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Clavis Hoelderliniana

5  Paralektischer Concors

In dem Fragment zum Programm des gescheiterten Journals wird alle 'Spekulation, die nur in den Streit' gehöre (1), ausgeschlossen. Für Hölderlin sind ideologische Überzeugtheiten Scheinentscheidungen; dem wirklichkeitsinternen Zwist steht Versöhntheit als Möglichkeit des Geistes und eschatologische Verheißung gegenüber. Gebirge teilen wie Schwerter den 'Welttheil' und die 'Tale'. (2) Den Abendländischen sind die Alpen 'als Muttermaal, weß Geistes Kind sie sein', 'zur Zierde geordnet' (3); die falsche Entschiedenheit ist angeboren. Doch gehört die Dialektik des Streits in den divinen Weltprozeß, der vom 'Übermaaß der Innigkeit' durch das extrem 'äußerster Trennung zurük' in eine neue 'Einigkeit' führt. (4) 'Dann feiern das Brautfest Menschen und Götter.' (5) Die individualisierten Teile ruhen versöhnt nebeneinander und sind sich selber Gespräch. Noch das Widerwärtigste ist Funktion des kommenden Friedens. Kürzester Ausdruck dieses paralektischen Concors sind die pansophischen Weltformeln: 'Denn alles ist gut.' (6) 'Nichts ists, das Böse.' (7) – beide entlehnt dem gewaltigen Satz im letzten Lied des Mose (8), das Israel im Gedächtnis behalten soll und das die Sänger am gläsernen Meer (9) zusammen mit einem anderen Lied singen. (10) Hölderlin spiegelt die gegenseitige Bedingtheit der widerstreitenden Tendenzen in konjugierten Doppelmetaphern, deren Dialekt vom turbierten Bewußtsein als gleichgerichtete Ornative eines Gegenstandes gelesen wird. Berühmtestes und schmählich mißverstandenes Paradigma einer solchen dialektischen Konjunktion ist der Beginn von ANDENKEN. Der Nordost ist ihm 'der liebste unter den Winden', weil er 'feurigen Geist und gute Fahrt verheißet den Schiffern' (11) – feurigen Geist jenen, die ihm die Stirn bieten, gute Fahrt denen, die Segel und Mantel stets nach dem Wind richten. Wer den 'Reichtum im Meere' sucht, partizipiert am Widrigen. Den Triumphen der Reichen korrespondiert die gegenweltliche Begeisterung jener, die allein 'zur Quelle' gehn. Betrachtung, die ihre Mehrwertspekulation auf Hölderlin überträgt, interpretiert zwangsläufig nach der zynisch sophistischen Maxime: das liebste ist, was zugleich erfreut und nützt. (12) Erfahrungen des Leids sind zu fliehen. Einmal mehr entlarvt sich Identitätsgläubigkeit als platter Utilitarismus.

(1) St.A. 4,1 S. 220
(2) DAS NÄCHSTE BESTE 3. Fass.; St.A. 2,1 S. 238
(3) TINIAN; St.A. 2,1 S. 241
(4) ÜBER DEN UNTERSCHIED DER DICHTARTEN; St.A. 4,1 S. 269f.
(5) DER RHEIN; St.A. 2,1 S. 147
(6) PATMOS 1. Fass.; St.A. 2,1 S. 167
(7) AN DIE MADONNA; St.A. 2,1 S. 213
(8) 5. M. 32,4
(9) Off. 15,2.3
(10) Ps. 119,176
(11) St.A. 2,1 S. 188
(12) Vergl. z. B. Platon PHILEBOS; Steph. 11bff.