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im unterland

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am 18. februar 1870 schreibt der Lauffener pfarrer Eduard Bürger an Chr Th Schwab, den herausgeber der zweibändigen Hölderlin-ausgabe von 1846

In der Hausflur des Hofcameralamts sind zwei Fensterscheiben, auf deren Einer steht: // Wer wolte sich mit Grillen plagen, / Solange Lenz und Jugend blühn, / Wer wolt in seinen Blüthen Tagen / Die Stirn in düstre Falten ziehn? // C. F. den 21. Nov 1779. // Auf der andern Tafel steht: // Wo, wo seyd Ihr? / Seyd Ihr ganz verschwunden? / Euch, euch sucht mein thränenvoller Blick, / Süße, unaussprechlich süße Stunden, / Kehrt, o kehret doch zu mir zurück. // Die zweite Handschrift gleicht Ihrem Autograph und ist unzweifelhaft von Hölderlin. Die erste Handschrift differirt etwas, doch scheint der zweite Vers auf die seelige Zeit der Kindheit, in welcher die ersten Zeilen geschrieben waren, hinzudeuten umsomehr, als diese sich in dem Fenster schon vorfanden als der zweite Vers geschrieben wurde. Die orthographischen Fehler sind auch Zeugniß für einen 9 jährigen Knaben und die Handschrift ändert sich ja mit den Jahren. C. F. würde Christian Friedrich bedeuten. Der erste Vers ist wohl nicht von H. selbst gedichtet, sondern eben aus dem Gedächtniß hingerizt. Ueber dieses unschuldige Kinderspiel freut sich der Dichter im zweiten Vers und sehnt sich nach der seeligen Zeit.

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in seinem am gleichen tag verfaßten, am 20. februar in der 'Schwäbischen Kronik' (dem lokalteil des 'Schwäbischen Merkur') erschienenen artikel präzisiert Bürger seine angaben zur herkunft der scheiben

Auf der Hausflur von Hölderlins Geburtshaus, in welchem am 20. März d. J. die Säkularfeier stattfinden wird, sind in ein Fenster zwei Scheiben eingefügt…

und weiter unten

Die beiden Fenstertafeln sind, um nach Analogie des Papierformats zu reden, in Oktav, sie sollen ursprünglich in der Kanzlei gestanden haben, und als diese mit Tafeln im Quartformat versehen wurde, in die Hausflur versezt worden sein.

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den geist dieser ersten 'ehernbürgerlichen' feier im namen Hölderlins hat Friedrich Nietzsche im ersten stück seiner 'Unzeitgemäßen Betrachtungen' festgehalten und demaskiert

Hier und da werden nämlich die Philister, vorausgesetzt daß sie unter sich sind, des Weines pflegen und der großen Kriegsthaten gedenken, ehrlich, redselig und naiv; dann kommt mancherlei an's Licht, was sonst ängstlich verborgen wird, und gelegentlich plaudert selbst einer die Grundgeheimnisse der ganzen Brüderschaft aus. Einen solchen Moment hat ganz neuerdings einmal ein namhafter Aesthetiker aus der Hegel'schen Vernünftigkeits=Schule gehabt. Der Anlaß war freilich ungewöhnlich genug: Man feierte im lauten Philisterkreise das Andenken eines wahren und ächten Nicht=Philisters, noch dazu eines solchen, der im allerstrengsten Sinne des Wortes an den Philistern zu Grunde gegangen ist: das Andenken des herrlichen Hölderlin, und der bekannte Aesthetiker hatte deshalb ein Recht, bei dieser Gelegenheit von den tragischen Seelen zu reden, die an der 'Wirklichkeit' zu Grunde gehen, das Wort Wirklichkeit nämlich in jenem erwähnten Sinne als Philister=Vernunft verstanden. Aber die 'Wirklichkeit' ist eine andere geworden: die Frage mag gestellt werden, ob sich Hölderlin wohl in der gegenwärtigen großen Zeit zurecht finden würde. 'Ich weiß nicht, sagt Fr. Vischer, ob seine weiche Seele so viel Rauhes, das an jedem Kriege ist, ob sie soviel des Verdorbenen ausgehalten hätte, das wir nach dem Kriege auf den verschiedensten Gebieten fortschreiten sehen. Vielleicht wäre er wieder in die Trostlosigkeit zurückgesunken. Er war eine der unbewaffneten Seelen, er war der Werther Griechenland's, ein hoffnungslos Verliebter; es war ein Leben voll Weichheit und Sehnsucht, aber auch Kraft und Inhalt war in seinem Willen, und Größe, Fülle und Leben in seinem Stil, der da und dort sogar an Äschylus gemahnt. Nur hatte sein Geist zu wenig vom Harten; es fehlte ihm als Waffe der Humor; er konnte es nicht ertragen, daß man noch kein Barbar ist, wenn man ein Philister ist.' Dieses letzte Bekenntniß, nicht die süßliche Beileidsbezeigung des Tischredners geht uns etwas an. Ja, man giebt zu, Philister zu sein, – aber Barbar! Um keinen Preis. Der arme Hölderlin hat leider nicht so fein unterscheiden können. Wenn man freilich bei dem Worte Barbarei an den Gegensatz der Civilisation und vielleicht gar an Seeräuberei und Menschenfresser denkt, so ist jene Unterscheidung mit Recht gemacht; aber ersichtlich will der Aesthetiker uns sagen: man kann Philister sein und doch Culturmensch – darin liegt der Humor, der dem armen Hölderlin fehlte, an dessen Mangel er zu Grunde gieng.

der schlimmste scherz an alledem, daß von den hier zitierten nicht Nietzsches, sondern Vischers urteil haften blieb und klischee wurde

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nach seinem besuch in Lauffen vermerkte Chr Th Schwab auf Bürgers brief

Die Unterschrift lautet vielmehr C. v. F. u. ist wohl keinesfalls von Hoelderlin, so wenig als der Hoelty sche Vers!

über Bürgers voreiliges 'unzweifelhaft von Hölderlin' setzt er zwei fragezeichen, um dann, am unteren rand, seine erste lesart zu korrigieren

N.B. ohne Zweifel ist weder die eine noch die andere Inschrift von Hölderlin, bei der ersten heißt die Unterschrift L. v. F. / C. Schwab.

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daß er in seiner zweiten glosse tatsächlich 'L. v. F' und nicht 'C. v. F.' schrieb, wird durch die nachfolgende initiale 'C' seines eigenen namens verdeutlicht; wie auch der unbekannte schreiber unterzeichnet Schwab in lateinischer Schrift und demonstriert damit stillschweigend, daß wohl die deutsche Versalie 'C' mit einem lateinischen 'L', nicht aber das lateinische 'L' mit einem lateinischen 'C' verwechselt werden kann; Friedrich Beißner, der die beiden inschriften unter der rubrik 'Zweifelhaftes' ediert, dennoch für Hölderlin als deren urheber plädiert, übergeht die zweite glosse und bemerkt zur ersten

Christoph Schwabs Vermerk auf dem an ihn gerichteten Brief des Lauffener Stadtpfarrers Eduard Bürger vom 18. Februar 1870, worin die beiden Inschriften mitgeteilt werden (Stuttgart fasc. Vd Nr. 2), die Unterschrift unter den Höltyschen Versen laute C. v. F., ist irrig: was er als 'v.' ansieht, ist nichts als der mit dem ungefügen Schreibgerät übermäßig verdeutlichte Punkt hinter dem C.

auf dem vermutlich anfang der vierziger jahre hergestellten photo zeigt sich Schwabs 'v.' oder der 'übermäßig verdeutlichte Punkt' Beißners als ein kurzer, vertikaler, durch den punkt gezogener strich

lauffener fensterinschrift 1

lauffener fensterinschrift 2

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die scheiben selbst verschwanden kurz vor oder nach der einnahme Lauffens im frühjahr 1945; zur zweiten, nicht nur in Tübingen, sondern auch hier 'veranstalteten' säkularfeier hatte die stadt eine 'Hölderlin-Gedächtnisstätte' eingerichtet; das zimmer befand sich in einem an der stelle des 1919 abgerissenen geburtshauses errichteten gebäude, das bis zum kriegsende dem 'RADwJ' (Reichsarbeitsdienst weibliche Jugend) gehörte; wie im stadtarchiv belegt, wurde das benötigte inventar in der hauptsache von dem Heilbronner antiquar Ernst Dauer erworben oder von diesem leihweise zur verfügung gestellt; laut protokoll einer ratssitzung vom 2. februar 1946 war beschlossen worden, 'nunmehr die Beibringung der aus dem Hölderlin-Gedächtniszimmer entwendeten Möbel' zu veranlassen und, wenn die nachforschungen durch den bediensteten Köhler und den betreuer der ehemaligen gedenkstätte, präzeptor Rhein, ergebnislos blieben, 'polizeiliche Massnahmen' zu ergreifen

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daß die direktiven des bürgermeisters nicht ausgeführt wurden, ergibt sich mittelbar aus zwei ergebnislosen anfragen Walther Killys; als leiter des Hölderlin-archivs schreibt er am 27. februar 1948 aus Bebenhausen

In dem früher Herrn Paul Dochtermann, jetzt Tettnang, darauf dem weibl. Arbeitsdienst gehörigen Haus, ehemals ein Teil des Klostergutes, befanden sich noch im Jahre 1943 zwei Fensterscheiben, in die vermutlich von der Hand Hölderlins zwei Gedichte eingeritzt waren. Da das Haus an Hölderlins Geburtsstelle steht, ist die Vermutung nicht von der Hand zu weisen, dass eines der beiden Gedichte von Hölderlin selbst stammt. Das Hölderlin-Archiv hat seinerzeit mit einer Arbeitsdienstführerin namens Zweigle in der Absicht korrespondiert, diese so wertvollen Gegenstände in geeignete Verwahrung zu nehmen. Der Arbeitsdienst hat jedoch dieser Bitte nicht entsprochen, sodass nunmehr zu befürchten ist, dass die Scheiben und mit ihnen die Originalschrift eines Gedichtes verloren gegangen ist. // Darf ich Sie, sehr geehrter Herr Bürgermeister, bitten, sich dieser Frage annehmen zu wollen und nach dem Verbleib der Scheiben zu fahnden. Uns liegt umsomehr daran, als der Text in die grosse, im Auftrag des Württ. Kultministeriums erscheinende HölderlinAusgabe aufgenommen werden muß. // Indem ich Ihnen für Ihre Bemühungen danke bin ich // Ihr sehr ergebener Dr. W. Killy.

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der bürgermeister befragt, wie aktenkundig schon einmal im märz 1946, den präzeptor Rhein und dieser antwortet handschriftlich, eingangsstempel vom 5. märz

Sehr geehrter Herr Bürgermeister! // Die fraglichen Scheiben waren in dem Sekretär aufbewahrt. Es ist gleicherweise möglich, daß die Scheiben in dem Durcheinander weggeworfen u. vernichtet wurden, oder aber (am ehesten) mit dem genannten Möbelstück zufällig oder [von] einem Interessenten absichtlich mitgenommen wurden. Ich kam s. Zeit gleich ein paar Tage nach der Einnahme Lauffens in das GedächtnisZimmer, konnte jedoch von dem vorher Vorhandenen gar nichts mehr entdecken, obwohl ich auf dem unordentlichen Boden herumsuchte.

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daraufhin erhält der präzeptor das schreiben Killys 'mit der Bitte um Wahrnehmung'; der in Lauffen befindliche durchschlag eines schreibens vom 18. märz 'An die Württembergische Landesbibliothek / Schloß Bebenhausen bei Tübingen' wurde dem kürzel nach von Rhein diktiert und vom bürgermeister unterzeichnet; ohne anrede

Auf Grund einer Aussprache mit dem Betreuer des Gedächtnis Zimmers möchte ich auf Ihr Schreiben vom 27. 2. 48 mitteilen, dass über den Verbleib der beiden fraglichen Scheiben bisher nichts mehr festgestellt werden konnte. Der Text der einen Scheibe stammte von Hölty, während der Verfasser des zweiten Textes unbekannt war. Beide Verse zeugten inhaltlich eine Reife und Beschwingtheit des Rythmus, dass sie wohl kaum von dem jungen Hölderlin verfasst sein konnten. Falls je begründete Möglichkeit bestand, dass das Einritzen von Hölderlin besorgt war, wäre es freilich sehr bedauerlich, falls die Scheiben ganz verloren gingen. // Der Betreuer des Zimmers ging bei der ersten möglichen Gelegenheit nach der Einnahme Lauffens in das Gedächtniszimmer, und mußte leider feststellen, dass dort nichts mehr vorhanden war. // Wir werden jedoch weiterhin jeder Möglichkeit nachgehen, dieselben vielleicht doch noch zu entdecken. // Hochachtungsvoll…

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als Killy am 14. juli 1949, nun gleichfalls ohne anrede, aber 'Hochachtungsvoll', an den letzten satz des bescheids vom vorjahr erinnert, erhält die 'Württ. Landesbibliothek / Schloss Bebenhausen / über Tübingen' die kurze, jetzt sogar hochachtungslose antwort

Leider ist es uns bisher nicht gelungen, auch nur irgendwelche Anhaltspunkte über den Verbleib der beiden fraglichen Scheiben zu erlangen.

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die offenbar unterlassenen nachforschungen, das nichtergreifen 'polizeilicher Massnahmen' und schließlich auch die abweisende haltung gegenüber einer institution des landes hatten gründe; auf dem 'Großen Feld' nördlich von Lauffen war während der ersten kriegsjahre die Stuttgart vortäuschende scheinanlage 'Brasilien' errichtet worden; sie sollte die nachtangriffe der RAF auf sich ziehen, mit dem effekt, daß die militärisch bedeutungslose stadt mit ihren rund fünfeinhalbtausend einwohnern ziel von 37 luftangriffen wurde; das massivste bombardement vom 13. april 1944, einige monate nach dem abbau der längst erkannten attrappe, forderte 56 tote; am ende des kriegs waren 40% aller gebäude zerstört und 99 zivilpersonen umgekommen; verständlich darum die jahrelange animosität gegenüber allem, was aus der kapitale Stuttgart und ihrer zentralistischen verwaltung kam; verständlich auch, daß man von nachforschungen unter den geschädigten und der wiederherstellung jener dubiosen gedenkstätte absah

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nach diesen vorgängen erlangen zwei gedruckte berichte ex visis den rang einer primärquelle; in der 'Kölnischen Zeitung' (1937) schildert Gustav René Hocke eine 'Fahrt zu Hölderlin'; der kunsthistoriker befragte den besitzer des an der stelle des alten hofmeistergebäudes errichteten hauses und erfuhr

Kein Mensch könne mit Sicherheit sagen, wo das Geburtshaus wirklich gestanden habe. Man habe behauptet, das Haus, das früher an Stelle seines neuen gestanden habe, sei das Geburtshaus gewesen. Nichts aber verbürge die Wahrheit dieser Aussage. Der Bund für Heimatschutz habe deswegen auch von der Erhaltung dieses alten Hauses, das nun völlig verschwunden ist, abgesehen. Sein Haus habe, trotz aller noch verbreiteten Ansicht, nichts mit dem Geburtshaus zu tun. Vergebens suche man wesentliche Zeichen der Erinnerung. Trotzdem kämen oft Fremde, suchten, fragten und gingen wieder. Die Kette der Besucher risse nicht ab. Es handle sich aber um eine unausrottbare Täuschung. // Als ich fragte, ob im alten Haus nichts mehr auf Hölderlin gewiesen habe, nahm er von einem Tisch mit vorsichtigen Händen zwei Bruchstücke von Fensterscheiben und hielt sie gegen das Licht. Eine kindliche Handschrift wurde sichtbar, fast unleserliche Verse, kindliches Stammeln von Frühjahrssonne, Vogelsang und Blütenduft. Unsichtbar im Schatten, wahrnehmbar nur im vollen Licht, von ätherischer Feinheit letzte, sagenhafte Zeichen, die noch von frühester Kindheit zeugen sollen. Nachdem er mich hinausgeleitet hatte, zeigte mir dieser Mann, der sich zur Pietät des Bewahrens bekannte, im Hintergrund des kleinen Parks eine Gedenktafel in einer grossen, denkmalartig gebauten Steinnische.

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ein photo des abgerissenenen hauses wurde in Friedrich freiherr von Gaisberg-Schöckingens aufsatz 'Lauffen am Neckar und das Geburtshaus des Dichters Hölderlin' ('Schwäbisches Heimatbuch' 1919, hg. vom Bund für Heimatschutz in Württemberg und Hohenzollern) veröffentlicht; hier fehlen schon die auf der um 1800 entstandenen zeichnung Julius Nebels sichtbaren wirtschaftsgebäude, die erst 1870, durch den ersten käufer des areals, generalmajor v. Seeger, abgebrochen wurden; am schluß der studie, die nebenbei auch erste und zuverlässige angaben zur familie Hölderlins enthält, wird vom hin und her um die erhaltung des schließlich doch beseitigten gebäudes berichtet

Das vor kurzem in andere Hände übergegangene Haus ist noch in gutem Zustande, mit gutem Willen könnte es zu einem recht behaglichen, altertümlichen Landhaus umgeschaffen werden. Der Bund für Heimatschutz in Württemberg und Hohenzollern hat sich die größte Mühe gegeben, den neuen Besitzer vom Einreißen abzubringen, wobei wir vom Schillerverein tatkräftig unterstützt wurden. Zuerst hatten die Unterhandlungen den gewünschten Erfolg, dann scheiterten sie. Nachher ist dem Landesausschuß für Naturund Heimatschutz erfreulicherweise die Erhaltung gelungen. // In unserm Heimatbuche soll das Hölderlinhaus in seinem jetzigen Zustande nach einer Photograpie unseres geschäftsführenden Mitgliedes, des Herrn Verlagsbuchhändler Meyer-Ilschen, vom letzten Sommer festgehalten werden.

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daß jene fensterfragmente nicht, wie bei gewöhnlichen zimmerfenstern zu erwarten, aus durchsichtigem glas, sondern eingefärbt waren, ergibt sich auch aus Friedrich Beißners beschreibung

Die beiden Inschriften stehen jede auf einer kreisrunden, bleigefaßten Scheibe, die, grünlich gefärbt, die Mitte eines größeren, dunkelgrauen Rechtecks einnimmt; das graue Glas wird durch Bleifassungen, die den Rechteckseiten parallel gehen, in vier gleiche Teile zerlegt.

anscheinend waren die kreisrunden, 'grünlich' eingefärbten scheibensegmente durchscheinender oder 'heller' als die 'dunkelgrauen' rechtecke, die sie umgaben

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nach diesem befund ist zu fragen, ob sich die unterschiedlich getönten scheiben tatsächlich von anfang an in der 'Kanzlei' befanden, wie aus der von Bürger weitergegebenen nachricht zu schließen wäre, oder ob sie nicht, worauf eine nach der inschrift vorgenommene reparatur der zweiten scheibe hindeutet, schon aus einem früher abgerissenen gebäude dorthin gelangten; zweifelnd zu fragen ist auch, wie jene kindliche und nochmals jene adoleszente inschrift gerade am offiziellen ort des hauses eingeritzt werden konnten; nach Ernst Müllers aus der inventarliste von 1773 abgeleiteter beschreibung bewohnte die familie des klosterhofmeisters Heinrich Friedrich Hölderlin eine große wohnstube im unteren stock, eine obere stube im zweiten stock, als schlafzimmer der eltern eine stubenkammer im unteren stock; als gastzimmer diente die obere stubenkammer, die kinder schliefen in der unteren, die magd in der oberen öhrnoder flurkammer. die amtszimmer, eine registratur und die genannte kanzlei befanden sich vermutlich parterre, neben der erhöhten, über eine steintreppe erreichbaren und mit dem wappen des erbauers herzog Eberhard III (1665) geschmückten eingangstür und dem dahinterliegenden flur und treppenhaus; da der größte teil des alten, 1003 als schenkung kaiser Heinrichs II und seiner gemahlin Kunigunde errichteten klosters erst 1807/1808 abgerissen wurde, ist es nicht unwahrscheinlich, daß die altertümlichen fenstertafeln aus einem dieser schon längere zeit ungenutzten, somit auch leichter zugänglichen gebäude stammen und, schon damals der inschriften wegen, aus dem ruin gerettet und in ein fenster der 'Kanzlei' eingefügt wurden; Carl Christoph Renz, der unbestrittene primus der promotion Hölderlins, war übrigens von 1803 bis 1819 pfarrer in Lauffen

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um diese zeit war der stabskeller Carl Friederich Lederer (1729-1804), der nachfolger Heinrich Friedrich Hölderlins, nicht mehr am leben; er hatte den klosterhof bald nach dessen tod am 5. juli 1772 übernommen und mehr als vierzig jahre lang verwaltet; wer immer sich ohne erlaubnis des hausherrn auf jenen scheiben 'verewigt' hat – er hätte, sofern sich diese von anfang im wohnund amtsgebäude lederers befanden, zum ersten mal als knabe und nochmals als jüngling, gegen die ungeschriebenen regeln der 'hospitalität' verstoßen.

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wie Anna Maria Barbara Essich (1683-1735), die mutter von Hölderlins in Großbottwar geborenem großvater Jakob Friedrich Hölderlin (1703-1762), war auch Lederers frau Sibylla Regina (1735-1796) eine geborene Essich und damit gar nicht so weitläufig mit der Hölderlinschen familie verwandt; bei den drei kindtaufen in der familie der schwester von Hölderlins mutter in Löchgau erscheint, neben Hölderlins Stiefvater Johann Christoph Gock (3. mai 1776) und seiner mutter (10. mai 1779 und 18. mai 1780) auch Friedrich Jakob Essich, pfarrer in Heumaden bei Esslingen, und seine ehefrau Louisa Friederica; dies beweist, daß die beziehungen zu diesem älteren familienzweig enger waren, als nach der graduellen entfernung angenommen werden konnte; demnach dürfte sich Carl Gocks erwähnung einer wahrscheinlich im spätsommer oder herbst 1800 unternommenen reise zu verwandten in Löchgau, Adelshofen und Lauffen auch auf die familie Lederer-Essich in Lauffen beziehen; die bisher nicht ausgewertete stelle lautet

Er benüz. diese Zeit auch zu klei. Ausflüg. in die Geg., und zu einem Besuche bei sein. ihm sehr wolges. Verwandt. in Löchgau Adelshofen und Laufen, wo er zugleich auch der [vermutlich zu ergänzen: 'Grabstätte seines Vaters einen Besuch abstattete'].

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bis zur heirat mit Johann Christoph Gock und ihrem umzug nach Nürtingen zwei jahre nach dem tod ihres gatten bewohnte Hölderlins mutter Johanna Christiana, geb. Heyn, zusammen mit dessen gleichfalls verwitweter älteren schwester Maria Elisabeth von Lohenschiold (1732-1777) ein von Hölderlins großvater Jakob Friedrich hinterlassenes haus 'in der nähe ihrer früh. Wohnung' (so Carl Gock wiederum in seinem im april 1841 entworfenen 'Lebensabriß'), von welchem ein drittes erbteil der jüngeren schwester der mutter, Juliane Friederike (1741-1788), gemahlin des amtmanns Ernst Ludwig Volmar (1727-1784) in Markgröningen, zustand; dieses haus wurde nach dem tod der kinderlosen Maria Eliabeth veräußert, so daß es bei den späteren, in der hauptsache dem grab Heinrich Friedrich Hölderlins geltenden besuchen wohl kaum noch zur verfügung stand; umso wahrscheinlicher, daß die mutter bei solchen gelegenheiten auch den bewohnern des hofmeisterhauses, den verwandten und nachbarn der zwei letzten Lauffener jahre, ihre aufwartung machte

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übernachtet wurde aber in der regel im nur zwei stunden entfernten Löchgau, bei dem in Hölderlins briefen häufig erwähnten 'Oncle', dem pfarrer Johann Friedrich Ludwig Majer (1742-1817) und seiner frau Maria Friederica, geborene Heyn (1752-1816); wie im dezember 1795 auf dem weg nach Frankfurt dürfte er im mai des gleichen jahres, von Jena über Heidelberg kommend, und nochmals anfang Juni 1800, bei der zweiten 'Rükkehr in die Heimath', station gemacht haben

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der früheste bisher bekannte besuch ist nur mittelbar durch Johann Friedrich Blum (1759-1843), seit 1777 schreiber bei Hölderlins Markgröninger onkel, bezeugt; in seinem im herbst 1779 begonnenen und im sommer 1788, vor seiner hochzeit mit Hölderlins base Ernestine Friederike (1772-1856) abbrechenden 'Tagebuch meines Lebens' heißt es unter dem 25. april 1780

Vergangenen Samstag machte die verw. Frau KammerRath Gokin, mit ihren 2 Kindern, in erster Ehe mit dem verst: HE: Klosterhofmeister Hölderlen zu Laufen, einem Bruder der Frau OberAmtmännin erzeugt, hier Besuch. Sie kam von Sachsenheim aus zu Fuß hieher und wolte gestern wieder dahin zurük; weil es aber regnerisch Wetter war, und ihre beede Kinder nicht fort wolten, so blieb sie auf zureden des HE: OberAmtmans noch heute über Nacht. Diesen Vormittag aber lies sie sich nicht länger mehr aufhalten, sondern sie bestelte wegen des üblen Wetters Miethpferde und entlehnte eine Kutsche und fuhr wieder fort. // Sie ist eine junge schöne Witwe von ungefehr 26-28 Jaren; voller Anmuth und scheint sehr vernünftig zu seyn. Ihre Kinder ein Knäblein von 11 und 1. Mägdlein von 8. Jaren sind sehr wohl gezog.

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das knapp anderthalb meilen entfernte Sachsenheim gibt anscheinend nur die richtung nach Löchgau an, wo Maria Friederica Majer ihr drittes kind, die allerdings erst am 18. mai 1780 geborene Johanna Christiana Dorothea, erwartete; ob die im benachbarten Cleebronn geborene mutter jene vier wochen im unterland blieb oder zur taufe noch einmal hinunterreiste, muß offen bleiben; festzuhalten ist aber, daß durch die taufen der beiden ersten kinder (vgl 17) zwei weitere besuche in der Lauffener gegend nachgewiesen sind; mit der zweiten taufe am 10. mai 1779 wäre der von Beißner nur hypostasierte Lauffen-besuch des jungen Hölderlin wahrscheinlich geworden

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der ansatz zu 'M[ai]' im datum der ersten scheibe (und auf der zweiten scheibe rechts oben) könnte auf diesen wahren, dem inhalt der zitierten verse eher entsprechenden zeitpunkt deuten; in diesem fall hätte der knabe die tatzeit in die zukunft, nach ansätzen zu '2' und '3' auf den 21. november verlegt, woraus – die undurchsichtigkeit der scheiben ins kalkül gezogen – der fast zu gewöhnliche schluß zu ziehen wäre, daß jene heimliche tat am 'heimlichen ort', und zwar an einem nicht mehr benutzten, geschehen sein müsse; der umstand, daß Blums im oktober 1779 begonnenes tagebuch über eine spätere, zum datum der ersten inschrift passenden reise der mutter und ihrer kinder schweigt, wäre als weiteres indiz für jenen früheren besuch zu werten

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Ludwig Christoph Heinrich Höltys lied 'Aufmunterung zur Freude', aus welchem der gerade erst neunjährige auswendig zitiert hätte, war unmittelbar nach dessen frühemtod am 1. september 1776 im musenalmanach von Johann Heinrich Voß, mit noten von Johann Friedrich Reichardt, erschienen; wie schnell das lied in Deutschland verbreitet wurde, ob es zwei jahre später einem württembergischen kind bekannt sein konnte, ist hier nicht zu klären; anzunehmen ist aber, daß eine breitere wirkung Höltys erst nach erscheinen der beiden konkurrierenden ausgaben, 'Sämtliche Gedichte', 1782/83 herausgegeben von A. F. Geissler (anhang 1784) und 'Gedichte', 1783 'besorgt durch seine Freunde Friederich Leopold Grafen zu Stolberg und Johann Heinrich Voß', begann; Voß war es auch, der schon beim ersten druck den schluß der ersten strophe 'An finstrer Schwermuth Altar knien!' zu 'Die Stirn' in düstre Falten ziehn?' geändert hatte

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die frühesten manuskripte Hölderlins stammen aus dem herbst 1785 (vgl FHA 1, p 63 f); sie lassen einen schlüssigen vergleich mit der dem datum nach sechs jahre älteren inschrift nicht zu; schon darum nicht, weil zu diesem zeitpunkt die abhängigkeit von den schreibmustern die ersten, eben erst wahrnehmbaren duktischen eigenheiten bei weitem überwiegen dürfte; hinzu tritt die materielle schwierigkeit der gravur auf vertikaler ebene und dies nicht mit einem sicher in der hand liegenden gerät, sondern vermutlich doch mit jener obligat zum sonntagsstaat gehörenden, demgemäß auch im nachlaß des vaters und in Hölderlins ausstattung beim antritt der ersten hauslehrerstelle in Franken aufgeführten diamantnadel; gleichwohl hätte der neunjährige eine erstaunliche sicherheit der hand bewiesen, denn abgesehen von der korrektur der schreibrichtung nach der vierten zeile ist die frühere inschrift kalligraphischer, auch in der raumaufteilung ausgewogener angelegt als die flüchtigere, eine 'ausgeschriebene hand' verratende zweite

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da aber zwei auffällig 'vorschriftsmäßige' figuren der ersten inschrift auch in der zweiten, geradezu pronociert gegen deren zügigeren 'Canzlei'-duktus, wiederholt werden, nämlich das besonders sorgfältig ausgeführte kleine kurrent-'w', mit welchem nicht nur die orthographisch eigenwillige Hölty-strophe 'wer wolte sich…', sondern auch die spätere, vom schreibenden offenbar improvisierte strophe 'wo? wo seyd ihr…' gegen die regel beginnt, und die 'gebrochene' versalie 'T', die, wiederum irregulär, übergroß zuerst in 'blüthen Tagen', dann in 'Thränen / voller' erscheint, dürfte, trotz der duktischen unterschiede, beide male die gleiche hand am werk gewesen sein; darauf deuten auch die 'ad infinitum' gereihten gedankenstriche am schluß der inschriften

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wenn aber der schreiber der zweiten inschrift sich nicht mit dem melancholisch irrealen rückruf der 'verlorenen zeit' begnügte, sondern deren rückgewinnung dort real ins werk setzte, wo dies dem schein nach möglich war – in der wiederholung einiger der früh gelernten formen –, müßte bei der zuschreibung auch das willkürliche, das regressiv kalligraphische der handschrift und nicht allein ihr individuell sich ausbildender automatismus berücksichtigt werden; dann aber wären die in Hölderlins jünglingsschrift nicht mehr nachweisbaren formen 'w' und 'T' kein unwidersprechlicher einwand gegen seine autorschaft; immerhin lassen sich mehr oder weniger deutliche relikte jener älteren schreibfiguren auch in den frühesten manuskripten Hölderlins, in den reinschriften vom spätherbst 1785, nachweisen

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tragen aber beide inschriften züge des rollenspiels oder der camouflage, entfiele auch das kriterium der vergleichbarkeit und mit ihm die möglichkeit einer identifikation durch die charakteristika des schriftbilds; sie gäben sich vielmehr, in diesem modus der verstellung, als paradigmen jener späteren zu erkennen: der turmgedichte mit ihren die geschichtszeit negierenden zeitangaben, mit ihren keineswegs zum schein fingierten unterschriften

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diese überlegung führt zurück auf die problematischen, von Eduard Bürger als 'C. F.', von Chr Th Schwab zuerst 'C. v. F.', dann 'L. v. F.', von Friedrich Beißner wieder als 'C. F.' gelesenen initialen der ersten inschrift; da aber die zweite, übereinstimmend als 'F' entzifferte versalie eindeutig nicht in der kurrent der Hölty-verse, sondern in lateinischer schönschrift geschrieben wurde (nur das lateinische 'F' gleicht, bis auf den hier durch einen lichten punkt vertretenen mittelstrich, der versalie 'T'), kann auch die vorhergehende initale ein 'C' nicht sein; Bürgers und Beißners lesart setzt aber stillschweigend voraus, daß das 'C' in gebrochener deutscher type geschrieben sein müsse; dem widerspricht der sichtbare ansatz zur 'L'-schleife, die aber, als signatur der minuskel 'l', die regeln der schreibkunst verletzt hätte und darum unterbleibt; vorschriftsmäßig dagegen ist die gleichfalls lateinische versalie 'L' unter der zweiten inschrift; nachdem aber die lesart 'C' unwahrscheinlich und das bisher sicher scheinende 'F' auch als 'T' zu lesen ist, ist die frage nach herkunft und bedeutung der inschriften anders zu akzentuieren

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zu fragen ist nicht nur, wer, wenn nicht Hölderlin, die Hölty-strophe zitiert und jene spätere, mit ihrer reihung von anaphern eindringliche, durchaus seiner würdige strophe gedichtet haben könnte, sondern auch, wie jene mehr oder weniger deutlichen hinweise zu bewerten sind, die auf Hölderlins kenntnis der in seinem geburtshaus aufgefundenen und, wenn nicht in diesem selbst, doch zweifellos in dessen nächster nähe entstandenen inschriften hindeuten

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gegen Hölderlin, der, wie Friedrich Beißner argumentiert, 'den ersten seiner drei Vornamen unterdrückt' und sich, wie die amtlichen dokumente der Frankreich-reise belegen, 'nur Christian Friedrich' genannt haben könnte, spricht außerdem die nur ende 1785 und erst vom frühjahr 1795 an durchgängige schreibweise 'seyd' (jedoch ohne die nach schreibmeistervorschrift gesetzten diphtong-zeichen über dem 'y'), so daß die laut Beißner 'von Hölderlin mutmaßlich improvisierten Verse', trotz der stilistischen nähe zu ähnlich 'beschwörenden Wortwiederholungen' in 'Auf einer Haide geschrieben' v. 6-14, 'Die Meinige' v. 37-43, 'Die Ehrsucht' v. 19,20 und 'Der Kampf der Leidenschaft' v. 6-10, der Maulbronner oder Tübinger zeit nicht zugerechnet werden dürften; da auch Beißners 'apologetische' lesung 'zurük' statt 'zurück' wenigstens dem augenschein nach korrigiert werden muß, Hölderlin aber ein solches 'ck' niemals schrieb, müßte, um seine autorschaft zu retten, auch diese irregularität für möglich gehalten werden

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andererseits wendet sich Beißners einleuchtende bemerkung, es lasse 'sich schwer denken, daß jemand, der täglich die erste Inschrift gesehen, plötzlich jene wehmütige Beschwörung in die andre Scheibe geritzt haben sollte', gegen den naheliegenden gedanken, daß der unbekannte schreiber unter den späteren bewohnern des hauses oder deren wohl kaum noch nachweisbarem umgang zu suchen sei; Carl Friedrich Lederer, dessen vornamen zwar mit der zweifelhafteren lesart der initialen 'C. F.', dessen nachname mit der wahrscheinlicheren lesart 'L' übereinstimmt, war im gesetzten alter von dreiundvierzig jahren nach Lauffen gekommen und kommt als urheber der inschriften ebensowenig in frage wie seine ehefrau Sibylla Regina oder eine ihrer vier in Mundelsheim geborenen töchter; Charlotta Sibylla starb 1777 im alter von elf, Beata 1783 im alter von fünfzehn jahren; die vermutlich älteste tochter Christina Elisabetha heiratete 1776 den Heilbronner bauschreiber Bernhard Friederich Göz; im haus verblieb nur die ein jahr nach dem tod ihres vaters ledig verstorbene tochter Friderika

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so wird diese mühselige untersuchung – mangels anderer fakten – erneut auf Hölderlin als gelegentlichen gast der Lauffener verwandtschaft zurückverwiesen; da sein stammbuch vom 19. april bis zum 2. august 1785 in Markgröningen kursiert und die mutter um diese zeit 2 gulden 'zur Reiß ins Unterland' in ihre liste der 'Ausgaben vor den L. Fritz' einträgt, könnte er, worüber allerdings das tagebuch Johann Friedrich Blums schweigt, einige tage dieser ersten Denkendorfer vakanz bei der schwester des vaters verbracht haben; der wohl schönste eintrag, urbild der rhapsodischen oden und unverkennbar auch motivisches vorbild der 1797 entstandenen ode 'An die Parzen', ist von der hand der zur verwandtschaft der großmutter Sutor gehörenden Christiane Luise Bardili (1769-1848), damals schon befreundet mit dem dichterisch begabten Friedrich Ludwig Wilhelm Theuß (1767-1828), mit dem sie sich 1789 im benachbarten Eglosheim, der wahlheimat des als waise aufgewachsenen bräutigams, verheiratete

Freund der Schimmer des Glücks
    Und die gepriesene Hoheit schwinden dahin
        Wie uns diß leben flieht
            Aber Freundschaft –
                Sie folgt auch hinunter
                    Ins Schattenreich.

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drei jahre später, am 18. april 1788, starb Friederike Juliane Volmar; Hölderlin hatte sich am 18. märz, zu beginn der letzten Maulbronner vakanz, in Schwieberdingen mit der von Nürtingen kommenden mutter und schwester getroffen, und blieb, von zwei durch Blums tagebuch bezeugten reisen nach Löchgau (und wohl auch Lauffen) abgesehen, bis mitte april bei der leidenden tante in Markgröningen; während jener vier wochen kam es gleichwohl zur bekanntschaft mit dem schon im stift studierenden Rudolf Magenau (1767-1846) und vielleicht auch zu begegnungen mit dem drei jahre älteren Theuß, zumal dieser, wie aus seinem vom september 1785 bis oktober 1786 geführten tagebuch hervorgeht, auch im haus des Stuttgarter expeditionsrats Karl Christian Jäger verkehrte, desselben Jäger vermutlich, der bei der am 10. mai 1774 in Lauffen vollzogenen inventur und eventualteilung des Hölderlinschen vermögens zum tutor der kinder bestellt worden war

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jedenfalls fand Hölderlin die 'ganze Vakanz' über keine gelegenheit, den 'kaum eine Meile' entfernt in Leonberg wohnenden freund Imanuel Nast zu besuchen oder ihn zu sich einzuladen; wenn Hölderlin ihm etwa zwei wochen später schreibt, er habe ganze vier wochen am 'Todtenbette' seiner tante gesessen, so dient diese offenkundige übertreibung auch der rechtfertigung seines verhaltens; der gleiche brief enthält aber auch einen ersten hinweis auf jene durch nichts als solche andeutungen belegte bekanntschaft mit dem eben sein jurastudium beendenden Friedrich Ludwig Wilhelm Theuß

Meine Gedichte sind wirklich auf der Wanderschaft; – wann sie wieder ohne blutige Köpfe nach Haus kommen – und sie ihr HE. Papa Hölderlin nicht aus väterlicher Vorsicht wieder ein halb Jahr ins Pult einsperrt, (denn es sind gar zu dumme Jungen) nun ja! wann diß nicht ist, sollen sie auch nach Leonberg marschiren.

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hier wäre auch an den karlsschüler Franz Karl Hiemer (1768-1822) zu denken, der Hölderlin im herbst 1787 ein gedicht auf den 'hizigen rachsüchtigen abenteurlichen Trenk' geschickt hatte, doch wird in Hölderlins briefen an Nast dieser freund stets beim namen genannt; Rudolf Magenau dagegen wird erst ende juni oder anfang juli 1788 zu einem 'Urteil' über eine vorstufe zur ode 'Die Unsterblichkeit der Seele', die Ovid-paraphrase 'Hero', ein verlorenes 'Lied des Schweden' und ein viertes, in dessen brief vom 10. juli nicht näher bezeichnetes gedicht gebeten; wenig später schickt Magenau seine soeben gedruckten gedichte, vermutlich wiederum an Hölderlin, und schreibt am 28. august auf dessen antwort

Daß Sie meine Bagatellen einem Ihrer kritisch. Freunde geben, freut mich recht sehr, u. ich bitte Sie recht sehr um seine Reaction…

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möglicherweise war Theuß jener 'kritische Freund'; der problematik dieses satzes korrespondiert die einer zweiten frage, ob nämlich das von Reinhard Breymayer in Johann Friedrich Blums genealogischer sammlung aufgefundene und 1979 veröffentlichte gedicht 'AUF / DIE VERBINDUNG / DES / HERRN DOKTOR / THEUSS / MIT / JUNGFER / LUISE BARDILI. / Von / EINEM FREUND' wirklich von Hölderlin verfaßt wurde; schon Chr Th Schwab berichtet von der existenz eines verschollenen hochzeitcarmens; er verbindet diese vielleicht von Magenau stammende mitteilung mit der nachricht von einem 'forcirten Ausflug nach dem 18 Stunden entfernten Kloster, um seine Geliebte zu sehen', und der trennung von Luise Nast, die Hölderlin, früher als bisher angenommen, schon im Frühjahr 1789 vollzogen hatte; zunächst schriftlich, und wahrscheinlich, ende november des gleichen jahres, durch eine sicher auf drängen der mutter herbeigeführte aussprache; auf diese reise deutet der rest eines später zur hälfte beseitigten briefs an die mutter aus der novembermitte; Hölderlins abreisetag läßt sich, wenn auch nicht mit letzter genauigkeit, aus einem anfang dezember an Neuffer geschriebenen brief bestimmen: Neuffer, der die herbstvakanz um einen 'Kururlaub' verlängert hatte, wurde nämlich am 24. november aus Stuttgart zurückerwartet und traf Hölderlin nicht mehr in Tübingen an

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gerade am 24. november fand aber die Eglosheimer hochzeit statt; ohne alles aufsehen, da die braut im fünften monat schwanger war; anscheinend lebte Luise Christiane Bardili die monate vor der trauung nicht in Markgröningen, sondern bei ihrer halbschwester Friederike, verheiratete Jäger; in einem bisher falsch datierten billet aus der letzten septemberwoche, in welchem Hölderlin Neuffer auch im namen seiner mutter bittet, ihn endlich in Nürtingen zu besuchen, wird der freund um eine mysteriöse gefälligkeit ersucht

Inliegenden Brief schikst du so bald möglich an die Bardili in Expeditionsrath Jäger's Haus bei der Spitalkirche.

immerhin denkbar, daß dieser brief, sei er von Hölderlins schwester oder ihm selbst, mit der bevorstehenden hochzeit zusammenhing; jedenfalls wäre das der schwester versprochene, ende oktober entstandene und im oeuvre singuläre gesellschaftslied 'So lieb, wie Schwabens Mägdelein…' als seitenstück zu jenem konventionelleren hochzeitslied 'Nun ist es da, das Fest der Männertreue…' zu lesen

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weil er sich am vortag der abreise 'den Fuß wund stoßen' mußte, nahm auch Hölderlin einen am 1. dezember registrierten kururlaub, von dem er laut 'Carentengatter' am 29. dezember zurückkehrte; eine mit blei notierte passage im dem vermutlich noch in Tübingen begonnenen, dann in Nürtingen fortgesetzten und abgeschlossenen odenentwurf 'Die Weisheit des Traurers' markiert den werkgenetischen zeitpunkt der reise, die, nach den undeutlichen angaben Schwabs, zu jenem klärenden gespräch mit Luise Nast, von Eglosheim nach Maulbronn oder einen dritten, weniger exponierten ort im unterland geführt hätte

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die verschwommene kontur der nachricht scheint mit dem von den freunden gelüfteten geheimnis zusammenzuhängen, mit welchem Hölderlin die sache umgeben hatte; in einem vermutlich am 21. dezember geschriebenen briefe scherzt Rudolf Magenau

Liber Holz! wenn du nicht bald kommst, so hast du dich einer erbärml. poëtischen Epistel von mir zu versehen. Was macht dein Fuß, doch // Der Himmel leite deinen Gang! // Liber Alter, u. bring dich bald gesund wider hieher, Lebewol, datum zu einer guten Stunde, allzeit sonder Wank // Dein / Alter, / fideler Rudolph. / M-genau. // d. = Dez. 1789.

unter diese anspielungsreiche vers- und buchstabenstecherei setzt Neuffer, nun unmißverständlich, 'Vive la Mariage!' und unterschreibt, statt mit 'Ludwig' oder 'L.', mit 'T. Neuffer', was Adolf Beck als 'Testis' oder 'Testatur' auflöst, ebensogut aber den namen des besungenen bräutigams meinen könnte

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daß buchstabenspiele dieser art nicht ungewöhnlich waren, bezeugen die mystifizierenden abkürzungen in den stammbüchern der zeit; so hatte sich Hölderlin am 18. märz 1788 in Johann Friedrich Blums stammbuch mit einer anfang september 1788 in Christian Friedrich Hillers stammbuch wiederholten strophe eingetragen und dabei – durch unterstreichung der buchstsaben 'H' und 'L' – das allgemeine des sinnspruchs zur intimen botschaft umfunktioniert

Wie schnell ists ausgeronnen
Dis karge Tröpfchen Zeit
Dann – mischt in unsre Wonnen
Sich nimmer Harm und Leid.

daran erinnert, wie es scheint, das wenige tage vor jener ominösen abreise aus Tübingen vom odenentwurf 'An die Ehre' überlagerte notat 'Rosen, Rosen…', dessen syntaktisch gefügtes segment Höltys lied 'Lebenspflichten' entnommen und durch dieses zu ergänzen ist

Rosen auf den Weg :: gestreut,
Und des Harms vergeßen!
Eine kleine Spanne Zeit
Ward uns zugemeßen.

in ingeniöser indirektheit könnte dieses kritisch gemeinte fragment auf die euphemismen der gesellschaftsdichtung und damit auch auf jene beiden mehr aus gefälligkeit als aus dichterischer notwenigkeit entstandenen poeme und ihren anlaß deuten

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auf eine ganz andere möglichkeit lenkt Magenaus schwungvolle, offenbar Hölderlin als prediger, mit aufgewickelten locken, talar und beffchen, darstellende karikatur auf der rückseite jenes dezemberbriefs von Magenau und Neuffer (FHA 18, p 87); sollte Hölderlin nicht nur das Carmen 'gedichtet', sondern auch noch post copulationem, probeweise, 'gepredigt' haben? wahrscheinlich aber persifliert jene zeichnung nur Hölderlins 'unvernünftigen', drei wochen später tatsächlich wieder aufgegebenen wunsch, der theologischen laufbahn ade zu sagen

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dieses unstete suchen nach einer bestimmung äußert sich schon in der sonderbaren rücksichtslosigkeit, mit welcher der neunzehnjährige die Maulbronner beziehungen zu Imanuel und Luise Nast, auch die zu Christian Ludwig Bilfinger hinter sich läßt und ebenso in dem eifer, mit welchem er jene neuen verhältnisse zu Ludwig Neuffer, Rudolf Magenau und Elise Lebret eingeht; dieses schwanken äußert sich in jenem zornausbruch am 10. november 1789, als er 'bey einbrechendem Abend' dem ihn nicht grüßenden 'Mägdlein Provisor Majer den Hut von dem Kopf auf den Boden geschlagen', am eindrücklichsten aber im psychogramm der einander aufhebenden, von einem extrem des gemüts in das entgegengesetzt andere fallenden odenentwürfe und notate des spätherbsts 1789; gegen dieses ostinate motiv artikuliert sich ein poetisch-biographisches, das motiv der anabasis nämlich, das ihn schließlich hinab, im doppelten Sinn ins 'Unterland' führt

Die Leichenreihen wandelten still hinan,
    Und Fakelnschimmer schien' auf des Theuren Sarg,
        Und du, geliebte gute Mutter!
            Schautest entseelt aus der Jammerhütte,

Als ich ein schwacher stammelnder Knabe noch,
    O Vater! lieber Seeliger! dich verlohr,
        Da fühlt' ichs nicht, was du mir warst, doch
            Mißte dich bald der verlaßne Waise

die mit diesen strophen beginnnende ode 'An Thills Grab', die letzte in jener entwurfsreihe, ist auch die einzige, die Hölderlin in die oktav-reinschrift von frühjahr 1790 aufnimmt

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noch in dem unmittelbar nach jener erschlossenen reise entstandenen odenentwurf 'Einst und Jezt' wurde die erstmalige rede vom tod des vaters, der ihn nicht um jeden preis zum kanzeldienst bestimmt hätte, zur erinnerung an den sieben jahre späteren des stiefvaters umgeformt; jetzt aber vermittelt das grab des 'hälftig' zwischen Lauffen und Nürtingen, in Großheppach an der Rems gestorbenen dichters Johann Jakob Thill (1747-1772) den verbotenen gedanken und überträgt somit, der späteren poetologie gemäß, die nur indirekt zu äußernden gegenstände 'in einen fremden analogischen Stoff'; jener in der quasi objektiven chiffre des heroengrabs verborgene vater ist aber, mit allen schatten vor ihm, dem namen nach anwesend

Ihr stille Schatten seines Holunderbaums!
    Verbergt mich, daß kein Spötter die Tränen sieht
        Und lacht, wann ich geschmiegt an seinen
            Hügel die bebenden Wangen trokne.

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ob nun der vater an der 1807 bis auf einige mauerreste abgebrochenen klosterkirche oder anderswo bestattet wurde – grab und inschriften gehörten örtlich zusammen; so überlagert sich in der 1801 entstandenen elegie 'Stutgard / An Siegfried Schmid', die jene von Gock überlieferte wanderung vom vorjahr als eine nochmals gemeinsam zu unternehmende rekapituliert, die erinnerung des grabes mit einer konträren

                                                                      Was ist es
Aber? des Vaters Grab seh' ich und weine dir schon?
Wein' und halt' und habe den Freund und höre das Wort, das
Einst mir in himmlischer Kunst Leiden der Liebe geheilt.

Höltys am rand des grabes gesungene worte und Reichardts 'Ausgelassen frölich' zu singende melodie

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nicht anders in dem um 1810 entstandenen gedicht 'Der Kirchhof'

Du stiller Ort, der grünt mit jungem Grase,
Da liegen Mann und Frau, und Kreuze stehn,
Wohin hinaus geleitet Freunde gehn,
Wo Fenster sind glänzend mit hellem Glase.

Wenn glänzt an dir des Himmels hohe Leuchte
Des Mittags, wann der Frühling dort oft weilt,
Wenn geistige Wolke dort, die graue, feuchte
Wenn sanft der Tag vorbei mit Schönheit eilt!

Wie still ist's nicht an jener grauen Mauer,
Wo drüber her ein Baum mit Früchten hängt;
Mit schwarzen thauigen, und Laub voll Trauer,
Die Früchte aber sind sehr schön gedrängt.

Dort in der Kirch' ist eine dunkle Stille
Und der Altar ist auch in dieser Nacht geringe,
Noch sind darin einige schöne Dinge,
Im Sommer aber singt auf Feldern manche Grille.

die so sorgfältig bezeichneten fenster, die 'geistige Wolke', die vorübereilende, die trübsal bedeutet, und nicht zuletzt die hier besonders sonderbare 'Grille' legen diesen Sinn zumindest nahe

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ebenso sonderbar evozieren die kurz vor jenem 24. november 1789 aufscheinenden Hölty-assonanzen '…Rosen auf den Weg' und der Höltys 'Hymnus an die Morgensonne' zitierende beginn der ode 'An die Ruhe': 'Vom Gruß des Hahns, vom Sichelgetön' erwekt 'dieses mit der vorbereiteten reise zur Theuß'schen hochzeit und ins 'Unterland' anscheinend fest verknüpfte motiv; ähnlich auffallend auch das erst nach der rückkehr, in der ode 'An Thills Grab', gezeichnete bild vom nächtlichen trauerzug zur hochgelegenen Regiswindis-kirche, und, wie von einem außenstehenden gesehen, dasjenige der mutter in der aufgerissenen tür der 'Jammerhütte'

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das fragen nach augenzeugen führt von den vätern meiner urgroßmutter Mathilde Theuß, verheiratet mit Julius Hermann Sattler (dessen um 1530 geborener urahn Jakob aus Schwaben nach Neustadt an der Orla gewandert ist) zurück zur Eglosheimer hochzeit und in das eine halbe stunde von Lauffen entfernte Kirchheim am Neckar, wo der in Backnang geborene magister Theodor Theuß (1696-1778) von 1736 bis kurz vor seinem tode pfarrer und somit wenigstens durch amtliche geschäfte mit den um die gleiche zeit wirkenden klosterhofmeistern Jakob Friedrich und Heinrich Friedrich Hölderlin und ihrer zumeist geistlichen verwandschaft in der nächsten umgebung verbunden war; dessen jüngster sohn Johann Zacharias, drei jahre älter als Hölderlins vater, zog später nach Weimar, wo er sich 1758 verheiratete; sein sohn Carl Gottlob nahm ein jahr nach der Eglosheimer hochzeit eine württembergische base, Henriette, die zweite tochter des Freudenstadter stadtschreibers Theodor Theuß, zur frau; ob dieser gar mit dem älteren, zuerst in Nürtingen, dann in Nagold als 'Scribent' tätigen bruder seines vaters, Theodor Theuß, identisch ist, wäre noch zu ermitteln; der 1798 geborene sohn jenes paares erhält die in dieser linie nicht gebräuchlichen namen Friedrich Wilhelm Ludwig; vielleicht diejenigen des bräutigams, auf dessen hochzeit seinerzeit ihr bund geschlossen wurde, wahrscheinlicher jedoch – im jahr des Rastatter kongresses als bürgerliche ehrennahmen – die namen des autors der verfassungsschrift von 1796, von der am schluß zu sprechen ist; anzunehmen bleibt dennoch, daß auch die Kirchheimer verwandtschaft zur hochzeit von Friedrich Ludwig Wilhelm Theuß und Christiane Luise Bardili geladen war

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immerhin war der großvater des bräutigams, der 1701 geborene Johann Conrad Theuß, Königsbronner mannsklosterpfleger in Reutlingen, der bruder des pfarrers Theodor Theuß in Kircheim und diese familiäre beziehung mag dessen um 1723 geborenen sohn, den rat, kanzlei- und hofgerichtsadvokaten Friedrich Ludwig, bewogen haben, 1768, als pensionär, wie es heißt, nach Lauffen zu ziehen; dort starb am 22. september 1768 seine zweite frau Wilhelmina Charlotta 'als Kindbetterin', acht wochen später des 'HE: Rath Theussen Töchterlein'; er selbst wird am 29. juli 1769 'todt im bett erfunden, an einem Stick-Fluß, nach besagt genommener Legal-Inspection', was nach auskunft des ehemaligen Lauffener stadtarchivars Otfried Kies auf 'Selbstmordverdacht' deutet

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sein am 5. januar 1767 geborener sohn Friedrich Ludwig Wilhelm, dessen 'Capitalien' von einem 'Curator' verwaltet werden, wächst zunächst (wie dessen in Tübingen aufbewahrtes, vom 11. september 1785 bis zum 13. oktober 1786 geführtes tagebuch erschütternd berichtet) bei den zerstrittenen, bis zur grausamkeit bigotten angehörigen der mutter auf, besucht danach, in glücklicheren verhältnissen, das gymnasium in Stuttgart und schreibt sich am 23. oktober 1784 als student der rechte in Tübingen ein; als sein vertrautester, sicherster freund erweist sich schon hier der drei jahre ältere Christian Friedrich Baz (1764-1808), an dessen seite er für eine grundlegende umgestaltung 'Wirtembergs' eintritt und dem er, vor und nach dem bekannten 'Hochverratsprozeß' gegen ihn, Sinclair und andere 'Verschwörer', die treue hält und tätig beisteht; es war auch Baz, der ihm schon 1786 die ehe mit Luise angeraten hatte; nach fünfjähriger tätigkeit als hofgerichtsadvokat in Ludwigsburg wird er zum stadtschreiber von Waiblingen gewählt; von 1819 bis 1828 ist Theuß oberamtsrichter in Nürtingen; sein nachlaß, eine umfangreiche, noch nicht ausgewertete sammlung von akten und öffentlichen dokumenten, liegt in der Stuttgarter bibliothek

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anfang februar 1785 verbrennt Theuß sein tagebuch vom vergangenen jahr und erklärt

Es enthielt häusliche Scenen – Wechselscenen mit Freunden – aufgethürmte Vorsäze die am ersten Tag ihres Seyns schon wieder in ein nichts zurükfielen – – Viele CharakterSkizzen von Männern mit denen ich [in] Verbindung stand, u. bei deren Bekantmachung sowohl sie als derjenige der sie schilderte von Seiten der Moralität vieles verlohren haben würden.

und auf dem vorsatzblatt des überlieferten journals vermerkt er jahrzehnte später

Mein früheres Tagebuch von 1780 an, habe ich biß auf wenige Blätter, verbrannt. Diß geschah in Tübingen in einer Anwandlung von egoistischer Solidität, wo der junge Herr sich seiner Knabenschwärmereien und Knabenstreiche – (davon doch die noch existirenden Blätter eine unzählige Menge enthalten) – schämte. In reiferen Jahren hätte ich viel darum gegeben wenn ich den Veränderungsproceß auch! eingeleitet hätte!!

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über diese veränderungen, allgemeine und individuelle, reflektiert er am 7. februar 1786

Wie sehr könnten doch die Schulanstalten in Würtemberg verbessert werden! gewis die ganze Lage würde sie alsdann zu den besten erheben können. Wenn ich so viele fremde Jünglinge mit so vorzüglichen Kenntnißen in der Philosophie ausgerüstet hieher kommen sehe, und ich dann mich so tief unter ihnen fühle – Gott! ich möchte Blut weinen über dem Gefühl meiner Niedrigkeit. Hätte mein Geist gleich anfangs eine rechte Bildung bekommen, so würde ich izt mit eben soviel Muth wie jene fortwandlen können auf dem Pfade der Wissenschaften; blos Philosophie hilft uns Schwierigkeiten die sich uns bei jeder Gelegenheit, in jedem Fache der Wissenschaften entgegenstellen, überwinden; ohne sie tappen wir in steter Finsterniß umher, und wenn wir uns noch ein wenig forthelfen können ists Werk des Mechanismus. Izt ist es freilich für mich zu spät, die ganze Wissenschaft von vorne an durchzuarbeiten; meine Lage und meine Kräfte verbietens! ich werde es also schwehrlich weit in der Jurisprudenz treiben. Manchem der mich vom Gymnastischen Schlendrian aus beurtheilt wird dieses unglaublich scheinen, aber ach! ich fühl es – fühl es mit all' der Schwere die meine Schwäche mir auflegt! – Aber arbeiten will ich mit vereinten Kräften, und sollt ich es auch in meiner einmahl gewählten wissenschaft nur biß zur Mittelmäßigkeit treiben – es war doch das Streben aller meiner Kräfte nach Vollkommenheit – das aber unwirksam bleiben muste, weil meine ganze Erziehung, meine ganze Laufbahn im Felde der Wissenschaften meine Kräfte mehr schlaff machte, als ihnen einen höhern Grad von Spannung zu geben.

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ein jahr vor Hölderlins eintritt in das kloster, am 15. november 1785, auf einem in begleitung seines damaligen freundes Lang unternommenem ausflug nach Maulbronn, Bruchsal, Speyer und Mannheim, notiert Theuß in seinem nach der rückkehr mundierten reisebrouillon

Wir giengen lange in dem Kreuzgange des Closters – ein altes gothisches Gebäude, auf und nieder. Ein Schauer überlief mich, als mein Fustritt in dem Gewölbe so dumpf wiederscholl. O es muß doch ein herrliches Leben im Closter unter Edeldenkenden seyn. So ganz sein Daseyn in stiller Einsamkeit, entfernt vom Schwarm der Thoren hinleben zu können! welch ein entzükender Gedanke!! – Wie viel edles war schon auf dieser Welt im ersten Moment des Ursprungs! und nun wie verunstaltet die edelste Gegenstände! durch Eigensinn und Schwärmerei! – – – – –

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'Wohl mir! daß ich den Schwarm der Thoren nimmer erblike…' mit diesem seufzer der erleichterung steht Hölderlin im herbst 1787 auf der Teck; tief unten die 'Mauren des Trugs', das 'höfische Waagengerassel', die 'Narrenbühnen der Riesenpalläste'; am ende des hexametrischen gesangs 'Auf einer Haide geschrieben' beschwört er, wie Theuß in eben jenen 'Mauren', die 'Edleren', die hier – in wahrer und nicht trügerischer einsamkeit – 'Hütten der Freundschaft' sich bauen sollten; und wie Hölderlin, der im sommer jenes jahres 'im ganzen Kloster … als gefärlich melancholisch ausgesagt' wurde, schwankt auch der saturnische Theuß zwischen luziden und depressiven seelenzuständen

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am 1. januar 1786 notiert er

Das war einmahl eine heiter durchwachte Nacht! o es war mir so wohl! – so wohl ich kan es kaum ausdrüken! Nun will ich doch wieder aufs neue zu leben anfangen; will meinem Vorsaz getreu bleiben nimmer mich fortreißen zu lassen von dem Strudel lärmender Gesellschaften…

und einen tag später

Wer wollte sich mit Grillen plagen, so lang uns Lenz und Jugend blühn! Wahr ists vortreflicher Hölty! sehr wahr! es ist Thorheit; ich fühl es selbst! und das kontest du sagen in einer Zeit da dein Leben kaum mehr zur Hälfte diesen Nahmen verdiente! Das sangst du am Rande des Grabs, so heiter! mit solch einer unumwölkten Stirne! Wer wollte sich mit Grillen plagen! o hätte [ich] nicht so viel Stoff, könnt ich ihn bezwingen, diesen einzigen Feind der auf mein Leben lauert, und jeden Keim der Freude erstikt! doch es sei gewagt! Wenn üble Laune mich wieder befällt soll die Erinnerung an dich seligentschlafener meine Hülfe seyn!

55
am nächsten tag

Nun noch einmal will ichs versuchen und wan Louise trügt, dann gute Nacht! hab ich lange dir gefröhnt und wäre bald darob zum Narren geworden! Thor ich! der ich Blumenketten zu tragen wähnte, und schwere Ketten mir auf den Naken lud! Da tappt man hin, sucht Geschöpfe die nirgends als im Kopf eines Romanensudlers existiren; meint eins gefunden zu haben, und hascht oft kaum einen schlichten Menschen! Fürwahr ein entzükendes Elysium! – – – – Ich werde sie, vielleicht nächstens sehen, ich meine Luisen! will sie ganz ohne Leidenschaft beobachten, und das Resultat meiner Beobachtungen – – – ein anders mal mehreres.

diese angenommene kälte straft schon die folgende seite lügen; am 6. januar 1786, seinem geburtstag, wendet sich Theuß an seine in Lauffen begrabenen eltern

Zwar leidentlich Wetter, aber da in der Brust siehts bald stürmisch aus, bald verjagt ein Sonnenstrahl die Finsterniß. Neunzehn Jahre sind nun vorüber gegaukelt, sind durchträumt! O daß ich nur ein paar Jahre zurükkaufen könnte! Aber ach sie sind vorbei! unwiederruflich vorbei! Ist mir doch kein Tag feierlicher, als derjenige der mir mein eigentliches Daseyn gab! O Mutter, Mutter wer hätte das gedacht, daß ich dich so bald verliehren mußte! daß ich nicht fühlen konnte die Mütterliche Liebe, nicht stammeln konnte an deinem Busen, den süßesten aller Nahmen. Mutter!! O es wäre ein herrliches Geschenk gewesen, ums Leben, aber ohne euch die ihr es mir gabt, ist es ein trauriges Geschenk! Daß ihr mir so bald entrissen werden mußtet! Viele Thränen weint ich schon eurer Asche, und noch mehrere sollen fließen, solange ich noch würdig bin euer Sohn zu heißen! Es sind Thränen der Wehmut, Thränen der Dankbarkeit; Ihr saht sie fließen in den zur Trauer einladenden Stunden der Mitternacht, da ihr mich umschwebtet, mild wie das Lüftchen des Frühlings, und mir neuen Muth einhauchtet, wenn ich zu sinken begann unter der Bürde des Lebens. – – – – – – –

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wie oft er in früheren jahren die gräber der eltern besuchte, darüber hätte das verbrannte tagebuch auskunft geben können; um so überraschender das 'Hochzeitbett' im bericht einer im frühherbst 1785, in gesellschaft seiner freunde 'B.' und 'J.' unternommenen reise ins unterland; sie führte von Eglosheim, wo sie um 9 uhr abgingen, nach Lehrensteinsfeld bei Heilbronn; in Besigheim wurde zu mittag gespeist, in Kircheim, wo seine verwandten bis 1778 lebten, 'im Vorbeigehn eine Bouteille' geleert

In L[auffen] kehrte ich im Adler ein, und sahe meines Vatter Hochzeitbett, das ich ehrerbietig ansah wie ein Catolik seine Maria.– Das war also das Bett dem ich meine Existenz zu verdanken hatte sagte ich zu B. und er lachte eins, so wenig mirs lächerlich war. – – Der Wirthin mag ich nicht übel behagt, haben indem sie mich sehr freundlich zum Nachtquartier einlud. – – Schon fieng der Abend an zu dämmern als wir L. verliesen, und mit stärkeren Schritten Heilbron zu eilten, welches wir gerade mit Einbruch der Nacht erreichten.

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die teils leidenschaftlich hingerissenen mitschriften, teils kritischen analysen seiner gemütszustände, die schilderungen von personen und begebenheiten werden, bis zur verbrennung jenes ersten tagebuchs, durch zumeist 1784 entstandene gedichte in lateinischer schönschrift unterbrochen, doch notiert er am 14. januar 1786

Es ist aus mit mir; ich kan nimmer Gedichte machen; wie sollte etwan die Poesie sich nicht mit dem ernsthaft Denken vertragen? fast scheint es mir also zu seyn. Ich will ihn lieber schwinden lassen den Dunst nach dem ich bisher strebte; würd' ich doch niemalen es nur zum allergeringsten Grad von Vollkommenheit bringen. Es waren herrliche Stunden, in denen ich mir ein Elysium träumen konnte; o herrlich – waren sie! wenn ich mit dem Zauberpinsel der Phantasie die Welt rosinroth bemahlt glaubte, und mich mit jedem dieser Erdgeschöpfe ausgesöhnt hatte; oder wenn ein süßer Mädchen Blik mich entzükte, und in Träumereien künftiger Glükseeligkeit dahin ries. O nimmer, nimmer will ich dein vergeßen süße Schwärmerei…

aber drei wochen danach – 'Als wir vor einigen Tagen schon das herrlichste Frühlingswetter hatten' – macht er (wie einige jahre später Hölderlin in einem gleichnamigen hexametrischen fragment) 'den ersten Versuch in diesem Jahr', dessen Ergebnis, eine fünfstrophige, nicht ganz vollendete alkäische Ode, er so, wie sie ihm 'aus Feder flos', hier einrückt

An den Frühling.

O Steig hernieder Blumen umgürteter!
Du LieblingsSohn der Alleserhalterin.
Entfeßle deine holde Glieder
Von dem umschattenden langen Schlummer…

58
ende oktober 1785 hatte Theuß notiert

Weil ich nicht weis wie lange noch mein Tagbuch währen kan, und ich doch alles was ich in Poeticis versucht habe, um keine Copien zu verliehren, beisammen zu haben wünschte, so werde ich die noch hie und da Zerstreute sammlen, und sie hieher schreiben. – Können denn mit diesen Papieren in den Schlund der Ewigkeit hinabfahren.

im wort 'Ewigkeit' drei spätere tupfer mit der federfahne; es folgt das Gedicht 'XXIII. Um Mitternacht / d. 20. Dec. 84.', dessen stimmung, wortlaut, und schreibweise beachtung verdienen

Horch! wie dumpff die nahe Gloken schallen
Wie so feierlich die Töne hallen
    Durch das schweigende Gefild der Nacht,
Alles schlummert, schauerliche Stille,
Throhnt umher nur in der schwarzen Hülle,
    Nassen Auges noch der Jüngling wacht.

Ha! wie herrlich in den Knabenjahren,
Mir die süse stille Stunden waren,
    Da ein sanfter Schlaf mein Aug umflos;
Ach mich Jüngling flieht er nun der Schlummer,
Dann ein düstrer nahmenloser Kummer,
    Wehrmuth in die Freuden Schaale gos. –

Kehrt – o kehrt zurük ihr Maientage
Da der Knabe harmlos keine Plage
    Keinen Schmerz des Erdenloses fand;
Kehrt zurük ihr wonnevolle Träume
Die ich [in] dem ersten Jugendkeime
    So bezaubend süs so göttlich fand.

Und auch du, o Freundin meiner Jugend!
Kom zurük, mit deinem Reiz der Tugend
    Deiner Engelschöne ausgeschmükt,
Kommt zurük! haucht Ruh in mein Gemüthe,
Ehe meines Lebens JugendBlüthe
    Welkt, vom Todesfinger abgepflükt. –

59
beachtenswert auch ein passus in der ende november 1785 eingetragenen, die wehmütige suche nach der verlorenen jugend abhandelnden epistel 'An meine Freunde zu S. 84'

Hier denk' ich an die vor'ge Zeit zurük,
An jene Zeit, da noch im Knabenkleide,
Da in der Freunde reih'n mich grenzenlose Freude
Umgaukelte!– mit thränenvollem Blik
Seh' ich das Bild von jenen goldnen Tagen
Vorüberflattern…

60
und auch das Hölty-zitat erscheint, im zusammenhang einer 'Hyperion'-szene, noch einmal in den betrachtungen vom 25. februar 1786

Wer wollte bei so frohen Tagen die Stirn in düstre Falten ziehn? Wahrlich ich muß lachen wenn ich mich an einzelne Scenen zurükerinnere. Da that man so ernst, so gesezt, sprach so gelehrt, so philosophisch, schimpfte über das Verliebtseyn, und verliebte sich in eben dem Moment da man das Anathema darwieder aussties, macht Ungereimtheiten und schwazt inconsequenzen. Möchte doch Chodowiekys Zaubergrifel unsere Studierstuben gezeichnet haben; wenn wir versammelt waren und ein Zr. [vermutlich jener von Ziegler, gegen den er vier Monate später den Degen ziehen wird] dem Klub präsidirte! – – – Der eine war Philosoph, der andere Kritiker, der 3te Theologe, der 4te Jurist und jeder gab seine Meinung in seinem Fache dazu, und ich machte mit, oder gähnte! – – – –

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nach allem scheint der urheber der Lauffener fensterinschriften gefunden; nicht nur die inhaltlichen, stilistischen und wörtlichen assonanzen in den im herbst 1784 entstandenen und im jahr darauf in das tagebuch 1785/86 übertragenen gedichten, auch die besonderheiten bei der schreibung der komposita, die vervielfachten gedankenstriche am schluß einer niederschrift und schließlich die duktischen eigenheiten, von denen einige nur noch sporadisch erscheinen, machen wahrscheinlich, daß Friedrich Ludwig Wilhelm Theuß die strophe 'wo – wo seyd ihr…' bald nach beginn seines studiums, im spätherbst 1784, spätestens aber im frühjahr 1785 in jene zweite scheibe eingeritzt hat

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die für beide inschriften charakteristische 'w'-minuskel mit dem gebogenen abstrich ist auch in der flüssigeren schrift des späteren tagebuchs beibehalten (z b 31r:2); das doppelte 's' dagegen erscheint nur noch selten und wird entweder durch das einfache 's' oder 'ß' ersetzt (31r:6); ebenso entfällt der noch in der zweiten inschrift gebrauchte doppelstrich über dem 'y', oder er wird durch schleife oder punkt verdrängt (31r:13, 31v:3; vgl dagegen 'blühn' und 'Blüthen' im Hölty-zitat der fensterscheibe); fast gänzlich verschwunden ist auch der in der zweiten inschrift auffallende 'r'-aufschwung (31v:3); das gebrochene, nach schreibmeistervorschrift ausgeführte kurrent-'T' beider inschriften war im tagebuch nicht nachzuweisen; dagegen erscheint das sorgfältige 'G'-initial des nicht ganz dreizehnjährigen – etwas vereinfacht zwar – noch in der handschrift des neunzehnjährigen (31r:11,17,19); daneben aber auch jene alternative, in Hölderlins manuskripten überwiegende figur der 'G'-versalie (31r:7); im gegensatz zu seinen lateinischen gedichtreinschriften ist Theußens deutsches 'k' entweder tatsächlich ein 'ck' oder mit einem solchen zu verwechseln (31r:3,23); andererseits verwundern die initialen der unterschrift; im knabenalter wurde er 'Friz' gerufen; und am 5. märz, seinem namenstag, notiert er: 'Was Friderich heißt, das lebe.' er hätte demnach nicht mit dem eigenen, sondern mit dem namen seines vaters Ludwig Friedrich Theuß signiert

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ebenso rätselhaft Hölderlins fragmentarisches notat auf p 84 des Homburger foliohefts, das nach den hier vorgetragenen argumenten auf parallele fensterinschriften Hölderlins oder auf spuren seiner hand auf den Lauffener scheiben schließen ließe; für letzteres kämen vielleicht die vier helleren, vermutlich tiefer eingegrabenen stellen in den lateinischen initialen 'L. T.', die hierdurch den charakter des nun deutsch geschriebenen Symbolons 'C. F.', vielleicht auch 'L + F' erhalten hätten, in frage; und wie am oberen rand der zweiten scheibe der ansatz zu einem abweichenden datum ('9, M'(?)) zu lesen ist, könnte auch der monat 'Nov.' zu 'Mai' verändert worden sein

                                           Also darf nicht
Ein ehrlich Meister
                                           und wie (Dia)mit Diamanten
In die Fenster machte, des Müßiggangs wegen
Mit meinen Fingern, (denn so) hindert
                                                    so hat mir
Das Kloster etwas genüzet

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auch wenn der sinn des fragments nicht bar auf der hand liegt, reflektiert es zweifellos den beweggrund, dem die 'inschriften' an sich ihre entstehung verdanken; in der 'archipelagischen' beziehung der im folioheft und einigen anderen papieren notierten segmente ist das auf p 89 stehende als erweiterung und umformung des hier zitierten zu lesen; in erster niederschrift

Hier sind wir in der Einsamkeit
Wenn aber der Tag
Schiksaale machet, denn aus Zorn der Natur-
Göttin, wie ein Ritter, gesagt von Rom, in derlei
Pallästen, gehet izt viel Irrsaal,
Und Julius Geist um derweil, welcher Calender
Gemachet, und dort drüben, in Westphalen,
Mein ehrlich Meister

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dieser 'ehrlich Meister' ist, in 'Erläuterungen' oder 'Kommentaren', mit Wilhelm Heinse, dem reisegefährten des sommers 1796, gleichgesetzt worden; durch das schrift-motiv in dem vorhergehenden segment entsteht jedoch ein neuer, überraschender bezug; wie trigonometrische punkte bestimmen die akzidenzien 'ehrlich' und 'Westphalen' jenen ersten 'Meister', in dessen elementarschule sich der knabe geübt haben dürfte, nämlich Johann Gottfried Weber und seine 'Allgemeine Anweisung der neuesten Schönschreibkunst … Detmold, den 20. Merz 1780', der eines seiner Muster, das als Tafel 22 in Kupfer gestochene 'Blanquet zur Vollmacht' mit dem fiktiven namen 'Johann Adolph Ehrlich' unterzeichnet; auf dem Maulbronner odenentwurf 'Ist also diß die heilige Bahn…' finden sich federproben, deren kalligraphische ambition auf jene schreibmeisterblätter verweist; wie weit deren schule über die einübung jener kunstfertigkeit hinausging, daß die gegebenen muster zugleich auch den moralischen charakter und den literarischen geschmack der schriftbeflissenen zu bilden unternahmen, wäre an den spuren zu zeigen, welche die 'Schönschreibkunst' des 'Hochgräflich Lippischen Bottenmeisters und Aktuarius' im werk Hölderlins hinterlassen hat

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zwischen den im ruin der geschichte schon ausgelöschten und den noch erhaltenen inschriften besteht nur ein gradueller unterschied; darum erscheinen jene von eigener oder fremder hand in glas geritzten als beleg für die 'unnützen' Versuche, in der welt des verlöschenden ruhms, irdischer vergänglichkeit zum trotz, zu bleiben, – wie die Buchstaben 'Holder', in der gemeinschaft vergessener alumnen eingegraben in die 'Mauren des Trugs' (im 'Paradies' des klosters Maulbronn) – als prägnantes paradigma der vergeblichkeit alles mit fingern gemachten

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solange dieser zum gebrauche nicht taugende gedanke bestritten und seinerseits für unnütz erklärt wird, geht der geist der subjekte 'um derweil', der niederwerfende, sein terrain vergrößernde eines 'Julius' etwa, 'welcher Calender gemachet', oder eines schreibmeisters 'dort drüben, in Westphalen', welcher sich 1780 unterwunden hatte,

gegenwärtige, zum Nutzen der deutschen Jugend … verfertigte und in Kupferstich gebrachte Vorschrift der deutschen Schönschreibkunst zu allerhöchst Dero geheiligten Füßen, nämlich Catharine der Zweiten … Kaiserin und Selbstherscherin von ganz Rußland…

zu legen; es gehen um derweil die autoritären und devoten, nebeneinander die hohen und niederen geister dieser endlichen geschichte; aus der einsamkeit dieser einsicht tönt denn auch – auf der gleichen Seite – der an die rede des täufers und das 'berufungsgesicht' Sacharjas erinnernde ruf

Ach! kennet ihr den nicht mehr
Den Meister des Forsts und den Jüngling
In der Wüste, der von Honig
Und Heuschreken sich nährt. Still Geist ists traun.

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was 'bleibet', ist lange gestiftet; deswegen bedarf die rede vom amt der dichter und von der wohlgefälligkeit des gesangs (…daß gepfleget werde / Der veste Buchstab und Bestehendes gut / Gedeutet) der korrektur; 'Merkzeichen viel' – geheime oder unübersehbare (wie spuren des pflugschars oder Vincentsche krähen) – markieren die betroffenen stellen; so lautet die auf p 74 des foliohefts notierte neufassung des auf p 28 verworfenen 'Patmos'-schlusses

Unwissend. ::
(wenn aber) Das Tagwerk aber bleibt(,)
(Die Menschen) Der Erde Vergessenheit,
(Ein Wohlgefallen aber) (Der ewige Vater) Wahrheit schenkt aber dazu
(Der ewige Vater.) Den Athmenden
Der ewige Vater.

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in dieser weise ist die absolut mißdeutbare schlußsentenz von 'Andenken' mit der auf p 29, vermutlich schon 1803, im zusammenhang des 'Titanen'-gesangs entworfenen und 1805/06 überarbeiteten passage zu verbinden

Denn manches von ihnen ist
In treuen Schriften überblieben und manches
In des Raumes Grenzen in Gestalten der Zeit.
Denn lang schon wirken
Die Wolken hinab
Und es wurzelt vielesbereitend heilige Wildniß…

den genetischen ort des für den druck separierten gesangs 'Andenken' bezeichnet das segment

    und in den Ocean schiffend
Die duftenden Inseln fragen
Wohin sie sind.

einfügungszeichen von späterer hand bezeichnen die integrationsstelle; in der konstellation des integralen, nur dem schein nach aufgelösten gesangs wird die erste, nachträglich mit dem schluß der später entworfenen 'Madonnen'-segmente verbundene 'Titanen'-strophe zur letzten dieses gesangs: '…Ich aber bin allein. // Andenken. // Der Nordost wehet…'

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weil der grund des gesangs erinnerung ist, ist aufzudecken, woran er erinnert; das aufzufindende konkrete das seine dunkelheit ist aber nichts für sich; sinn der grabungen ist es vielmehr, die verhältnisse bloßzulegen und mit ihnen den exemplarischen weg, der jene, die ihn nochmals gehen, aus deren enge und durch den bürgerlichen tod des irrseins in die freiheit führt, das mögliche, das unbewiesene zu denken; dem gegenüber stehen die gesellschaftlich gebundenen, die diesen intellektuellen und faktischen auszug aus dem von ihnen eselhaft bejahten als obsolet verwerfen und den geist der 'irr gieng' und 'nicht mehr dabei' ist, reintegrieren müssen in das von gesang verlassene; weil dessen dechiffrierung nichts anderes sein kann als die ungegängelt freie wiederholung des dichterischen vorgangs, durften auch jene formal und semantisch chiffrierten paradigmen nicht mehr in der gewohnten und überlebten überzeugungsgestalt erscheinen; sie stehen darum da als 'antitext', der durch sein bloßes anderssein dem leitbild 'text' widerstreitet

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das von Schelling verfaßte, aber in Hegels abschrift überlieferte 'systemprogramm' endet mit dem satz

Ein höherer Geist vom Himmel gesandt, muß diese neue Religion unter uns stiften, sie wird das lezte gröste Werk der Menschheit seyn.

dieser idee widerspricht die ihrerseits relativierte schlußzeile von 'Andenken'; ihr opponieren die lapidaren, auf p 45 des foliohefts notierten sätze

Viel täuschet Anfang
Und Ende. Das lezte aber ist
Das Himmelszeichen. Das reißt
            und Menschen
Hinweg.

an das konstitutive, in inschriften oder stiftungen manifeste 'Irrsaal' der Freunde, die 'mit der Loosung – Reich Gottes! voneinander schieden', erinnert aber auch der anfang des hier betrachteten, vielleicht auf p 30 ergänzten entwurfs

                            meinest du
Es solle gehn,
Wie damals? Nemlich sie wollten stiften
Ein Reich der Kunst. Dabei ward aber
Das Vaterländische von ihnen
Versäumet und erbärmlich gieng
Das Griechenland, das schönste, zu Grunde.
Wohl hat es andere
Bewandtniß jetzt.
Es sollten nemlich die Frommen ::
Einen Orden oder
Feierlichkeit geben oder Geseze.
Die Geister des Gemeingeists
Die Geister Jesu
Christi :: Seines jedem und ein Ende des Wanderschaft :: und alle Tage wäre
Das Fest. [Lücke] Also darf nicht
Ein ehrlich Meister…

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den überlieferten quellen nur indirekt zu entnehmen, reichten jene aus 'hoher Aussicht' kritisierten verbindungen über das stift hinaus; Karl Rosenkranz bemerkt zu Hegels 1798 entstandener schrift 'Daß die Magistrate von den Bürgern gewählt werden müssen' (zu welcher Hölderlin die von Carl Gock im märz des jahres vergeblich zurückerbetenen 'Landtagsschriften' beigesteuert haben wird)

Er wollte sie drucken lassen und teilte sie drei Freunden in Stuttgart mit. Diese gaben ihm noch einige Winke für passende Änderungen, verstärkten noch seine Materialien, rieten aber am Ende (7. 8. 1798), den Druck zu unterlassen, da die Schrift nicht nur nichts helfen, vielmehr unter den herrschenden Umständen eher schaden würde.

zu denken wäre an die verfasser früherer reformschriften, an Christian Friedrich Baz, Jakob Friedrich Gutscher, aber auch an Friedrich Ludwig Wilhelm Theuß und dessen 'Gedanken eines Wirtembergers über den bevorstehenden Landtag und die Wahlfähigkeit der, zu demselben abzuordnenden Deputirten'; in Hölderlins nachlaß befand sich lediglich die Jakob Friedrich Gutscher zugeschriebene, vermutlich aber von Christian Friedrich Baz verfaßte flugschrift 'Über das Petitionsrecht der Wirtembergischen Landstände'; ein grundgedanke der 'scheltrede', das alles überwiegende standesinteresse der Deutschen, mit welchem auch Hegel seinen fragmentarisch erhaltenen beitrag einleitet, findet sich zuerst bei Theuß, dort nämlich, wo er das partikularinteresse in den bis dahin dominierenden 'Kontributionsschriften' konstatiert

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Theuß lenkt die diskussion von der verteilung der französischen kontributionslasten auf den verfall der öffentlichen sache seit Christophs zeiten

Immer seltener wurden die Landtage, je mehr sich die Ausschüsse gebildet hatten; das Interesse des Landesherrn muste gewinnen, je mehr er die Zusammenberufung der Landstände vermeiden, und nur mit einer kleinen Zahl von Repräsentanten unterhandeln konnte; und diese leztern mochten wohl auch ihre Ursachen dazu haben, warum sie die seltenere Zusammenberufung der Landstände wenigstens nicht ungern sahen…

auf diese spezies konzentriert sich die polemik Hegels

Die Anmaßungen der höheren Offizialen waren es vorzüglich, was in älteren und neueren Zeiten alles Übel über die Landschaft gebracht hat … Der Ausschuß selbst war nie anmaßend. Seine Konsulenten und Advokaten waren es. Er war nur indolent und gab zu allen Eigenmächtigkeiten jener den Namen her … Sie waren es, die der Hof zu gewinnen suchte, weil er sicher war, seinen Zweck zu erreichen, wenn er den Advokaten und den Konsulenten in sein Interesse zu ziehen gewußt hatte … Die Konsulenten im engeren Sinne hatten übrigens nichts mit der Kasse zu tun … Von ihnen hatte also der Eigennutz der Ausschußglieder keine Gefälligkeiten zu erwarten. Deputationen wurden ohne ihren Rat vergeben; an keiner Wahl hatten sie einen direkten Anteil. Dies sicherte dem Advokaten auch beim Mangel von Talenten und Kenntnissen ein merkliches Übergewicht…

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bei seinem ersten besuch im turm am 15. januar 1841 notiert Chr Th Schwab

Ich fragte ihn, ob er schon als Student am Hyperion geschrieben hätte, was er, nachdem er einigen Unsinn gestammelt, bejahte. Ich fragte ihn, ob er mit Hegel umgegangen sey, auch dieß bejahte er und setzte einige unverständliche Worte hinzu, worunter 'das Absolute' vorkam. Ich fragte ihn nach Bilfinger, jetzigem Legationsrath od. dgl., mit dem er auf der Universität viel umgegangen seyn, später aber sich überworfen haben soll, der vielleicht das Original zu Alabanda war, da antwortete er in scharfem Tone: er ist ein Advocat.

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'Alabanda' aber ist kein anderer als Sinclair; so kann sich das zweifach irrige gerücht nur auf die früheste und konstant bleibende gestalt des romans, auf 'Gorgonda Notara' beziehen, dessen name zwar Chandlers 'Reisen in Klein Asien' entlehnt, dessen person aber im kreis um die 'holde Gestalt', die Glycera, Melite und Diotima der vorstufen (nach Adolf Becks 'Erwägung' Auguste Breyer, die braut des seit 1791 in Paris tätigen Georg Kerner), zu suchen ist; dann könnte der 'kritische Freund' von damals, der im verborgenen wirkende Theuß das urbild des älteren, in 'Hyperions Jugend' sogar schon verheirateten Hyperion-freundes gewesen sein

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es war die Napoleonische restauration, welche die arbeit 'Notaras' und seiner freunde zunichte machte, ehe sie ans ziel kam; sie und die folgende des biedermeier verursachten die tiefe dunkelheit, die jene 'furchtsamgeschäfftigen' verbindungen umgibt; daß Hölderlin sich früh, vermutlich schon um die jahrhundertwende, aus ihnen löste, darauf verweisen der streit mit Sinclair und der diesen reflektierende odenentwurf 'Bundestreue'; noch im märz 1799 spricht Hölderlin von 'Veränderungen, die es in unserem Vaterlande' geben könnte und versichert seiner Mutter weiter unten

Daß Sie unter gewissen möglichen Vorfällen kein Unrecht leiden, dafür würd' ich mit allen meinen Kräften sorgen, und vieleicht nicht ohne Nuzen. Doch ist alles diß noch sehr entfernt.

das zweite blatt des briefs ist abgerissen; zuerst die mutter, dann der 1831 geadelte Carl Gock vernichteten den größten teil des briefwechsels und damit so gut wie alle konkreten, über die sphäre des konventionell privaten hinausgehenden mitteilungen; auch könnte der umstand, daß Theuß zuletzt als richter am oberamt Nürtingen wirkte, das fehlen seines namens im selektierten rest der korrespondenz erklären

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am 7. januar 1811 übermittelt der bei Zimmers wohnende August Mayer seinem bruder Karl 'Verse, die der arme Hölderlin, der auch einen Almanach herausgeben' will, ihm zum 'Durchlesen gegeben'; die letzte dieser abschriften geistert dann als 'Hölderlins letztes Gedicht' durch Deutschland

Das Angenehme dieser Welt hab ich genossen,
Die Jugendstunden sind, wie lang! wie lang! verflossen,
April und Mai und Julius sind ferne,
Ich bin nichts mehr, ich lebe nicht mehr gerne!

nur die 'Tage der Liebe' sind, dem wortlaut nach, noch nahe; klage um die verlorene zeit – doch ohne jenen vergeblichen rückruf, den ein anderer dort unten in das glas verschwundener fenster gegraben hatte