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Clavis Hoelderliniana

2  Naivete der Wissenschaft

Den Edeltümelnden konnte die Schwarmgeisterei, Ungesuchtes zu glauben, nachgeredet werden; Gegenteiliges ist den Szientifischen vorzuhalten. Jener ideologische Perspektivismus dagegen, der die Bläue der Gestrigen partout rot färben möchte, mutet wie ein neuer Aufguß von Eigentlichkeit an. Wohin sollte die auch verschwunden sein? Hölderlins Wahrheit quillt unvermischt aus der Mitte zwischen Aegypten und Assur. Von ihr ist nur im Indikativ zu sprechen, auch, wenn das mit jedem Satz aufs neue die Konvention, konjunktivisch von der Richtigkeit zu reden, verletzt. Mit billiger Einschränkung fügt die dem definitiv Gesagten noch alles Mögliche hinzu, doch verdeckt diese einschränkende Gebärde nur schlecht den Griff nach unwiderlegbarer Totalität. Um ganz sicher zu gehen, wird nichts mit Bestimmtheit gesagt. Wissentliches begreift das Mögliche als eine Wissenslücke, in die es sich zähneknirschend fügt. Außer Wißbarem darf nichts sein; insofern ist auch Wissenschaft Ideologie: sie denkt systemimmanent und negiert, was in diese Immanenz nicht paßt. Die Unfähigkeit, den Bannkreis der einmal gegebenen Position zu durchbrechen oder Einbrüche zu akzeptieren, ist Merkmal des Naiven. Sein Vermögen, das eigene Weltbild auch in zweifelhaften Situationen zu regenerieren, übersteigt zumeist die produktive Fähigkeiten um ein Vielfaches. In KOLOMB hat Hölderlin das Modell einer solchen Situation entwickelt und den Konflikt zwischen den Wirklichkeitsbefangenen und dem transzendenten Phänomen mit paralektischer Schärfe definiert. Dem Seehelden entlockt die eherne Stimme des Zorngotts den entzückten Ausruf: 'Das bist du ganz in deiner Schönheit apocalyptica' (1), doch der Sprecher der murrenden Mannschaft, ein 'Pfarrherr im blauen Wamms', der 'als Redner' auftritt, muß die Ausschließlichkeit des Wirklichen vor dem Meerwunder retten. 'moments tirees hautes sommeil, der Schiffer / Kolumbus aber beiseit Hypostasierung des vorigen orbis / Naivete der Wissenschaft'. Was Kolumbus beiseit erklärt, können jene nicht verstehen. Die idiomatische Trennung bildet die Verschiedenheit divinatorischer und szientifischer Rede mit unästhetischer Wahrhaftigkeit ab. Solange sich Wissenschaft im Laboratorium aufhält, fällt ihre Naivete nicht weiter auf; erst am Gegenweltlichen tritt die Angemaßtheit ihres Anspruchs und auch dessen Lächerlichkeit hervor: statt Gewißheit erntet sie Irrsal. Ohne die centaurische Klugheit, auch anderes zu denken, wird Hölderlins Definition, was Wissen sei, zur ironischen Bestimmung: 'Kunst, bei positiven Irrtümern im Verstände sicher zu seyn'. (2)

(1) St.A. 2,2 S. 879f.
(2) UNTREUE DER WEISHEIT; St.A. 5 S. 281