persoenlicher
bericht
IV
1975
16. februar, besuch in frankfurt; kd wolff schenkt uns sinnigerweise
den 'geklauten raubdruck' von georg groddecks 'buch vom es';
ich fertige auf dem verlags-composer satzproben nach der ersten,
mit den kugelkoepfen meiner ibm-schreibmaschine hergestellten
druckvorlage; als einbandfarbe erbitte ich ein staerkeres gruen
als das gelbliche der bisherigen verlagsproduktionen und zeige
auf das schweinfurter gruen eines baendchens der regenbogenfarbenen
'edition suhrkamp', bestimme das den alten foliopapieren entsprechende
format im verhaeltnis 19:30 und liefere den dann auch im frankierstempel
des verlags verwendeten titelentwurf in klassizistischer antiqua;
michel leiner uebernimmt die herstellung der montagebogen, kd
wolff, auf dem verlagseigenen composer, den satz der druckvorlage;
22. juni, suzette gontard-borckensteins, diotimas todestag;
fuer mich untrennbar verbunden mit dem ausruf hyperions 'heute
soll das Göttliche siegen! Engel des Himmels!' (1, brief
XXVII); die gemeinsam redigierten, auf diesen tag datierten schluszzeilen
des vorworts werden mit 'michel leiner, d. e. sattler, kd wolff'
unterzeichnet; sie lauten: 'hoelderlins spaete notiz 'Die apriorität
des Individuellen / über das Ganze' umreiszt einen revolutionaeren
zusammenhang: das individuelle spiegelt nicht nur das ganze,
es behauptet seine autonomie gegen den herrschaftsanspruch des
allgemeinen. das heilige mit all seinen namen, das hoelderlins
gesang dem miszbrauch entwindet, steht fuer jene freiheit. die
schwierigkeit, die hoelderlins texte dem verstaendnis entgegensetzen,
entspricht der schwierigkeit, zwang und normen abzuwerfen. die
muehe, hoelderlin zu verstehen, gleicht darum jener, die keiner
schon hinter sich hat.'; im am schlusz stehenden editionsplan
weden die gesaenge als band 11/12 angekuendigt; darunter die
notiz 'die frankfurter ausgabe soll innerhalb von fuenf jahren
erscheinen; die numerische reihenfolge der baende wird dabei
nicht eingehalten.'; im juli druck des einleitungsbands bei pustet
in regensburg; auf dem deckblatt: 'am beispiel der spaeten entwuerfe
/ Das Nächste Beste, Der Adler / Mnemosyne, apriorität
des / Individuellen und Kolomb wird / die notwendigkeit einer
neuen / historisch-kritischen ausgabe / begruendet und zugleich
deren / editionsmethode dargestellt
'; auf der rueckseite:
'Ihr Blüthen von Deutschland, o mein Herz wird / Untrügbarer
Krystall an dem / Das Licht sich prüfet'; anfang august
an holle ganzer: 'der einleitungsband ist fertig, nur, ich habe
ihn noch nicht gesehen, erhalte ihn wahrscheinlich morgen. die
pressekonferenz ist am mittwoch, 6. aug., 11 uhr, im frankfurter
hof in frankfurt. das alles kommt mir so fremd vor, als haette
ich gar nichts damit zu tun
nein, ohne ressentiment, die
zusammenarbeit mit der gesellschaft, wichtiger noch, mit dem
hoelderlin-archiv, ist fuer die sache selbst so wichtig, dasz
der verlag und auch ich den kontakt suchen werden. die entscheidung,
ob die gesellschaft das neue projekt unterstuetzen will oder
bekaempfen, soll ganz der anderen seite ueberlassen bleiben.
nach den hochmuetigen aeuszerungen, die bisher laut wurden, wird
man jedoch zunaechst nach der achillesverse suchen, denn die
provokation ist doch gar zu stark. ach, mir ist so weh. 'spizbübisch
schnakisch Lächeln
' [wenn dem Menschen / seine kühnsten
Hofnungen / erfüllt werden (homburger folioheft p 71)];
das gilt auch mir.'; 6. august, vom verlag mustergueltig
vorbereitete praesentation an der stelle des gontardschen hauses
am hirschgraben; anwesend auch der herausgeber adolf beck und
wilhelm hoffmann, mitinitiator der stuttgarter ausgabe und direktor
der wuerttembergischen landesbibliothek; eingeladen wurde mit
der abbildung von p 75 des foliohefts, dessen faksimilierung
im ganzen die stadt bad homburg vor der hoehe gestattet hatte;
im zentrum dieser seite die begeisternde, in magischer weise
gegewaertiges und kuenftiges disponierende, in der stuttgarter
ausgabe teils als 'text', teils unter 'bruchstuecke', teils in
den 'lesarten' wiedergegebene, ueberdies an mehreren stellen
fehlerhaft entzifferte passage 'Bald aber wird, wie ein Hund,
umgehn / In der Hizze meine Stimme auf den Gassen der Garten
/ In den wohnen Menschen / In Frankreich. Indessen aber an meinem
Schatten / Richt' ich und Spiegel die Zinne / Meinem Fürsten
/ Die Hüfte unter dem Stern und kehr' in Hahnenschrei /
Den Augenblik des Triumphs. / Frankfurt aber, neues zu sagen
nach der Gestalt, die / Abdruk ist der Natur, / Des Menschen
nemlich, ist der Nabel / Dieser Erde
'; zum echo der pressekonferenz
siehe rezensionen
und publikationen zur editionsarbeit 1975-1979; am 8. august
schreibt holle ganzer: 'ich moechte Ihnen immer schreiben, bin,
seit Ihrem ersten brief, in einem zustand voellig anders als
das sonst angewoehnte, benommenheit, glueck, enthobensein, ich
weisz es nicht, und weisz, wenn ich Ihnen schreibe, dasz nichts
so wird, wie ich es sagen moechte oder wie es realitaet fuer
mich hat. jetzt, heute am freitag, schiebt sich das offizielle
bild dazwischen, nicht dasz es mir Sie verdunkelte, aber das
vertrauen, das Sie mir geben, noch unfaszlicher vorkommen laeszt.
mit Ihrer widmung haben Sie mich ins herz getroffen. danken will
ich nicht, was waere dafuer dank; wer an einen stern gebunden
ist, kehrt nicht um; es ist aber gut, wenn ein anderer einen
im licht des sterns sieht und aus ihm begreift. vielleicht hat
es mich veraendert, vielleicht in den ernst zurueckgebracht,
den man doch immer uebertuencht. / in eine sogewollte fachdiskussion
ueber den einleitungsband lassen Sie mich aber nicht eintreten.
wenn ich weiter von mir sprechen darf - ich erlebe an diesem
band ein glueck, das es sonst nur in der musik gibt, die unbestechlichkeit
einer unbedingten werktreue, die nicht verfuegt, sondern realisiert,
mithin in das eigenrecht einsetzt. mit Ihrer ausgabe ist das
gelungen, was hoelderlin fordert: nicht gelesen, sondern gesehen
zu werden, mit einfaeltigen augen. es mag sein, dasz mit der
ausgabe die epoche der hoelderlin-deutung verabschiedet wird
und ein erstes hoelderlin-verstaendnis moeglich wird. von daher
ist auch die entscheidung des verlags die einzig richtige, diese
sache konnte auf dem akademisch verunkrauteten boden nicht wurzeln,
sie setzt ja doch, und gerade da, wo Sie sich in die tradition
zurueckbinden, einen neubeginn, den entwurf, den jeder nach dem
masz des anspruchs, dem er sich zu unterwerfen bereit ist, erst
einholen musz. betroffen macht die harte diktion Ihrer sprache,
die satz fuer satz das entscheidende trifft. in den fuenf seiten
der 'biographischen uebersicht' ist in dem faktischen die totalitaet
begriffen. hoelderlin einzig angemessen die verachtung aller
verbindlichkeit.'; holle ganzer starb 1984 in dortmund; 1983
besuchten wir sie in heidelberg und sie kam noch einmal zu uns
nach bremen