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Clavis Hoelderliniana

21  Hymnische Diktion

Neben der durchweg hyperbolischen Ausdrucksweise, die vom Einzelnen aufs Ganze und umgekehrt schließt, ist für Hölderlins späten hymnischen Stil die Häufung und die Kühnheit von Inversionen und Ellipsen charakteristisch. Während jedoch Hyperbeln ohne Umstände auch in der Umgangssprache anwendbar sind, liegen syntaktische Aussparungen und Umkehrungen außerhalb normalsprachlicher Möglichkeiten, existieren dort allenfalls als formelhafte Redewendungen, deren Abweichung vom Normalen gar nicht mehr hörbar ist. Die Notwendigkeit hymnischer Inversion zeigt sich an Sätzen wie: 'Gott an hat ein Gewand.' (1) In normaler Fügung wäre das Blasphemie. An anderen Stellen bewirken Inversionen Doppeldeutigkeit und Mißverständnisse. Der Entwurf DIE TITANEN beginnt mit einer solchen eher harmlosen Umstellung: 'Nicht ist es aber die Zeit. Noch sind sie unangebunden.' (2) Dies schließt unmittelbar an den letzten Satz des Gesangs AN DIE MADONNA – 'wenn nemlich wie Raub Titanenfürsten die Gaaben der Mutter greifen, hilft ein Höherer ihr.' (3) Diese Zeit ist aber noch nicht da. Sie sind immer noch frei und nicht angekettet. Um das unverbindlichere Mythologem der griechischen Theogenie vor der jüdisch-christlichen zu retten, liest man bis heute: Weder ist es die Zeit, noch sind sie unabgebunden. Die Titanen schmachten also noch im äußersten Hesperien und werden erst unangebunden sein, wenn die Zwischenzeit zu Ende ist. Noch krasser äußert sich die Ellipsenfeindschaft der Normalsprache. Im Entwurf DAS NÄCHSTE BESTE werden zwei deutliche Streichungen wieder aufgehoben, um den Satz zu komplettieren. Statt: 'auf Gasgone, Orten, wo viel Gärten,' (4) – 'auf Gasgone, Orten, wo viel Gärten sind…' (5), statt nach dem überhaupt nicht gelesenen Satz 'Der Rosse Leib war der Geist.' (6): 'Bei Ilion aber das Licht der Adler' – 'Bei Ilion aber war auch das Licht der Adler' (obwohl dieses 'war auch' ungewöhnlich nachdrücklich durchstrichen ist). In MNEMOSYNE wird eine Ellipse durch Interpretation entschärft. Die erste Strophe nennt heroisch sprechend die Furchtbarkeit des Wirklichen, das unrecht zu gehen scheint. In der ersten Fassung endet diese Periode mit dem Satz: 'Lang ist die Zeit, es ereignet sich aber das Wahre.' Der naive Mittelteil respondiert mit der Frage: 'Wie aber Liebes?' (7) Wie ist im Ungestalten das Liebe möglich? Trotz fehlenden Beistrichs hinter 'aber' wird die Anrufung eines entpersönlichten Gegenübers konstruiert. Beispiele, die zu vermehren wären. Dies alles nur dem Herausgeber anzulasten, wäre gar zu billig. Die Hölderlin-Philologie arbeitet seit mehr als zwanzig Jahren mit diesem Text und niemand widerspricht.

(1) GRIECHENLAND 3. Fass.; St.A. 2,1 S. 257
(2) St.A. 2,1 S. 217 u. 2,2 S. 851
(3) St.A. 2,1 S. 216
(4) Homburger Folioheft p. 73
(5) St.A. 2,1 S. 237
(6) cf. 6, Anm. 4
(7) St.A. 2,1 S. 195 u. 2,2 S. 827