

heinz
holliger, scardanelli-zyklus
ecm
new series 1992
cd-cover:
scardanelli, beiheft: milchstrasze
gestaltung
moritz und d e sattler
HÖLDERLIN :
SCARDANELLI
1806-1843
Chronologisch-integrale Edition herausgegeben von D. E. Sattler
19 EINLEITENDE SÄTZE
Hölderlin : Scardanelli.
Je nach dem, wie das Ohr ihn hört, klirrt es im Gegenklang
des erfundenen Namens wie Eis, wie zerbrechendes Glas, wie spöttisch
zerrissene Ketten.
Wird hörbar an jener stelle des quasi al rovescio rückwärts
gehenden Lebens, an welcher das Kind vormals den Namen des Vaters
stammeln lernte, 123 Wochen vor seinem Tod, in zornig gesperrter
Schrift, als ein Besucher es wagt, ihn an den zugelosten, wie
einen Mantel abgelegten Namen zu erinnern.
So auch legten sie unwissend ihre Kleider unter die Füße
des Füllens oder der lastbaren Eselin.
Mit dem Ich der Gedichte, das sich noch einmal ruhig betrachtete,
bevor es von sich zu schweigen begann, verschwand auch die Kunstanstreungung
um die rußende Fackel des Ruhms, und an den Ufern des Ge-maches,
im Bild der Bäume zeigte sich das gegenwärtige Dasein
des Geistes als Ge-ist.
Dies aber diskreterweise so, daß jene Umkehr zu reiner
Rezeptivität, die stillere Wiederholung des Werks von dem
an sich selbst geschmiedeten, an die Lautstärke seiner Behauptungen
gewöhnten Bewußtsein, nach dem Maß seiner Indolenz,
nicht anders als negativ gedeutet werden konnte.
Zuletzt schlichtet ein Blick aus dem Fenster den Widerstreit
zwischen Vernunft und Offenbarung: 'Das Glänzen der Natur
ist höheres Erscheinen.'
Dieser symmetrischen Zeitgestalt wegen, und weil aus dem Wald
der Wahrheit kein anderes Echo schallen dar, als das der fragenden
Stimme, scheint mir eine Ausgabe nötig zu sein, in der dieses
besondere Werk im Zusammenhang aller Lebensäußerungen
und -zeugnisse befragt werden kann.
Deswegen entsteht neben der 1995 abgeschlossenen 'Frankfurter
Ausgabe' eine 'Bremer Ausgabe', die mit jener fertiggestellt,
von der aber hier schon, in der limitierten Auflage dieser ECM-Produktion,
eine chronologisch-integrale Edition des Materials der Jahre
1806-1843 vorgelegt wird.
Während den Lesern der historisch-kritischen Ausgabe das
Faksimile der Schrift zur Hilfe kommt, ist es hier die Konstellation
des Materials, die ein kommentarloses Verstehen ermöglichen
könnte.
Das dichterische Werk in seiner stufenweisen Entstehung, die
Briefe, die der Dichter schrieb und erhielt, die zeitgenössischen
Dokumente und Berichte werden nicht mehr nach 'Textarten' getrennt
dargeboten, sondern in ihrem unauflöslichen Zusammenhang,
in ihrer zeitlichen Folge.
Im Zeitstrom dieses ablesbar gewordenen Lebens bedürfe es
der entmündigen, der anmaßenden 'Erläuterungen'
nicht mehr.
Was nötig ist, leisten die Differenzierungen der Typographie
(Schrift des Dichters: Univers bold 8 p; die an ihn gerichteten
Briefe: Univers medium 8 p; alle übrigen Dokumente: Univers
medium 7 p: Bemerkungen des Herausgebers: Univers light 7 p).
Daß die Typographie mit ihren quantitativen Mitten das
Erschütternde sichtbar macht, die 'unermeßliche Kluft'
zwischen ihm und der Scheinwelt der Menschen als qualitative
Differenz, ist ihre hiermit eingestandene Tendenz.
Selbst aus dem abgründig Förmlichen der zwischen 1812
und 1830 geschriebenen Briefe quillt Sinn.
Dagegen die Mühle des Konventionellen: das Schaufelrad des
Geredes.
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