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gegenweltliches manifest
1971/72, durchgesehen mai 2002


N. Th.

DAS GEGENWELTLICHE MANIFEST




1
am gläsernen meer


2
wohin gleitet das? umstellt so trunken; auch zorn gilt nicht mehr


3
verneint alle meinungen


4
die welt sei alles was der fall ist sagt Wittgenstein; laßt sie fallen


5
der wissenschaftler ist ein tier; nur methodischer; der politiker ist ein tier; nur gerissener; der geschäftemacher ist ein tier; nur gieriger; der priester ist ein tier; usw


6
wir verneinen alle erörterungen der wirklichkeit weil wir ihnen mangel an distanz vorwerfen


7
denken verneint; wir sind gezwungen zu tun; das abscheuliche werden wir unterlassen das übrige tun
weil wir es müssen; ohne uns auf das gelingen etwas einzubilden ohne über mißlingen zu verzagen;
in der freiheit gegenweltlichen bewußtseins werden wir was wir wirklich sind bedingt durch die welt nun unbedingt


8
die welt bietet keine alternativen; die entscheidungen die sie fordert sind scheinentscheidungen und diese von vornherein falsch


9
wir glauben an die dichterische, das heißt die faktische macht und die unsterblichkeit des geistes


10
denken ist irgendetwas wenn nichts mehr gilt und die welt gesetzt ist


11
alles ist zweifach; dasselbe kann geheiligt oder verworfen sein


12
H: Innen aus verschiedenem entsteht ein ernster geist


13
wahrheit wird zu in der welt zu irgendetwas mißbraucht; sie ist in wahrheit gegenweltlich; wer sie sucht wendet sich kategorisch ab von dem was im weltlauf als wahrheit gilt


14
sätze über die wahrheit sagen nicht was sie ist; aber sie lügen auch nicht wie jene die sie
vorgeblich aussprechen; sie zeigen das falsche als anmaßung des wahren indem sie eine ganz andere wahrheit setzen; daß eine andere wahrheit sei kann mit den rechtfertigungmitteln
der falschen wahrheiten nicht bewiesen werden; für den anfang genügt es sie ernsthaft in betracht zu ziehen


15
wahrheit und folgerichtigkeit sind nicht dasselbe; die wahrheit muß geglaubt werden; sie zu begründen oder andere zu ihr zu überreden ist unmöglich; wo versuche dieserart gelingen ist das gegenteil erreicht; die unmittelbarkeit der entscheidung zerredet


16
diese sätze zeigen den gegensatz von wahr und falsch und sprechen von der objektiv notwendigen und subjektiv getroffenen entscheidung für das bessere von beiden


17
das Y ist die figur der entscheidung; es zeigt den weg bis zum scheidepunkt und den beginn von welt- und gegenweltlicher entzweiung


18
wer darüber sinnt entfremdet sich der welt die alles außer sich ausschließt und wird die partei des ausgeschlossenen andern ergreifen; aus der distanz seiner jetzt gegenweltlichen position
erkennt er das dasein als zusammenhang von welt und gegenwelt; aller übrige streit ist ihm
einerlei und gleichgültg; er hat sich entschieden und ist dem zwist der scheinentscheidungen enthoben


19
das seyn ist drei; eins allein wäre jeweils nur die eine von zwei seiten; das verbindende dritte ist der versöhnende geist der das verleugnete andere gegen die anmaßung des einen in schutz nimmt


20
im übrigen entzündet sich der zwist auf seiten der welt deren herrschafts- und wahrheitsansprüche vom gegenweltlichen geist bestritten werden; weil dem bloßen dünkel einsicht gegentritt, steht der ausgang des streits von anfang an fest; der zeitlich unendliche vorgang ist sichtbar in der spiegelung der ,littera Pythagorae':


21
bild des menschen der sich entschieden hat in sich das sichtbare eine mit dem anwesend anderen zu versöhnen


22
paranoiker beschreiben das eigene leiden; aber die klage betrifft die gespaltene welt; es ist nichts zu beklagen als die abgeschiedenheit durch entfernung und grenzen; ihr schmerz ist dreifach: vertrieben von Zion oder anderen lieblichen gefilden verlust der geliebten und der unterschied zwischen der eigenen gestalt und dem bild des menschen; sie leiden weil sie zur freude geschaffen sind; ohne entbehrung keine lust


23
weicht ihr trauergeister denn mein freudenmeister Jhesus tritt herein; höchster mensch jetzt ganz und gar diaphan


24
so wichtig wie denken ist gedachtes behalten; nachdenken; schweigende evokation der wahrheit;
imperativ der einzelnen wörter; sätze überflüssiges gold


25
leben erkennen und lieben aus gegenweltlicher distanz


26
Archimedes würde die welt aus den angeln heben fände er einen standpunkt außer ihr; hyperbel von kaum unüberbietbarer kühnheit; wie die rede vom abriß und aufbau des tempels; in geistiger mechanik sagt der satz: veränderung ist nur von außen möglich; entweder ist die position des denkenden gegenweltlich oder im ansatz schon falsch


27
die last der welt aufheben; sich selbst im gleichgewicht halten ist in der mechanik des denkens nur möglich durch das gegengewicht des anscheinend schwerelosen himmel; also auf beiden schultern wie der Uracher Christophorus


28
wer welt erträgt lebt in ihr uneingewöhnt ohne die gleisnerischen prospekte der kulissenschieber


29
die rätsel des sphinx zu lösen ist sache der erkenntnis; auflösung des trugs am ufer der entscheidung sache des kritischen denkens; die dritte zungenrede angesichts der zeichen


30
denken ist angewandter an dingen der welt sich erprobender glauben


31
der blick auf die uhr ist verlorene zeit


32
denken im uhrzeigersinn der welt produziert ideologische dogmen; dogmatisches denken fixiert auf ideologien; ideologien fordern scheinentscheidung; scheinentscheidungen produzieren gewalt


33
kein zweifel: solange diese windschiefe menschenwelt noch hält und trägt ist jedes gute wort in den wind geredet; der trägt es wohin er will und plötzlich wächst etwas unter felsen; inseln wachsen im weltmeer; milde breitet sich aus; das ironische lächeln darüber gefriert an den lippen


34
das unternehmen dagegen überzeugend zu wirken verlangt vollendete akrobatik; nämlich dem weltsinn zuliebe auf dem äußersten grat noch vernünftiger argumentation zu balancieren ohne in verkündigende sprechweise zu fallen; oder in den abgrund des längst abgeschmackten philosophasters; es gleicht im grunde demjenigen Pascals: mit den mitteln der aufgeklärten vernunft dem reich gottes das wort zu reden


35
die lose waren noch nicht entrollt als Hegel Hölderlin und Schelling mit jener losung Reich voneinander schieden; wenig später grenzten sie aneinander wie Egypten und Assur an Israel


36
Swedenborg entzifferte die chiffre Egypten als den götzen weltlicher wissenschaft und Assur als weltlicher götzenkirche; Israel als gegenbild des immer noch selbstgewiß ringenden irrsals


37
wie sollen sätze bestehen die auf szientifische oder ästhetische armierung verzichten?


38
gehobene literatur mißt sich am abstand zur zu minderwertigen; die gewiß auch qualitative
differenz zwischen dem unverhohlen trivialen, dem journalistischen zungenschlag, der bürokratisch, geschäftlich oder szientifisch gestanzten sklavensprache, den propagandistischen anmutungen zu den um niveau bemühten schreibereien impliziert einen falschen himmel und eine falsche hölle wobei die lage derer die sich zu den himmelsbewohnern rechnen moralisch besonders hautgout ist


39
gegenweltliche sätze so abzufassen daß sie von anders konditionierten nicht mißverstanden oder gar gebilligt werden könnten ist vergeblich; prägnanteste begrifflichkeit reichlichster gebrauch des konjunktivs und einschränkungen aller art können den von ihrer freiheit überzeugten knechtsnaturen nicht zugänglicher stimmen; wo der mühsam aufrecht erhaltene status verletzt wird, fallen die masken und hört die verstellung auf; diese sätze sind nicht bestimmt für die notorischen betrüger; was sie ins licht des denkens stellen wird ja von denen die im dunkeln agieren sorgfältig verborgen gehalten; kein konkordat mit heuchlern lügnern und mördern


40
her mit euch zur speichelprobe und fettigem fingerabdruck


41
schon mit der bereitschaft in der boulevardkomödie welt eine rolle zu spielen haben sie sich aufgegeben und noch im schmierigsten zustand der angepaßtheit und applaus entgegennehmend wähnen die verräter unter ihnen sich im widerstand


42
ihr kulturbetrieb erfüllt seine funktion wie die religion zur zeit der römischen soldatenkaiser; narkotisierende kulte wie seuchen eingeschleppt; vermischt mit sozialhygienischer aufklärung; jedem das seine; circus ür den armen poebel; niedre weihen und ehrenämter für den reichen und weil sich das eingespielt hat mit wechselnden nummern wurde der kulturbetrieb an sich zur glaubenssache und die kritik an ihm zu ketzerei


43
scharfsichtig für die atavismen und dekadenzen der tausendjährigen reiche und blind für die analogien im gegenwärtigen spektakel


44
nach jeder kehre und der wiederholung des geschichtlich schlimmen wächst im inneren der völker und jedes einzelnen die nur durch immer stärkere sedative dämpfbare verzweiflung über die phänotypische unbelehrbarkeit mit der sich die gattung jedeweden ausweg verlegt; dies umsomehr als wir nicht glauben dürfen daß wir unbelehrbar sind


45
wir kennen das gute und trösten uns mit dem schlechteren


46
zum falschen trost gehört der moralisierende blick zurück; das alle unschuld zerreißende urteil über gestrige greuel; die frechen versprechungen; die miene und die gebärden mit denen gegenwärtige verführer oder täter öffentlich ihre hände in unschuld waschen


47
nichts hindert uns das zu sehen als das zeitgenössische in uns das uns zu mitläufern und unser schuldgefühl das uns unzugänglich macht für eindringliche reden wie diese


48
unverbraucht dagegen die sprache der mythen und metaphern


49
zum beispiel das gleichnis vom ölbaum feigenbaum und weinstock die ihre herrschaft schließlich dem dornbusch überlassen; das der überlebende des brudermords vom fels Garizim zu den parteigängern von Sichem hinüberschrie als sie den mörder seiner brüder zum könig wählten
(richter 9,7-15)


50
wer kann entziehe sich den partei- volks- oder zeitgenössischen präfigurationen; windschief verdummend unfriedlich; die selbstgerechte ansicht die andere seite neige zu unrecht ist wurzel aller verblendung; was sich zusammenrottet um seine begehrlichkeiten und seine ängste zu bündeln ist der struktur nach immer gleich faschistisch; die bindenden oder ausgrenzenden parolen unterscheiden sich nur in tonfall und stil; ihr inhalt ist austauschbar wie die axt der gewalt welche das bündel verbirgt


51
dem nach außen tretenden widerstreit der faschistoiden interessen korrespondiert das phänomen der gleichschaltung innerhalb des ideologisierten verbunds; der außen angerichtete schaden ist in dfer regel materieller natur; nach Hölderlins unterscheidung in den Anmerkungen zur Antigonä eher tödtlichfactisch weil diese in gegensetzungen fortschreitende form des tragischen wahnsinns wirklich tötet; jener innere durch gleichschaltung bewirkte ist eher tödtendfactisch, indem es nicht die leiber sondern die ergreift und mit der urteilskraft auch das gewissen auslöscht; dergestalt daß der schaden auf seiten der täter unendlicher ist als das reale leiden auf seiten der opfer


52
wenn das die resultate der herrschenden vernunft und ihrer angeblich vernünftigen ziele sind; politisch geschäftlich militärisch kirchlich; muß die rangordnung der werte falsch sein in der sie unter abendländischer aegide die erste stelle einnimmt