau seine soeben
gedruckten gedichte, vermutlich wiederum an Hölderlin, und
schreibt am 28. august auf dessen antwort
Daß Sie meine
Bagatellen einem Ihrer kritisch. Freunde geben, freut mich recht
sehr, u. ich bitte Sie recht sehr um seine Reaction
36
möglicherweise war Theuß jener 'kritische Freund';
der problematik dieses satzes korrespondiert die einer zweiten
frage, ob nämlich das von Reinhard Breymayer in Johann Friedrich
Blums genealogischer sammlung aufgefundene und 1979 veröffentlichte
gedicht 'AUF / DIE VERBINDUNG / DES / HERRN DOKTOR / THEUSS /
MIT / JUNGFER / LUISE BARDILI. / Von / EINEM FREUND' wirklich
von Hölderlin verfaßt wurde; schon Chr Th Schwab berichtet
von der existenz eines verschollenen hochzeitcarmens; er verbindet
diese vielleicht von Magenau stammende mitteilung mit der nachricht
von einem 'forcirten Ausflug nach dem 18 Stunden entfernten
Kloster, um seine Geliebte zu sehen', und der trennung von Luise
Nast, die Hölderlin, früher als bisher angenommen,
schon im Frühjahr 1789 vollzogen hatte; zunächst schriftlich,
und wahrscheinlich, ende november des gleichen jahres, durch
eine sicher auf drängen der mutter herbeigeführte aussprache;
auf diese reise deutet der rest eines später zur hälfte
beseitigten briefs an die mutter aus der novembermitte; Hölderlins
abreisetag läßt sich, wenn auch nicht mit letzter
genauigkeit, aus einem anfang dezember an Neuffer geschriebenen
brief bestimmen: Neuffer, der die herbstvakanz um einen 'Kururlaub'
verlängert hatte, wurde nämlich am 24. november
aus Stuttgart zurückerwartet und traf Hölderlin nicht
mehr in Tübingen an
37
gerade am 24. november fand aber die Eglosheimer hochzeit
statt; ohne alles aufsehen, da die braut im fünften monat
schwanger war; anscheinend lebte Luise Christiane Bardili die
monate vor der trauung nicht in Markgröningen, sondern bei
ihrer halbschwester Friederike, verheiratete Jäger; in einem
bisher falsch datierten billet aus der letzten septemberwoche,
in welchem Hölderlin Neuffer auch im namen seiner mutter
bittet, ihn endlich in Nürtingen zu besuchen, wird der freund
um eine mysteriöse gefälligkeit ersucht
Inliegenden Brief
schikst du so bald möglich an die Bardili in Expeditionsrath
Jäger's Haus bei der Spitalkirche.
immerhin denkbar,
daß dieser brief, sei er von Hölderlins schwester
oder ihm selbst, mit der bevorstehenden hochzeit zusammenhing;
jedenfalls wäre das der schwester versprochene, ende oktober
entstandene und im oeuvre singuläre gesellschaftslied 'So
lieb, wie Schwabens Mägdelein
' als seitenstück
zu jenem konventionelleren hochzeitslied 'Nun ist es da, das
Fest der Männertreue
' zu lesen
38
weil er sich am vortag der abreise 'den Fuß wund stoßen'
mußte, nahm auch Hölderlin einen am 1. dezember
registrierten kururlaub, von dem er laut 'Carentengatter' am
29. dezember zurückkehrte; eine mit blei notierte passage
im dem vermutlich noch in Tübingen begonnenen, dann in Nürtingen
fortgesetzten und abgeschlossenen odenentwurf 'Die Weisheit des
Traurers' markiert den werkgenetischen zeitpunkt der reise, die,
nach den undeutlichen angaben Schwabs, zu jenem klärenden
gespräch mit Luise Nast, von Eglosheim nach Maulbronn oder
einen dritten, weniger exponierten ort im unterland geführt
hätte
39
die verschwommene kontur der nachricht scheint mit dem von den
freunden gelüfteten geheimnis zusammenzuhängen, mit
welchem Hölderlin die sache umgeben hatte; in einem vermutlich
am 21. dezember geschriebenen briefe scherzt Rudolf Magenau
Liber Holz! wenn
du nicht bald kommst, so hast du dich einer erbärml. poëtischen
Epistel von mir zu versehen. Was macht dein Fuß, doch //
Der Himmel leite deinen Gang! // Liber Alter, u. bring dich bald
gesund wider hieher, Lebewol, datum zu einer guten Stunde, allzeit
sonder Wank // Dein / Alter, / fideler Rudolph. / M-genau. //
d. = Dez. 1789.
unter diese anspielungsreiche
vers- und buchstabenstecherei setzt Neuffer, nun unmißverständlich,
'Vive la Mariage!' und unterschreibt, statt mit 'Ludwig' oder
'L.', mit 'T. Neuffer', was Adolf Beck als 'Testis' oder 'Testatur'
auflöst, ebensogut aber den namen des besungenen bräutigams
meinen könnte
40
daß buchstabenspiele dieser art nicht ungewöhnlich
waren, bezeugen die mystifizierenden abkürzungen in den
stammbüchern der zeit; so hatte sich Hölderlin am 18. märz
1788 in Johann Friedrich Blums stammbuch mit einer anfang september
1788 in Christian Friedrich Hillers stammbuch wiederholten strophe
eingetragen und dabei durch unterstreichung der buchstsaben
'H' und 'L' das allgemeine des sinnspruchs zur intimen
botschaft umfunktioniert
Wie schnell ists
ausgeronnen
Dis karge Tröpfchen Zeit
Dann mischt in unsre Wonnen
Sich nimmer Harm und Leid.
daran erinnert,
wie es scheint, das wenige tage vor jener ominösen abreise
aus Tübingen vom odenentwurf 'An die Ehre' überlagerte
notat 'Rosen, Rosen
', dessen syntaktisch gefügtes
segment Höltys lied 'Lebenspflichten' entnommen und durch
dieses zu ergänzen ist
Rosen auf den Weg
:: gestreut,
Und des Harms vergeßen!
Eine kleine Spanne Zeit
Ward uns zugemeßen.
in ingeniöser
indirektheit könnte dieses kritisch gemeinte fragment auf
die euphemismen der gesellschaftsdichtung und damit auch auf
jene beiden mehr aus gefälligkeit als aus dichterischer
notwenigkeit entstandenen poeme und ihren anlaß deuten
41
auf eine ganz andere möglichkeit lenkt Magenaus schwungvolle,
offenbar Hölderlin als prediger, mit aufgewickelten locken,
talar und beffchen, darstellende karikatur auf der rückseite
jenes dezemberbriefs von Magenau und Neuffer (FHA 18, p 87);
sollte Hölderlin nicht nur das Carmen 'gedichtet', sondern
auch noch post copulationem, probeweise, 'gepredigt' haben? wahrscheinlich
aber persifliert jene zeichnung nur Hölderlins 'unvernünftigen',
drei wochen später tatsächlich wieder aufgegebenen
wunsch, der theologischen laufbahn ade zu sagen
42
dieses unstete suchen nach einer bestimmung äußert
sich schon in der sonderbaren rücksichtslosigkeit, mit welcher
der neunzehnjährige die Maulbronner beziehungen zu Imanuel
und Luise Nast, auch die zu Christian Ludwig Bilfinger hinter
sich läßt und ebenso in dem eifer, mit welchem er
jene neuen verhältnisse zu Ludwig Neuffer, Rudolf Magenau
und Elise Lebret eingeht; dieses schwanken äußert
sich in jenem zornausbruch am 10. november 1789, als er
'bey einbrechendem Abend' dem ihn nicht grüßenden
'Mägdlein Provisor Majer den Hut von dem Kopf auf den Boden
geschlagen', am eindrücklichsten aber im psychogramm der
einander aufhebenden, von einem extrem des gemüts in das
entgegengesetzt andere fallenden odenentwürfe und notate
des spätherbsts 1789; gegen dieses ostinate motiv artikuliert
sich ein poetisch-biographisches, das motiv der anabasis nämlich,
das ihn schließlich hinab, im doppelten Sinn ins 'Unterland'
führt
Die Leichenreihen
wandelten still hinan,
Und Fakelnschimmer schien' auf des Theuren
Sarg,
Und du, geliebte
gute Mutter!
Schautest
entseelt aus der Jammerhütte,
Als ich ein schwacher stammelnder Knabe noch,
O Vater! lieber Seeliger! dich verlohr,
Da fühlt'
ichs nicht, was du mir warst, doch
Mißte
dich bald der verlaßne Waise
die mit diesen strophen
beginnnende ode 'An Thills Grab', die letzte in jener entwurfsreihe,
ist auch die einzige, die Hölderlin in die oktav-reinschrift
von frühjahr 1790 aufnimmt
43
noch in dem unmittelbar nach jener erschlossenen reise entstandenen
odenentwurf 'Einst und Jezt' wurde die erstmalige rede vom tod
des vaters, der ihn nicht um jeden preis zum kanzeldienst bestimmt
hätte, zur erinnerung an den sieben jahre späteren
des stiefvaters umgeformt; jetzt aber vermittelt das grab des
'hälftig' zwischen Lauffen und Nürtingen, in Großheppach
an der Rems gestorbenen dichters Johann Jakob Thill (1747-1772)
den verbotenen gedanken und überträgt somit, der späteren
poetologie gemäß, die nur indirekt zu äußernden
gegenstände 'in einen fremden analogischen Stoff'; jener
in der quasi objektiven chiffre des heroengrabs verborgene vater
ist aber, mit allen schatten vor ihm, dem namen nach anwesend
Ihr stille Schatten
seines Holunderbaums!
Verbergt mich, daß kein Spötter
die Tränen sieht
Und lacht, wann
ich geschmiegt an seinen
Hügel
die bebenden Wangen trokne.
44
ob nun der vater an der 1807 bis auf einige mauerreste abgebrochenen
klosterkirche oder anderswo bestattet wurde grab und inschriften
gehörten örtlich zusammen; so überlagert sich
in der 1801 entstandenen elegie 'Stutgard / An Siegfried Schmid',
die jene von Gock überlieferte wanderung vom vorjahr als
eine nochmals gemeinsam zu unternehmende rekapituliert, die erinnerung
des grabes mit einer konträren
Was
ist es
Aber? des Vaters Grab seh' ich und weine dir schon?
Wein' und halt' und habe den Freund und höre das Wort, das
Einst mir in himmlischer Kunst Leiden der Liebe geheilt.
Höltys am rand
des grabes gesungene worte und Reichardts 'Ausgelassen frölich'
zu singende melodie
45
nicht anders in dem um 1810 entstandenen gedicht 'Der Kirchhof'
Du stiller Ort,
der grünt mit jungem Grase,
Da liegen Mann und Frau, und Kreuze stehn,
Wohin hinaus geleitet Freunde gehn,
Wo Fenster sind glänzend mit hellem Glase.
Wenn glänzt an dir des Himmels hohe Leuchte
Des Mittags, wann der Frühling dort oft weilt,
Wenn geistige Wolke dort, die graue, feuchte
Wenn sanft der Tag vorbei mit Schönheit eilt!
Wie still ist's nicht an jener grauen Mauer,
Wo drüber her ein Baum mit Früchten hängt;
Mit schwarzen thauigen, und Laub voll Trauer,
Die Früchte aber sind sehr schön gedrängt.
Dort in der Kirch' ist eine dunkle Stille
Und der Altar ist auch in dieser Nacht geringe,
Noch sind darin einige schöne Dinge,
Im Sommer aber singt auf Feldern manche Grille.
die so sorgfältig
bezeichneten fenster, die 'geistige Wolke', die vorübereilende,
die trübsal bedeutet, und nicht zuletzt die hier besonders
sonderbare 'Grille' legen diesen Sinn zumindest nahe
46
ebenso sonderbar evozieren die kurz vor jenem 24. november
1789 aufscheinenden Hölty-assonanzen '
Rosen auf den
Weg' und der Höltys 'Hymnus an die Morgensonne' zitierende
beginn der ode 'An die Ruhe': 'Vom Gruß des Hahns, vom
Sichelgetön' erwekt 'dieses mit der vorbereiteten reise
zur Theuß'schen hochzeit und ins 'Unterland' anscheinend
fest verknüpfte motiv; ähnlich auffallend auch das
erst nach der rückkehr, in der ode 'An Thills Grab', gezeichnete
bild vom nächtlichen trauerzug zur hochgelegenen Regiswindis-kirche,
und, wie von einem außenstehenden gesehen, dasjenige der
mutter in der aufgerissenen tür der 'Jammerhütte'
47
das fragen nach augenzeugen führt von den vätern meiner
urgroßmutter Mathilde Theuß, verheiratet mit Julius
Hermann Sattler (dessen um 1530 geborener urahn Jakob aus Schwaben
nach Neustadt an der Orla gewandert ist) zurück zur Eglosheimer
hochzeit und in das eine halbe stunde von Lauffen entfernte Kirchheim
am Neckar, wo der in Backnang geborene magister Theodor Theuß
(1696-1778) von 1736 bis kurz vor seinem tode pfarrer und somit
wenigstens durch amtliche geschäfte mit den um die gleiche
zeit wirkenden klosterhofmeistern Jakob Friedrich und Heinrich
Friedrich Hölderlin und ihrer zumeist geistlichen verwandschaft
in der nächsten umgebung verbunden war; dessen jüngster
sohn Johann Zacharias, drei jahre älter als Hölderlins
vater, zog später nach Weimar, wo er sich 1758 verheiratete;
sein sohn Carl Gottlob nahm ein jahr nach der Eglosheimer hochzeit
eine württembergische base, Henriette, die zweite tochter
des Freudenstadter stadtschreibers Theodor Theuß, zur frau;
ob dieser gar mit dem älteren, zuerst in Nürtingen,
dann in Nagold als 'Scribent' tätigen bruder seines vaters,
Theodor Theuß, identisch ist, wäre noch zu ermitteln;
der 1798 geborene sohn jenes paares erhält die in dieser
linie nicht gebräuchlichen namen Friedrich Wilhelm Ludwig;
vielleicht diejenigen des bräutigams, auf dessen hochzeit
seinerzeit ihr bund geschlossen wurde, wahrscheinlicher jedoch
im jahr des Rastatter kongresses als bürgerliche
ehrennahmen die namen des autors der verfassungsschrift
von 1796, von der am schluß zu sprechen ist; anzunehmen
bleibt dennoch, daß auch die Kirchheimer verwandtschaft
zur hochzeit von Friedrich Ludwig Wilhelm Theuß und Christiane
Luise Bardili geladen war
48
immerhin war der großvater des bräutigams, der 1701
geborene Johann Conrad Theuß, Königsbronner mannsklosterpfleger
in Reutlingen, der bruder des pfarrers Theodor Theuß in
Kircheim und diese familiäre beziehung mag dessen um 1723
geborenen sohn, den rat, kanzlei- und hofgerichtsadvokaten Friedrich
Ludwig, bewogen haben, 1768, als pensionär, wie es heißt,
nach Lauffen zu ziehen; dort starb am 22. september 1768
seine zweite frau Wilhelmina Charlotta 'als Kindbetterin', acht
wochen später des 'HE: Rath Theussen Töchterlein';
er selbst wird am 29. juli 1769 'todt im bett erfunden,
an einem Stick-Fluß, nach besagt genommener Legal-Inspection',
was nach auskunft des ehemaligen Lauffener stadtarchivars Otfried
Kies auf 'Selbstmordverdacht' deutet
49
sein am 5. januar 1767 geborener sohn Friedrich Ludwig Wilhelm,
dessen 'Capitalien' von einem 'Curator' verwaltet werden, wächst
zunächst (wie dessen in Tübingen aufbewahrtes, vom
11. september 1785 bis zum 13. oktober 1786 geführtes
tagebuch erschütternd berichtet) bei den zerstrittenen,
bis zur grausamkeit bigotten angehörigen der mutter auf,
besucht danach, in glücklicheren verhältnissen, das
gymnasium in Stuttgart und schreibt sich am 23. oktober
1784 als student der rechte in Tübingen ein; als sein vertrautester,
sicherster freund erweist sich schon hier der drei jahre ältere
Christian Friedrich Baz (1764-1808), an dessen seite er für
eine grundlegende umgestaltung 'Wirtembergs' eintritt und dem
er, vor und nach dem bekannten 'Hochverratsprozeß' gegen
ihn, Sinclair und andere 'Verschwörer', die treue hält
und tätig beisteht; es war auch Baz, der ihm schon 1786
die ehe mit Luise angeraten hatte; nach fünfjähriger
tätigkeit als hofgerichtsadvokat in Ludwigsburg wird er
zum stadtschreiber von Waiblingen gewählt; von 1819 bis
1828 ist Theuß oberamtsrichter in Nürtingen; sein
nachlaß, eine umfangreiche, noch nicht ausgewertete sammlung
von akten und öffentlichen dokumenten, liegt in der Stuttgarter
bibliothek
50
anfang februar 1785 verbrennt Theuß sein tagebuch vom vergangenen
jahr und erklärt
Es enthielt häusliche
Scenen Wechselscenen mit Freunden aufgethürmte
Vorsäze die am ersten Tag ihres Seyns schon wieder in ein
nichts zurükfielen Viele CharakterSkizzen
von Männern mit denen ich [in] Verbindung stand, u. bei
deren Bekantmachung sowohl sie als derjenige der sie schilderte
von Seiten der Moralität vieles verlohren haben würden.
und auf dem vorsatzblatt
des überlieferten journals vermerkt er jahrzehnte später
Mein früheres
Tagebuch von 1780 an, habe ich biß auf wenige Blätter,
verbrannt. Diß geschah in Tübingen in einer Anwandlung
von egoistischer Solidität, wo der junge Herr sich seiner
Knabenschwärmereien und Knabenstreiche (davon doch
die noch existirenden Blätter eine unzählige Menge
enthalten) schämte. In reiferen Jahren hätte
ich viel darum gegeben wenn ich den Veränderungsproceß
auch! eingeleitet hätte!!
51
über diese veränderungen, allgemeine und individuelle,
reflektiert er am 7. februar 1786
Wie sehr könnten
doch die Schulanstalten in Würtemberg verbessert werden!
gewis die ganze Lage würde sie alsdann zu den besten erheben
können. Wenn ich so viele fremde Jünglinge mit so vorzüglichen
Kenntnißen in der Philosophie ausgerüstet hieher kommen
sehe, und ich dann mich so tief unter ihnen fühle
Gott! ich möchte Blut weinen über dem Gefühl meiner
Niedrigkeit. Hätte mein Geist gleich anfangs eine rechte
Bildung bekommen, so würde ich izt mit eben soviel Muth
wie jene fortwandlen können auf dem Pfade der Wissenschaften;
blos Philosophie hilft uns Schwierigkeiten die sich uns bei jeder
Gelegenheit, in jedem Fache der Wissenschaften entgegenstellen,
überwinden; ohne sie tappen wir in steter Finsterniß
umher, und wenn wir uns noch ein wenig forthelfen können
ists Werk des Mechanismus. Izt ist es freilich für mich
zu spät, die ganze Wissenschaft von vorne an durchzuarbeiten;
meine Lage und meine Kräfte verbietens! ich werde es also
schwehrlich weit in der Jurisprudenz treiben. Manchem der mich
vom Gymnastischen Schlendrian aus beurtheilt wird dieses unglaublich
scheinen, aber ach! ich fühl es fühl es mit
all' der Schwere die meine Schwäche mir auflegt!
Aber arbeiten will ich mit vereinten Kräften, und sollt
ich es auch in meiner einmahl gewählten wissenschaft nur
biß zur Mittelmäßigkeit treiben es war
doch das Streben aller meiner Kräfte nach Vollkommenheit
das aber unwirksam bleiben muste, weil meine ganze Erziehung,
meine ganze Laufbahn im Felde der Wissenschaften meine Kräfte
mehr schlaff machte, als ihnen einen höhern Grad von Spannung
zu geben.
52
ein jahr vor Hölderlins eintritt in das kloster, am 15. november
1785, auf einem in begleitung seines damaligen freundes Lang
unternommenem ausflug nach Maulbronn, Bruchsal, Speyer und Mannheim,
notiert Theuß in seinem nach der rückkehr mundierten
reisebrouillon
Wir giengen lange
in dem Kreuzgange des Closters ein altes gothisches Gebäude,
auf und nieder. Ein Schauer überlief mich, als mein Fustritt
in dem Gewölbe so dumpf wiederscholl. O es muß doch
ein herrliches Leben im Closter unter Edeldenkenden seyn. So
ganz sein Daseyn in stiller Einsamkeit, entfernt vom Schwarm
der Thoren hinleben zu können! welch ein entzükender
Gedanke!! Wie viel edles war schon auf dieser Welt im
ersten Moment des Ursprungs! und nun wie verunstaltet die edelste
Gegenstände! durch Eigensinn und Schwärmerei!
53
'Wohl mir! daß ich den Schwarm der Thoren nimmer erblike
'
mit diesem seufzer der erleichterung steht Hölderlin im
herbst 1787 auf der Teck; tief unten die 'Mauren des Trugs',
das 'höfische Waagengerassel', die 'Narrenbühnen der
Riesenpalläste'; am ende des hexametrischen gesangs 'Auf
einer Haide geschrieben' beschwört er, wie Theuß in
eben jenen 'Mauren', die 'Edleren', die hier in wahrer
und nicht trügerischer einsamkeit 'Hütten der
Freundschaft' sich bauen sollten; und wie Hölderlin, der
im sommer jenes jahres 'im ganzen Kloster
als gefärlich
melancholisch ausgesagt' wurde, schwankt auch der saturnische
Theuß zwischen luziden und depressiven seelenzuständen
54
am 1. januar 1786 notiert er
Das war einmahl
eine heiter durchwachte Nacht! o es war mir so wohl! so
wohl ich kan es kaum ausdrüken! Nun will ich doch wieder
aufs neue zu leben anfangen; will meinem Vorsaz getreu bleiben
nimmer mich fortreißen zu lassen von dem Strudel lärmender
Gesellschaften
und einen tag später
Wer wollte sich
mit Grillen plagen, so lang uns Lenz und Jugend blühn! Wahr
ists vortreflicher Hölty! sehr wahr! es ist Thorheit; ich
fühl es selbst! und das kontest du sagen in einer Zeit da
dein Leben kaum mehr zur Hälfte diesen Nahmen verdiente!
Das sangst du am Rande des Grabs, so heiter! mit solch einer
unumwölkten Stirne! Wer wollte sich mit Grillen plagen!
o hätte [ich] nicht so viel Stoff, könnt ich ihn bezwingen,
diesen einzigen Feind der auf mein Leben lauert, und jeden Keim
der Freude erstikt! doch es sei gewagt! Wenn üble Laune
mich wieder befällt soll die Erinnerung an dich seligentschlafener
meine Hülfe seyn!
55
am nächsten tag
Nun noch einmal
will ichs versuchen und wan Louise trügt, dann gute Nacht!
hab ich lange dir gefröhnt und wäre bald darob zum
Narren geworden! Thor ich! der ich Blumenketten zu tragen wähnte,
und schwere Ketten mir auf den Naken lud! Da tappt man hin, sucht
Geschöpfe die nirgends als im Kopf eines Romanensudlers
existiren; meint eins gefunden zu haben, und hascht oft kaum
einen schlichten Menschen! Fürwahr ein entzükendes
Elysium! Ich werde sie, vielleicht
nächstens sehen, ich meine Luisen! will sie ganz ohne Leidenschaft
beobachten, und das Resultat meiner Beobachtungen
ein anders mal mehreres.
diese angenommene
kälte straft schon die folgende seite lügen; am 6. januar
1786, seinem geburtstag, wendet sich Theuß an seine in
Lauffen begrabenen eltern
Zwar leidentlich
Wetter, aber da in der Brust siehts bald stürmisch aus,
bald verjagt ein Sonnenstrahl die Finsterniß. Neunzehn
Jahre sind nun vorüber gegaukelt, sind durchträumt!
O daß ich nur ein paar Jahre zurükkaufen könnte!
Aber ach sie sind vorbei! unwiederruflich vorbei! Ist mir doch
kein Tag feierlicher, als derjenige der mir mein eigentliches
Daseyn gab! O Mutter, Mutter wer hätte das gedacht, daß
ich dich so bald verliehren mußte! daß ich nicht
fühlen konnte die Mütterliche Liebe, nicht stammeln
konnte an deinem Busen, den süßesten aller Nahmen.
Mutter!! O es wäre ein herrliches Geschenk gewesen, ums
Leben, aber ohne euch die ihr es mir gabt, ist es ein trauriges
Geschenk! Daß ihr mir so bald entrissen werden mußtet!
Viele Thränen weint ich schon eurer Asche, und noch mehrere
sollen fließen, solange ich noch würdig bin euer Sohn
zu heißen! Es sind Thränen der Wehmut, Thränen
der Dankbarkeit; Ihr saht sie fließen in den zur Trauer
einladenden Stunden der Mitternacht, da ihr mich umschwebtet,
mild wie das Lüftchen des Frühlings, und mir neuen
Muth einhauchtet, wenn ich zu sinken begann unter der Bürde
des Lebens.
56
wie oft er in früheren jahren die gräber der eltern
besuchte, darüber hätte das verbrannte tagebuch auskunft
geben können; um so überraschender das 'Hochzeitbett'
im bericht einer im frühherbst 1785, in gesellschaft seiner
freunde 'B.' und 'J.' unternommenen reise ins unterland; sie
führte von Eglosheim, wo sie um 9 uhr abgingen, nach Lehrensteinsfeld
bei Heilbronn; in Besigheim wurde zu mittag gespeist, in Kircheim,
wo seine verwandten bis 1778 lebten, 'im Vorbeigehn eine Bouteille'
geleert
In L[auffen] kehrte
ich im Adler ein, und sahe meines Vatter Hochzeitbett, das ich
ehrerbietig ansah wie ein Catolik seine Maria. Das war
also das Bett dem ich meine Existenz zu verdanken hatte sagte
ich zu B. und er lachte eins, so wenig mirs lächerlich war.
Der Wirthin mag ich nicht übel behagt, haben
indem sie mich sehr freundlich zum Nachtquartier einlud.
Schon fieng der Abend an zu dämmern als wir L. verliesen,
und mit stärkeren Schritten Heilbron zu eilten, welches
wir gerade mit Einbruch der Nacht erreichten.
57
die teils leidenschaftlich hingerissenen mitschriften, teils
kritischen analysen seiner gemütszustände, die schilderungen
von personen und begebenheiten werden, bis zur verbrennung jenes
ersten tagebuchs, durch zumeist 1784 entstandene gedichte in
lateinischer schönschrift unterbrochen, doch notiert er
am 14. januar 1786
Es ist aus mit mir;
ich kan nimmer Gedichte machen; wie sollte etwan die Poesie sich
nicht mit dem ernsthaft Denken vertragen? fast scheint es mir
also zu seyn. Ich will ihn lieber schwinden lassen den Dunst
nach dem ich bisher strebte; würd' ich doch niemalen es
nur zum allergeringsten Grad von Vollkommenheit bringen. Es waren
herrliche Stunden, in denen ich mir ein Elysium träumen
konnte; o herrlich waren sie! wenn ich mit dem Zauberpinsel
der Phantasie die Welt rosinroth bemahlt glaubte, und mich mit
jedem dieser Erdgeschöpfe ausgesöhnt hatte; oder wenn
ein süßer Mädchen Blik mich entzükte, und
in Träumereien künftiger Glükseeligkeit dahin
ries. O nimmer, nimmer will ich dein vergeßen süße
Schwärmerei
aber drei wochen
danach 'Als wir vor einigen Tagen schon das herrlichste
Frühlingswetter hatten' macht er (wie einige jahre
später Hölderlin in einem gleichnamigen hexametrischen
fragment) 'den ersten Versuch in diesem Jahr', dessen Ergebnis,
eine fünfstrophige, nicht ganz vollendete alkäische
Ode, er so, wie sie ihm 'aus Feder flos', hier einrückt
An den Frühling.
O Steig hernieder Blumen umgürteter!
Du LieblingsSohn der Alleserhalterin.
Entfeßle deine holde Glieder
Von dem umschattenden langen Schlummer
58
ende oktober 1785 hatte Theuß notiert
Weil ich nicht weis
wie lange noch mein Tagbuch währen kan, und ich doch alles
was ich in Poeticis versucht habe, um keine Copien zu verliehren,
beisammen zu haben wünschte, so werde ich die noch hie und
da Zerstreute sammlen, und sie hieher schreiben. Können
denn mit diesen Papieren in den Schlund der Ewigkeit hinabfahren.
im wort 'Ewigkeit'
drei spätere tupfer mit der federfahne; es folgt das Gedicht
'XXIII. Um Mitternacht / d. 20. Dec. 84.', dessen stimmung, wortlaut,
und schreibweise beachtung verdienen
Horch! wie dumpff
die nahe Gloken schallen
Wie so feierlich die Töne hallen
Durch das schweigende Gefild der Nacht,
Alles schlummert, schauerliche Stille,
Throhnt umher nur in der schwarzen Hülle,
Nassen Auges noch der Jüngling wacht.
Ha! wie herrlich in den Knabenjahren,
Mir die süse stille Stunden waren,
Da ein sanfter Schlaf mein Aug umflos;
Ach mich Jüngling flieht er nun der Schlummer,
Dann ein düstrer nahmenloser Kummer,
Wehrmuth in die Freuden Schaale gos.
Kehrt o kehrt zurük ihr Maientage
Da der Knabe harmlos keine Plage
Keinen Schmerz des Erdenloses fand;
Kehrt zurük ihr wonnevolle Träume
Die ich [in] dem ersten Jugendkeime
So bezaubend süs so göttlich
fand.
Und auch du, o Freundin meiner Jugend!
Kom zurük, mit deinem Reiz der Tugend
Deiner Engelschöne ausgeschmükt,
Kommt zurük! haucht Ruh in mein Gemüthe,
Ehe meines Lebens JugendBlüthe
Welkt, vom Todesfinger abgepflükt.
59
beachtenswert auch ein passus in der ende november 1785 eingetragenen,
die wehmütige suche nach der verlorenen jugend abhandelnden
epistel 'An meine Freunde zu S. 84'
Hier denk' ich an
die vor'ge Zeit zurük,
An jene Zeit, da noch im Knabenkleide,
Da in der Freunde reih'n mich grenzenlose Freude
Umgaukelte! mit thränenvollem Blik
Seh' ich das Bild von jenen goldnen Tagen
Vorüberflattern
60
und auch das Hölty-zitat erscheint, im zusammenhang einer
'Hyperion'-szene, noch einmal in den betrachtungen vom 25. februar
1786
Wer wollte bei so
frohen Tagen die Stirn in düstre Falten ziehn? Wahrlich
ich muß lachen wenn ich mich an einzelne Scenen zurükerinnere.
Da that man so ernst, so gesezt, sprach so gelehrt, so philosophisch,
schimpfte über das Verliebtseyn, und verliebte sich in eben
dem Moment da man das Anathema darwieder aussties, macht Ungereimtheiten
und schwazt inconsequenzen. Möchte doch Chodowiekys Zaubergrifel
unsere Studierstuben gezeichnet haben; wenn wir versammelt waren
und ein Zr. [vermutlich jener von Ziegler, gegen den er vier
Monate später den Degen ziehen wird] dem Klub präsidirte!
Der eine war Philosoph, der andere Kritiker,
der 3te Theologe, der 4te Jurist und jeder gab seine Meinung
in seinem Fache dazu, und ich machte mit, oder gähnte!
61
nach allem scheint der urheber der Lauffener fensterinschriften
gefunden; nicht nur die inhaltlichen, stilistischen und wörtlichen
assonanzen in den im herbst 1784 entstandenen und im jahr darauf
in das tagebuch 1785/86 übertragenen gedichten, auch die
besonderheiten bei der schreibung der komposita, die vervielfachten
gedankenstriche am schluß einer niederschrift und schließlich
die duktischen eigenheiten, von denen einige nur noch sporadisch
erscheinen, machen wahrscheinlich, daß Friedrich Ludwig
Wilhelm Theuß die strophe 'wo wo seyd ihr
'
bald nach beginn seines studiums, im spätherbst 1784, spätestens
aber im frühjahr 1785 in jene zweite scheibe eingeritzt
hat
62
die für beide inschriften charakteristische 'w'-minuskel
mit dem gebogenen abstrich ist auch in der flüssigeren schrift
des späteren tagebuchs beibehalten (z b 31r:2); das
doppelte 's' dagegen erscheint nur noch selten und wird entweder
durch das einfache 's' oder 'ß' ersetzt (31r:6); ebenso
entfällt der noch in der zweiten inschrift gebrauchte doppelstrich
über dem 'y', oder er wird durch schleife oder punkt verdrängt
(31r:13, 31v:3; vgl dagegen 'blühn' und 'Blüthen' im
Hölty-zitat der fensterscheibe); fast gänzlich verschwunden
ist auch der in der zweiten inschrift auffallende 'r'-aufschwung
(31v:3); das gebrochene, nach schreibmeistervorschrift ausgeführte
kurrent-'T' beider inschriften war im tagebuch nicht nachzuweisen;
dagegen erscheint das sorgfältige 'G'-initial des nicht
ganz dreizehnjährigen etwas vereinfacht zwar
noch in der handschrift des neunzehnjährigen (31r:11,17,19);
daneben aber auch jene alternative, in Hölderlins manuskripten
überwiegende figur der 'G'-versalie (31r:7); im gegensatz
zu seinen lateinischen gedichtreinschriften ist Theußens
deutsches 'k' entweder tatsächlich ein 'ck' oder mit einem
solchen zu verwechseln (31r:3,23); andererseits verwundern die
initialen der unterschrift; im knabenalter wurde er 'Friz' gerufen;
und am 5. märz, seinem namenstag, notiert er: 'Was
Friderich heißt, das lebe.' er hätte demnach nicht
mit dem eigenen, sondern mit dem namen seines vaters Ludwig Friedrich
Theuß signiert
63
ebenso rätselhaft Hölderlins fragmentarisches notat
auf p 84 des Homburger foliohefts, das nach den hier vorgetragenen
argumenten auf parallele fensterinschriften Hölderlins oder
auf spuren seiner hand auf den Lauffener scheiben schließen
ließe; für letzteres kämen vielleicht die vier
helleren, vermutlich tiefer eingegrabenen stellen in den lateinischen
initialen 'L. T.', die hierdurch den charakter des nun deutsch
geschriebenen Symbolons 'C. F.', vielleicht auch 'L + F' erhalten
hätten, in frage; und wie am oberen rand der zweiten scheibe
der ansatz zu einem abweichenden datum ('9, M'(?)) zu lesen
ist, könnte auch der monat 'Nov.' zu 'Mai' verändert
worden sein
Also
darf nicht
Ein ehrlich Meister
und
wie (Dia)mit Diamanten
In die Fenster machte, des Müßiggangs wegen
Mit meinen Fingern, (denn so) hindert
so
hat mir
Das Kloster etwas genüzet
64
auch wenn der sinn des fragments nicht bar auf der hand liegt,
reflektiert es zweifellos den beweggrund, dem die 'inschriften'
an sich ihre entstehung verdanken; in der 'archipelagischen'
beziehung der im folioheft und einigen anderen papieren notierten
segmente ist das auf p 89 stehende als erweiterung und umformung
des hier zitierten zu lesen; in erster niederschrift
Hier sind wir in
der Einsamkeit
Wenn aber der Tag
Schiksaale machet, denn aus Zorn der Natur-
Göttin, wie ein Ritter, gesagt von Rom, in derlei
Pallästen, gehet izt viel Irrsaal,
Und Julius Geist um derweil, welcher Calender
Gemachet, und dort drüben, in Westphalen,
Mein ehrlich Meister
65
dieser 'ehrlich Meister' ist, in 'Erläuterungen' oder 'Kommentaren',
mit Wilhelm Heinse, dem reisegefährten des sommers 1796,
gleichgesetzt worden; durch das schrift-motiv in dem vorhergehenden
segment entsteht jedoch ein neuer, überraschender bezug;
wie trigonometrische punkte bestimmen die akzidenzien 'ehrlich'
und 'Westphalen' jenen ersten 'Meister', in dessen elementarschule
sich der knabe geübt haben dürfte, nämlich Johann
Gottfried Weber und seine 'Allgemeine Anweisung der neuesten
Schönschreibkunst
Detmold, den 20. Merz 1780',
der eines seiner Muster, das als Tafel 22 in Kupfer gestochene
'Blanquet zur Vollmacht' mit dem fiktiven namen 'Johann Adolph
Ehrlich' unterzeichnet; auf dem Maulbronner odenentwurf 'Ist
also diß die heilige Bahn
' finden sich federproben,
deren kalligraphische ambition auf jene schreibmeisterblätter
verweist; wie weit deren schule über die einübung jener
kunstfertigkeit hinausging, daß die gegebenen muster zugleich
auch den moralischen charakter und den literarischen geschmack
der schriftbeflissenen zu bilden unternahmen, wäre an den
spuren zu zeigen, welche die 'Schönschreibkunst' des 'Hochgräflich
Lippischen Bottenmeisters und Aktuarius' im werk Hölderlins
hinterlassen hat
66
zwischen den im ruin der geschichte schon ausgelöschten
und den noch erhaltenen inschriften besteht nur ein gradueller
unterschied; darum erscheinen jene von eigener oder fremder hand
in glas geritzten als beleg für die 'unnützen' Versuche,
in der welt des verlöschenden ruhms, irdischer vergänglichkeit
zum trotz, zu bleiben, wie die Buchstaben 'Holder', in
der gemeinschaft vergessener alumnen eingegraben in die 'Mauren
des Trugs' (im 'Paradies' des klosters Maulbronn) als
prägnantes paradigma der vergeblichkeit alles mit fingern
gemachten
67
solange dieser zum gebrauche nicht taugende gedanke bestritten
und seinerseits für unnütz erklärt wird, geht
der geist der subjekte 'um derweil', der niederwerfende, sein
terrain vergrößernde eines 'Julius' etwa, 'welcher
Calender gemachet', oder eines schreibmeisters 'dort drüben,
in Westphalen', welcher sich 1780 unterwunden hatte,
gegenwärtige,
zum Nutzen der deutschen Jugend
verfertigte und in Kupferstich
gebrachte Vorschrift der deutschen Schönschreibkunst zu
allerhöchst Dero geheiligten Füßen, nämlich
Catharine der Zweiten
Kaiserin und Selbstherscherin von
ganz Rußland
zu legen; es gehen
um derweil die autoritären und devoten, nebeneinander die
hohen und niederen geister dieser endlichen geschichte; aus der
einsamkeit dieser einsicht tönt denn auch auf der
gleichen Seite der an die rede des täufers und das
'berufungsgesicht' Sacharjas erinnernde ruf
Ach! kennet ihr
den nicht mehr
Den Meister des Forsts und den Jüngling
In der Wüste, der von Honig
Und Heuschreken sich nährt. Still Geist ists traun.
68
was 'bleibet', ist lange gestiftet; deswegen bedarf die rede
vom amt der dichter und von der wohlgefälligkeit des gesangs
(
daß gepfleget werde / Der veste Buchstab und Bestehendes
gut / Gedeutet) der korrektur; 'Merkzeichen viel' geheime
oder unübersehbare (wie spuren des pflugschars oder Vincentsche
krähen) markieren die betroffenen stellen; so lautet
die auf p 74 des foliohefts notierte neufassung des auf
p 28 verworfenen 'Patmos'-schlusses
Unwissend. ::
(wenn aber) Das Tagwerk aber bleibt(,)
(Die Menschen) Der Erde Vergessenheit,
(Ein Wohlgefallen aber) (Der ewige Vater) Wahrheit schenkt aber
dazu
(Der ewige Vater.) Den Athmenden
Der ewige Vater.
69
in dieser weise ist die absolut mißdeutbare schlußsentenz
von 'Andenken' mit der auf p 29, vermutlich schon 1803,
im zusammenhang des 'Titanen'-gesangs entworfenen und 1805/06
überarbeiteten passage zu verbinden
Denn manches von
ihnen ist
In treuen Schriften überblieben und manches
In des Raumes Grenzen in Gestalten der Zeit.
Denn lang schon wirken
Die Wolken hinab
Und es wurzelt vielesbereitend heilige Wildniß
den genetischen
ort des für den druck separierten gesangs 'Andenken' bezeichnet
das segment
und
in den Ocean schiffend
Die duftenden Inseln fragen
Wohin sie sind.
einfügungszeichen
von späterer hand bezeichnen die integrationsstelle; in
der konstellation des integralen, nur dem schein nach aufgelösten
gesangs wird die erste, nachträglich mit dem schluß
der später entworfenen 'Madonnen'-segmente verbundene 'Titanen'-strophe
zur letzten dieses gesangs: '
Ich aber bin allein. // Andenken.
// Der Nordost wehet
'
70
weil der grund des gesangs erinnerung ist, ist aufzudecken, woran
er erinnert; das aufzufindende konkrete das seine dunkelheit
ist aber nichts für sich; sinn der grabungen ist es vielmehr,
die verhältnisse bloßzulegen und mit ihnen den exemplarischen
weg, der jene, die ihn nochmals gehen, aus deren enge und durch
den bürgerlichen tod des irrseins in die freiheit führt,
das mögliche, das unbewiesene zu denken; dem gegenüber
stehen die gesellschaftlich gebundenen, die diesen intellektuellen
und faktischen auszug aus dem von ihnen eselhaft bejahten als
obsolet verwerfen und den geist der 'irr gieng' und 'nicht mehr
dabei' ist, reintegrieren müssen in das von gesang verlassene;
weil dessen dechiffrierung nichts anderes sein kann als die ungegängelt
freie wiederholung des dichterischen vorgangs, durften auch jene
formal und semantisch chiffrierten paradigmen nicht mehr in der
gewohnten und überlebten überzeugungsgestalt erscheinen;
sie stehen darum da als 'antitext', der durch sein bloßes
anderssein dem leitbild 'text' widerstreitet
71
das von Schelling verfaßte, aber in Hegels abschrift überlieferte
'systemprogramm' endet mit dem satz
Ein höherer
Geist vom Himmel gesandt, muß diese neue Religion unter
uns stiften, sie wird das lezte gröste Werk der Menschheit
seyn.
dieser idee widerspricht
die ihrerseits relativierte schlußzeile von 'Andenken';
ihr opponieren die lapidaren, auf p 45 des foliohefts notierten
sätze
Viel täuschet
Anfang
Und Ende. Das lezte aber ist
Das Himmelszeichen. Das reißt
und
Menschen
Hinweg.
an das konstitutive,
in inschriften oder stiftungen manifeste 'Irrsaal' der Freunde,
die 'mit der Loosung Reich Gottes! voneinander schieden',
erinnert aber auch der anfang des hier betrachteten, vielleicht
auf p 30 ergänzten entwurfs
meinest
du
Es solle gehn,
Wie damals? Nemlich sie wollten stiften
Ein Reich der Kunst. Dabei ward aber
Das Vaterländische von ihnen
Versäumet und erbärmlich gieng
Das Griechenland, das schönste, zu Grunde.
Wohl hat es andere
Bewandtniß jetzt.
Es sollten nemlich die Frommen ::
Einen Orden oder
Feierlichkeit geben oder Geseze.
Die Geister des Gemeingeists
Die Geister Jesu
Christi :: Seines jedem und ein Ende des Wanderschaft :: und
alle Tage wäre
Das Fest. [Lücke] Also darf nicht
Ein ehrlich Meister
72
den überlieferten quellen nur indirekt zu entnehmen, reichten
jene aus 'hoher Aussicht' kritisierten verbindungen über
das stift hinaus; Karl Rosenkranz bemerkt zu Hegels 1798 entstandener
schrift 'Daß die Magistrate von den Bürgern gewählt
werden müssen' (zu welcher Hölderlin die von Carl Gock
im märz des jahres vergeblich zurückerbetenen 'Landtagsschriften'
beigesteuert haben wird)
Er wollte sie drucken
lassen und teilte sie drei Freunden in Stuttgart mit. Diese gaben
ihm noch einige Winke für passende Änderungen, verstärkten
noch seine Materialien, rieten aber am Ende (7. 8. 1798), den
Druck zu unterlassen, da die Schrift nicht nur nichts helfen,
vielmehr unter den herrschenden Umständen eher schaden würde.
zu denken wäre
an die verfasser früherer reformschriften, an Christian
Friedrich Baz, Jakob Friedrich Gutscher, aber auch an Friedrich
Ludwig Wilhelm Theuß und dessen 'Gedanken eines Wirtembergers
über den bevorstehenden Landtag und die Wahlfähigkeit
der, zu demselben abzuordnenden Deputirten'; in Hölderlins
nachlaß befand sich lediglich die Jakob Friedrich Gutscher
zugeschriebene, vermutlich aber von Christian Friedrich Baz verfaßte
flugschrift 'Über das Petitionsrecht der Wirtembergischen
Landstände'; ein grundgedanke der 'scheltrede', das alles
überwiegende standesinteresse der Deutschen, mit welchem
auch Hegel seinen fragmentarisch erhaltenen beitrag einleitet,
findet sich zuerst bei Theuß, dort nämlich, wo er
das partikularinteresse in den bis dahin dominierenden 'Kontributionsschriften'
konstatiert
73
Theuß lenkt die diskussion von der verteilung der französischen
kontributionslasten auf den verfall der öffentlichen sache
seit Christophs zeiten
Immer seltener wurden
die Landtage, je mehr sich die Ausschüsse gebildet hatten;
das Interesse des Landesherrn muste gewinnen, je mehr er die
Zusammenberufung der Landstände vermeiden, und nur mit einer
kleinen Zahl von Repräsentanten unterhandeln konnte; und
diese leztern mochten wohl auch ihre Ursachen dazu haben, warum
sie die seltenere Zusammenberufung der Landstände wenigstens
nicht ungern sahen
auf diese spezies
konzentriert sich die polemik Hegels
Die Anmaßungen
der höheren Offizialen waren es vorzüglich, was in
älteren und neueren Zeiten alles Übel über die
Landschaft gebracht hat
Der Ausschuß selbst war
nie anmaßend. Seine Konsulenten und Advokaten waren es.
Er war nur indolent und gab zu allen Eigenmächtigkeiten
jener den Namen her
Sie waren es, die der Hof zu gewinnen
suchte, weil er sicher war, seinen Zweck zu erreichen, wenn er
den Advokaten und den Konsulenten in sein Interesse zu ziehen
gewußt hatte
Die Konsulenten im engeren Sinne hatten
übrigens nichts mit der Kasse zu tun
Von ihnen hatte
also der Eigennutz der Ausschußglieder keine Gefälligkeiten
zu erwarten. Deputationen wurden ohne ihren Rat vergeben; an
keiner Wahl hatten sie einen direkten Anteil. Dies sicherte dem
Advokaten auch beim Mangel von Talenten und Kenntnissen ein merkliches
Übergewicht
74
bei seinem ersten besuch im turm am 15. januar 1841 notiert
Chr Th Schwab
Ich fragte ihn,
ob er schon als Student am Hyperion geschrieben hätte, was
er, nachdem er einigen Unsinn gestammelt, bejahte. Ich fragte
ihn, ob er mit Hegel umgegangen sey, auch dieß bejahte
er und setzte einige unverständliche Worte hinzu, worunter
'das Absolute' vorkam. Ich fragte ihn nach Bilfinger, jetzigem
Legationsrath od. dgl., mit dem er auf der Universität viel
umgegangen seyn, später aber sich überworfen haben
soll, der vielleicht das Original zu Alabanda war, da antwortete
er in scharfem Tone: er ist ein Advocat.
75
'Alabanda' aber ist kein anderer als Sinclair; so kann sich das
zweifach irrige gerücht nur auf die früheste und konstant
bleibende gestalt des romans, auf 'Gorgonda Notara' beziehen,
dessen name zwar Chandlers 'Reisen in Klein Asien' entlehnt,
dessen person aber im kreis um die 'holde Gestalt', die Glycera,
Melite und Diotima der vorstufen (nach Adolf Becks 'Erwägung'
Auguste Breyer, die braut des seit 1791 in Paris tätigen
Georg Kerner), zu suchen ist; dann könnte der 'kritische
Freund' von damals, der im verborgenen wirkende Theuß das
urbild des älteren, in 'Hyperions Jugend' sogar schon verheirateten
Hyperion-freundes gewesen sein
76
es war die Napoleonische restauration, welche die arbeit 'Notaras'
und seiner freunde zunichte machte, ehe sie ans ziel kam; sie
und die folgende des biedermeier verursachten die tiefe dunkelheit,
die jene 'furchtsamgeschäfftigen' verbindungen umgibt; daß
Hölderlin sich früh, vermutlich schon um die jahrhundertwende,
aus ihnen löste, darauf verweisen der streit mit Sinclair
und der diesen reflektierende odenentwurf 'Bundestreue'; noch
im märz 1799 spricht Hölderlin von 'Veränderungen,
die es in unserem Vaterlande' geben könnte und versichert
seiner Mutter weiter unten
Daß Sie unter
gewissen möglichen Vorfällen kein Unrecht leiden, dafür
würd' ich mit allen meinen Kräften sorgen, und vieleicht
nicht ohne Nuzen. Doch ist alles diß noch sehr entfernt.
das zweite blatt
des briefs ist abgerissen; zuerst die mutter, dann der 1831 geadelte
Carl Gock vernichteten den größten teil des briefwechsels
und damit so gut wie alle konkreten, über die sphäre
des konventionell privaten hinausgehenden mitteilungen; auch
könnte der umstand, daß Theuß zuletzt als richter
am oberamt Nürtingen wirkte, das fehlen seines namens im
selektierten rest der korrespondenz erklären
77
am 7. januar 1811 übermittelt der bei Zimmers wohnende
August Mayer seinem bruder Karl 'Verse, die der arme Hölderlin,
der auch einen Almanach herausgeben' will, ihm zum 'Durchlesen
gegeben'; die letzte dieser abschriften geistert dann als 'Hölderlins
letztes Gedicht' durch Deutschland
Das Angenehme dieser
Welt hab ich genossen,
Die Jugendstunden sind, wie lang! wie lang! verflossen,
April und Mai und Julius sind ferne,
Ich bin nichts mehr, ich lebe nicht mehr gerne!
nur die 'Tage der
Liebe' sind, dem wortlaut nach, noch nahe; klage um die verlorene
zeit doch ohne jenen vergeblichen rückruf, den ein
anderer dort unten in das glas verschwundener fenster gegraben
hatte
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