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Hölderlin zwischen Mythos und Utopie

I
'Hölderlin zwischen Mythos und Utopie.' Also zwischen den Stühlen von zwei Begriffen, über die sich nichts Genaues sagen läßt.

II
Er selbst hat sie nicht gebraucht. In einem Lexikon seiner Zeit wird beim Stichwort 'Utopia' auf 'Schlaraffenland' verwiesen und statt vom 'Mythos' spricht Hölderlins stets von der 'Mythe', als hätte ihn eine Vorsicht vor Etwas gewarnt, das als 'Mythos des 20. Jahrhunderts' den Faschismus legitimiert hat. Rosenberg, der Autor dieser Schrift, wurde 1946 hingerichtet.

III
Hier ist offenbar etwa Harmloseres gemeint. Mythos, nicht als die furchtbare Überhöhung des Wirklichen, die alles, auch noch die Selbstvernichtung, zuläßt, sondern nur als der unglaubwürdige Schatten des Wunderbaren. Ein Relikt, das dem naturwissenschaftlichen Weltbild nicht mehr entspreche.

IV
Ähnliches gilt für die Utopie; wenigstens für jene von Friedrich Engels kritisierten Sozialutopien, die erschienen, als Hölderlin in der Stille des Turms verschwunden war. Analog zur Theorie Darwins stellt Engels der Marxschen Lehre eine kürzere Stammesgeschichte voran: 'Die Entwicklung des Sozialismus von der Utopie zur Wissenschaft'. Die früheren Gesellschaftsentwürfe verhalten sich zum nun gefundenen – gegen das Axiom vom Progreß endgültig gemeinten – System wie die Naturmythen zu ihrer wissenschaftlichen Erklärung.

V
Sind aber Mythos und Utopie zurückgelassene Begriffe, wäre ein Werk, das zwischen veralteten Anschauungsweisen angesiedelt sein soll, nur noch von literaturhistorischem Interesse …

XVIII
Vor einigen Jahren versammelten sich einige Gelehrte, um über einen 'Hölderlin ohne Mythos' zu diskutieren. Dabei fiel der Satz: 'Wenn Hölderlin noch ein Anrecht auf unsre rationale und demokratisch normierte Aufmerksamkeit haben soll, leitet es sich von seinem politischen Engagement und seinem politischen Wort her.' Der Redner ist weiser geworden. Aber er stand nicht allein und was für ihn historisch wurde, hat sich inzwischen verselbständigt und multipliziert.

XIX
Spätestens hier fällt auf, daß utopisch und inhuman nach gleichem Muster geformt sind. Jener Satz könnte in den Rahmenrichtlinien 'Deutsch' stehen, wie sie von Kultusbehörden beider Staaten angeordnet und überwacht werden. Inmitten eines libertären Systems indiziert er die menschlichere Rede als apolitischen Überstand (der im Bewußtsein des stattgehabten Fortschritts als rückständig empfunden wird). Wäre er gemeint, wie er klingt, blieben uns von Hölderlin nur einige politische, wie stets, falsch interpretierbare Stellen …

XXXVI
Statt Staatsformen 'Menschenformen'. Darum geht es: nicht um ein utopisches Nirgendwo und Irgendwann, sondern konkret um Bildung, die ebenso konkret des Vorbilds bedarf. Ohne sie ist das, was früher einmal 'imitatio' oder 'Nachfolge' hieß, unmöglich geworden. Im späten Entwurf zu 'Kolomb' bringt Hölderlin ein Beispiel. Halbgötter, die der Kentaur Chriron in 'einsamer Schule' erzog: 'Im zitternden Reegen der Grotte bildete sich ein Menschenbild'. Moses beginnt sein letztes Lied mit den Worten: 'meine Lehre triefe wie der Regen'.

XXXVII
Zweifellos, Chirons Beruf ist auch Hölderlins …