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Hölderlins Gegenwart
Fünfzehn kontradiktorische Thesen
von Wien an seitwärts
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Wenn Hölderlins Hinterlassenschaft, anders etwa als das
gefeierte Werk Schillers und Goethes, den Zeitgenossen und ihren
Nachkommen stumm blieb, wenn dieses Werk jetzt erst die Zeit
angehn, wenn seine Saat aufgehn soll, wo sie am nötigsten
gebraucht wird, im Ruin der zerrissenen Nation, deren Sprache
sich in ihm erst vollendete, muß sich diese erste wirkende,
gegenwärtige Aufnahme von all den früheren Rezeptionsformen
unterscheiden. Hat dieses werk zeitverändernde Qualität,
darf auch die Rede von ihm keine Konzessionen an das gegenwärtig
Herrschende, an Zeitgewohntes machen: deswegen kontradiktorische
Thesen.
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Von keinem anderen jüngeren Werk läßt sich sagen,
es sei philosophisch, poetisch und prophetisch zugleich. Philosophisch,
weil es aus persönlicher Erfahrung allgemeingültige
Konsequenzen zieht, poetisch, weil es jene entgegengesetzten
Denkformen verbindet, und prophetisch, weil der Wahrheitsgehalt
seiner Zeichen erst in der Geschichte nach ihm an den Tag kommt.
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In dieser Verbindung von Vernunft und Offenbarung, so von Hölderlin
selbst postuliert, in der Synthese dessen, was heute unvereinbar
auseinandergetreten scheint, in der dreieinigen Gegenwärtigkeit
menschlicher Vorstellungsweisen liegt die eigentliche Bedeutung
seiner dichterischen Existenz. Der Dichter ist denkendes Subjekt
und leidendes Objekt und wird in dieser singulären Verbindung
zum wissend umnachteten Medium der abendländischen Geschichte.
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Das Objektive an diesem individuellen Schicksal zeigt sich besonders
augenfällig in der nicht anders als wunderbar zu nennenden
Konstellation der drei Freunde Hegel, Hölderlin und Schelling,
die, aus einer Stube des theologischen Stifts zu Tübingen,
ins Licht einer überzeitlichen Öffentlichkeit hinaustraten,
deren Freundschaft an der Divergenz ihrer Denkwege zerbrach.
Während Hegel die Vernunft vergottete und so der philosophischen
Selbstgewißheit Offenbarungscharakter zusprach, unternahm
es der späte Schelling, die Offenbarung mit philosophischen
Mitteln, als Vernunft zu erklären. Einmal mehr nahm damit
die Philosophie die Gestalt feindlicher Kirchen an, die sich,
in ihren Verwandlungen bis heute, gegenseitig der Häresie
von der Wahrheit bezichtigen. Hölderlin steht zwischen beiden,
wie, in der Zeichenrede der alten Propheten, Israel zwischen
Ägypten und Assur.
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In der Entzweiung der philosophischen Systeme ist die gegenwärtige,
sich erdbedrohend verschärfende Entgegensetzung der Vernunftsideologien
vorgebildet: der Offenbarungsglaube an das Geld als Äquivalent
für alles auf der einen und das Vernunftsdogma vom vollkommenen
Staat als real schon herniederfahrender kristallener Stadt auf
der anderen Eigentumsmythos auf der einen und Gesellschaftsutopie
auf der anderen Seite.
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Dialektische Denksysteme, die neben sich nichts gelten lassen,
die sich gegenseitig des Systems verweisen, sind, nach dem reinen
Begriff, den Konjunktionsdialektik, als vorurteilsfreie Erkenntnis
und Auflösung des Widerstreits, von sich haben müßte,
im Ansatz undialektisch. Der Gelehrtenzank bliebe unerheblich,
wenn den widerstreitenden Gedanken nicht mit der Zeit, statt
metaphysischer Flügel, Arme und Waffen anwüchsen. Noch
die geringste Nadelabweichung in dialektischer Theorie wirkt
verheerend, sobald sie Geschichtsmacht erlangt.
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Wie kein Übel am Symptom, sondern jedes nur von der Wurzel
her, 'von Grund aus', heilbar ist, so auch die seit Hegel sanktionierte
Oppositionsdialektik, deren 'Feindseeligkeitsrecht' inzwischen
alle Phänomene des gesellschaftlichen Lebens ergriffen und
durchdrungen hat. Sie ist als fehlerhafte Reproduktion des poetischen
Denkmodells zu entziffern und mit den auf ihr beruhenden Irrlehren
des 19. Jahrhunderts zu revidieren. Diese im höheren
Sinn historisch-kritische Arbeit ist gegenwärtig zu leisten;
zur Grundlegung des alten vergessenen, vom Dichter neugestifteten
Friedens.
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Davon ist im Gesang 'Andenken' die Rede. Der eisige 'Nordost',
den Hölderlin in einem Brief des Jahres 1800 als 'moralischen
Boreas', als den 'Geist des Neides' bezeichnet hat, treibt den
Widerspruch auf die Spitze. Denen, die immer mit der Tendenz
sind, verheißt er 'gute Fahrt', den anderen, die ihm die
Stirn bieten, schärft er die Augen, verleiht ihnen 'feurigen
Geist'. Eben darum ist er ihm der 'liebste unter den Winden',
darum wird er zum Paradigma einer neuen Dialektik, die keines
Feindbilds bedarf, um von der Stelle zu rücken. Dem Dichter
ist besinnungslose Feindschaft unmöglich. Dennoch ist dem
Griff des inferior Einseitigen nach der Herrschaft, dem Versuch,
das jeweils andere wegzustoßen, zu unterwerfen, zu vernichten,
entgegenzutreten. In diesem Sinn hat Hölderlin jenes offiziell
zum Agens politischer Kultur erklärte 'Feindseeligkeitsrecht'
als barbarisch gekennzeichnet. Parteiisches Denken ist Krieg
in Gedanken. Mit dem dichterischen Denken dagegen hat die 'künftige
Revolution der Gesinnungen und Vorstellungsarten, die alles bisherige
schaamroth machen wird', schon begonnen. Sie gründet den
Frieden im Gewissen der Besten, die sehr wohl bestimmend werden
können, gegen den betrügerischen Scheinfrieden einer
real nicht existierenden Allgemeinheit, der auf Dekreten und
Klauseln gegründet ist.
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Von hier aus ist die Doktrin des permanenten Bürgerkrieges,
der Werbefeldzüge in den liberalen Parteiendemokratien,
ebenso der Unfehlbarkeitsanspruch einer zur Alleinherrschaft
gelangten Partei in totalitären Staaten, als unrepublikanisch
zu kritisieren. In beiden Herrschaftsformen hat ein undialektisches,
undichterisches, unfriedliches ein einseitig definiertes
Interesse den Vorrang vor der öffentlichen Sache,
von der sich das Republikanische herleitet, seit es in der Welt
ist.
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Wo Hölderlin vom politischen Vaterland spricht, ist stets
ein so verfaßtes gemeint. Die in zwei Weltkriegen mißbrauchte
Ode 'Der Tod fürs Vaterland' gilt in ihrer ursprünglichen,
unverfälschten Gestalt der Einrichtung einer Republik auf
deutschem Boden, die diesen Namen verdient und die einst, in
höchster Gefahr, 'wehrlos' werden würde. Friedrich
Nietzsche hat diesen Gedanken, mit deutlichem Bezug auf Hölderlin,
im 284. Stück von 'Der Wanderer und sein Schatten' ausgeführt.
Die geharnischte Germania war nicht gemeint, auch nicht die aus
der Hegelschen Drachensaat gewachsenen Bürokratien, die
Verwaltungstyrannis rechts und links einer unbetretbaren Grenze.
Daß das Land in die Hände von Intriganten fallen wlürde,
das war wahrhaftig nicht gemeint.
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Dieses am Mittelmaß und darunter orientierte Deutschland
hat die Gedanken seiner Besten wie Schutt beiseite geschoben;
Kants jetzt erst aktuellen Entwurf 'Zum ewigen Frieden' zum Beispiel,
die darin enthaltene Unterscheidung zwischen republikanischer
und demokratischer Verfassung, seine scharfsinnige Analyse der
Demokratie als Sonderform der despotischen Unrechtsherrschaft
zugunsten eines gedanken- und bedenkenlosen Pragmatismus ins
kollektiv Unbewußte verbannt. Jener Pragmatismus duldet
den Geist nur als Nippes in den eigens dafür eingerichteten
kulturellen Nischen. Daß er von seinen Voraussetzungen
zehrt, daß er immer nur bis zur völligen Auszehrung
seiner Grundlagen recht behält, ist ihm gleichgültig,
solange der Fall noch nicht eintritt. Seine Devise ist dieselbe
geblieben: Nach uns die Sintflut! Die stupide Wendung, mit der
sein Anhang vom jeweils Vorgegebenen ausgeht, ohne es je zu verlassen,
entlarvt seine Aktivitäten als ausgelieferte Reaktion. Was
unlängst ein Verblendeter herbeiführen konnte, ist
diesmal ungewollt in die Wege geleitet. Jetzt führen Blinde
die Lahmen in die Grube.
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Nicht ohne Grund wählte Hölderlin das Beispiel des
'Kolomb'. Erst sein Aufbruch, sein Wagnis, widerlegt das alte,
zweifelhaft gewordene, doch immer noch herrschende Weltbild.
Erst wenn die bis dahin für irreal gehaltene Neue Welt am
Horizont erscheint, werden die bis dahin realistisch scheinenden
Behauptungen falsch, wird das Bewußtsein, das sie mit wissenschaftlicher
Sicherheit vortrug, irreal. Seine Überfahrt ist, wie der
Auszug der Isrealiten in die Wüste, das Modell einer notwendigen,
rettenden Veränderung. Nur so ist die Mechanik der Zeitwende
zu zeigen und begreiflich zu machen. Im Murren der Mannschaft
und auf die altkluge Skepsis des Schiffers antwortet der 'Seeheld
beiseit': 'Hypostasierung des vorigen orbis / Naivität der
Wissenschaft.'
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Kein Wunder, daß die wissenschaftlichen Vereinnahmungsversuche
an sich selbst und am Gesang scheitern. Sein Frohlocken über
das in Zeichen sichtbare Wirken des Geistes, sein dankbares Unterscheiden
des als einig angeschauten Seins, seine beispiellos radikale
Kritik am wahnhaft Falschen entgeht im voraus jenem furchtbaren
Irrtum, dem, in der Gestalt des Wissens, die Welt zur Schädelstätte,
zum Objekt rücksichtslosester Ausbeutung, zum Gegenstand
angedrohter Vernichtung geworden ist.
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Seit die Aufklärung sich selbst zum Dogma wurde, sind die
Universitäten Ort des Obskuren. Hölderlin erlebte diesen
Augenblick des Triumphs als Verrat am aufklärerischen Geist
und sprach lange bevor der Mut, der Scharfblick, die humane
Duldsamkeit eines Lessing etwa zum engstirnigen Gelehrtentyp
der jetzt zu ende gehenden Spätaufklaerung verkommen war
vom freigelassenen 'Nachtgeist' und der notwendigkeit
einer 'höheren Aufklärung'. Sein Einspruch gilt keineswegs
dem Wissenschaftlichen als Denkform, sondern seinem hybrid-titanischen
Ausschließlichkeitsanspruch, der die Grenze des Wißbaren
überschreitet, dessen Exponenten reale und intellektuelle
Verwüstung aussäen, als Beamtete und im Auftrag des
Systems, dessen Koordinaten sie nicht verlassen können
nicht anders als SS-Generäle und ihre Schergen.
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Solange die Wahnsinnigen den Dichter am Maß ihrer erbärmlichen
und in dieser Erbärmlichkeit gefährlichen Normalität
messen, solange sich ihre nichtswürdige Neugier an einer
Biographie ergötzt, die durch und durch Metapher, prophetische
Figur ist, solange ist das Abgründigste noch nicht durchlitten,
ist Mitternacht noch nicht vorbei. Am Abend einer anderen Geschichte
kamen Fremde in eine Stadt von Vergewaltigern. Dies Furchtbare
vor Augen, ist falsches Interesse gefährlicher als gar keins.
Die ungelehrten unter Hölderlins Lesern scheuen das, aus
untrüglichem Gefühl. Wir anderen, fast versunken in
jener Flut von Gemeinheit, kennen das Urteil nicht und schwanken
zwischen Entsetzen und Hoffnung.
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