stimmendiagramm zu wolfgang von schweinitz, patmos











     stimmendiagramm (ueberlagerungen)
     zu szene IV/1 'mulier et draco' - off XII

 

JOHANNES AUF PATMOS

I
Im 'angelus novus' Paul Klees erkannte Walter Benjamin den Engel der Geschichte, in dessen Flügeln sich ein Sturm vom Paradies her verfangen hat, der ihn von diesem wegtreibt. Unverwandt rückwärtsblickend hat er die Heimat vor Augen, aus der er verstoßen ist, und das Trümmerfeld der inzwischen durchmessenen Zeit. Er ist nicht allein, ihm müssen andere korrespondieren. Solche, denen die vorbeifliegenden Ansicht zu beiden Seiten auf entgegengesetzte Weise gegenwärtig ist, und schließlich auch ein 'angelus antiquus', der im Ausgang steht und, über die Ruinen der Geschichte hin, ihr Ende, den anderen Eingang vor Augen hat.

II
In den Zeichen und Stimmen, die 'Johannes auf Patmos' sieht und hört, sind auch jene beiden zu erkennen: als intelligible Figur einer endlichen Geschichte, die weder wißbar noch planbar ist. Ihr Erscheinen wiederspricht geradezu dem inferioren Wissen, dem Mythos einer begriffenen Realgeschichte, ebenso wie der Hoffnungslosigkeit, die das Zukünftige ins Niemandsland der Utopie projiziert.

III
Jener immanente Widerspruch entzog dieses letzte prophetische Buch dem Mißbrauch durch dogmatische und skeptische Vernunftsformen. Sein eigener Geist entrückte es in die Wüste des Unzugänglichen, des anscheinend Obskuren. Im selben Augenblick erkannte Hölderlin Patmos als 'Insel des Lichts'. Sein Gesang trat auf die Seite des Geistes, den die Welt vernachlässigt, nun vollends tabuisiert hatte.

IV
Die Oper folgt diesem Beispiel. Indem sie das allseits gemiedene Wort in die Realität zurückholt, sie ist Teil jener 'höheren Aufklärung', die derselbe Dichter im Angesicht der verfinsterten Aufklärung postulierte. Daß hierzu jene Mittel nicht brauchbar sind, derer sich abgelebte Herrschaftsformen zu ihrer Erhaltung bedienen, sondern gerade solche, die bislang in kulturellen Nischen geduldet und mißbraucht wurden, Mittel also, die bislang als untauglich galten, gehört zur Dialektik der Aufklärung.

V
Der unerhörte Text selbst bestimmt und verändert die Mittel der Oper. Er steht nicht zur Disposition, wie andere zur Wahl stehende Stoffe, sondern disponiert die Form seiner Darstellung. Als 'vester Buchstab' ist er, seinem eigenen Gesetz nach, unveränderlich. Er verwandelt sich in Musik, so wie er da ist. In gleicher Weise beschränkt sich die szenische Darstellung, die das Unerhörte, das Niegesehene der Visionen und Auditionen nicht theatralisch kolportieren darf. Ihre Gegenstand ist nicht das Gesicht des Sehers, sondern er selbst. Dies wenig Scheinende ist schon genug. Stellvertretend für alle erfährt 'Johannes' die Leiden und Entzückungen des Ganzen. Seine Stimme ist das subjektiv-expressive Echo des objektiven Sturms.

VI
'Patmos' bezeichnet die Situation des Exils schlechthin. Den Ort des Ausgesetzseins. Das Extrem der äußersten Vereinzelung. Ein Einzelner in seiner Isolation erscheint als Zeuge, als Membran des Ganzen. Weil er, als bloßes Objekt des Offenbarenden regungslos bliebe (so Hölderlin 1798 an Isaak von Sinclair), notwendigerweise in zweifacher Gestalt. Einmal als das vom Überweltlichen überwältigte Subjekt, nach seinem eigenen Wort 'im Geist', zum anderen als bewußtes Subjekt, das festhält, was ihm geschieht.

VII
Die Stimmen des Ganzen, repräsentiert von den übrigen Sängern und Instrumentalisten, umgeben jene Insel als spirituelle Realität, betreten sie zum Zeichen, daß diese nicht weniger wirklich sei. Sie sind auf diese Weise Teil der Handlung, die eben im vielstimmigen, erschütternden Dialog des Ganzen mit dem Einzelnen besteht. Das Buch, das nichts als jene Zwiesprache enthält, war deswgen auch immer schon Libretto und mußte nur als solches erkannt werden.