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Clavis Hoelderliniana

6  Deformierender Kanon

Noch immer ist Hölderlin zuallererst Klassiker. Unter diesem Etikett leidet das sogenannt späte hymnische Werk prokrustische Gewalt. Auf Apperzeption artistischer Balanceakte getrimmt, verurteilt der gute Geschmack das Zurückweichen formaler Strukturen und das Ausbleiben rhetorischer Führung als Nachlassen dichterischer Qualität. Von KOLOMB liegen zwei Drittel des Textes im Gerümpel der Lesarten. (1) VOM ABGRUND NEMLICH, 'Krystall, an dem das Licht sich prüfet', ist jetzt nur Torso; Kopf, Arme und Beine liegen abgeschnitten zwischen den Bruchstücken. (2) Der Plan KAISER HEINRICH trägt seine Überschrift unterm Arm und beginnt mit Nachträgen. (3) Im Entwurf DAS NÄCHSTE BESTE fehlt ein ganzer Satz im Text und in den Lesarten. (4) Dies ließe sich fortsetzen. Wo Hölderlin den Kanon deformiert, wie Schönheit zu sein habe, deformiert die klassizistische Elle jene negative Form, um sie womöglich wieder dem aufgegebenen Maß anzunähern. Solche Idolatrie verwundert. Längst ist doch die klassizistische Ästhetik von ihrem Piedestal gestoßen. Schon als Goethe über Deutschlands Musen wachte, war die 'metaphysische Schönheydtslinie' zum freizügig Maßlosen hin verzerrt. Wieder erwies sich das endlich erreichte Hochplateau von Schönheit als natürlicher Wahrheit im 'verjüngten Maßstaabe' (5) als flüchtiger Schnittpunkt divergierender Tendenzen. Doch der rückgewandte Blick saugt sich an den Wohlklängen in der imaginären Mitte kulturhistorischer Entwicklungen fest. Der verklärte 'Schatte des Lieben' wird zur 'Seuche'. (6) Die Harmonien im Kreuz pervertieren nachträglich zum Opiat. Nicht weniger als das Progressionstrauma der Avantgarden verstößt die konservative Vorliebe fürs Schöne gegen den axiomatischen Imperativ ästhetischer Objektivität, der es verboten ist, um Schönheit zu lieben. Aber die Aufgabe des klassizistischen Ideals ist mit historischer Stilbewegung ebensowenig zu erklären wie mit Krankheit. Hölderlin beherrschte in der Hälfte seines Lebens, wofür es kaum ein zweites Beispiel gibt, den attizistischen und den asianischen Ausdruck.

(1) St.A. 2,2 S. 876ff.
(2) Dazu gehören, in richtiger Lesung, die Bruchstücke 81, 79, 76, 73 und einige entstellt gelesene Varianten; St.A. 2,1 S. 338f. u. 2,2 S. 886ff.
(3) BR. 48; St.A. 2,1 S. 329
(4) Homburger Folioheft p. 74 u. l.: 'Der Rosse Leib war der Geist.' Durch diesen Satz wird die jetzt anakoluthische Schlußpassage komplettiert.
(5) K. Ph. Moritz, DIE METAPHYSISCHE SCHÖNHEITSLINIE; Schriften zur Ästhetik und Poetik, Tübingen 1962, S. 155
(6) PATMOS Bruchst. d. späteren Fass.; St.A. 2,1 S. 183