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Clavis Hoelderliniana

7  Kunst: Kolportage

Zweifellos hing auch Hölderlin eine Zeitlang der Illusion an, das spekulative Gleichgewicht zwischen 'Nüchternheit' und 'Begeisterung' (1) könne vom Dichter ausbalanciert werden, doch kam dieser Optimismus spätestens im Herbst 1799 ins Wanken. Im GRUND ZUM EMPEDOKLES wird schon in Frage gestellt, was in den Konzepten zu dem geplanten Journal noch als poetische Lebenshilfe inszeniert werden sollte; mit dem eigenen Schicksal gerät auch das theoretische Modell in Bewegung. Empedokles tritt im Zenith seiner Existenz vor das Volk, um 'Natur und Kunst zu versöhnen'. 'Er thut es mit Liebe und Widerwillen, legt seine Probe ab', von der ihre Schätzung abhängt, 'nun glauben sie alles vollendet. Er erkennt sie daran. Die Täuschung, als wäre er Eines mit ihnen, hört nun auf. Er zieht sich zurük, und sie erkalten gegen ihn.' (2) Im Augenblick der Meisterschaft schlägt Kunstfertigkeit um zur Kolportage. Die Versöhnung der heterogenen Elemente mitten im Leben vor aller Augen erweist sich als 'Geburt der höchsten Feindseeligkeit' (3). Empedokles verweigert seinem Publikum, was es mit unersättlicher zirzensischer Gier zu sehen wünscht: das perpetuierte Wunder. Das Stabilitätsdesiderat entpuppt sich ihm als Lebenslüge. Nach der Wende ist die Figur des Sturzes Änigma der Wahrheit. Aber auf dem Weg zum Ätna will ihm kaum einer folgen. Sie halten sich ans Vollendete und erkalten gegen den Mann, der freiwillig zum Ende geht – weil er tot ist, gegen die Überreste dieses Weges. Die editorische Schablone, das 'ideale Wachstum' abzuziehen, verhöhnt aus kalliotischen Destillen Hölderlins Postulat der 'idealischen Auflösung', die 'furchtlos' sei. (4) Daß Hölderlin diese Hauptlinie des Trauerspiels bewußt erlebte, zeigt eine zwischen Geschmeidigkeit und Spott changierende Bemerkung im Brief an den Verleger Wilmans Ende 1803, es sei 'eine Freude, sich dem Leser zu opfern, und sich mit ihm in die engen Schranken unserer noch kinderähnlichen Kultur zu begeben.' (5) Gemeint sind die letzten Odenbearbeitungen, in die er längst nicht mehr seinen 'eigentlichen Werth' (6) setzt. Deren letzte, GANYMED, ist Bild eines Stroms, der das Eis zerbricht – programmatischer Abschied von Kunst und Regel. Den erträumten Frühling erlebt er nicht, 'ferne, nicht mehr dabei'. Das Versagte erblüht in gegenweltlicher Ergänzung. 'Irr gieng er nun; denn allzugut sind Genien; himmlisch Gespräch ist sein nun.' (7)

(1) REFLEXION; St.A. 4,1 S. 233
(2) St.A. 4,1 S. 161f.
(3) St.A. 4,1 S. 153f.
(4) DAS WERDEN IM VERGEHEN; St.A. 4,1 S. 283ff.
(5) St.A. 6,1 S. 436
(6) Brief an Wilmans vom 2. April 1804; St.A. 6,1 S. 439
(7) St.A. 2,1 S. 68