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Clavis Hoelderliniana

1  Pascalsches Axiom

Den späten Entwürfen ist wachsende Entfremdung schon optisch anzumerken; Kalligraphisches vernachlässigend, destruieren diese Niederschriften ursprünglich ausgewogenere Dispositionen; für sich scheinen sie Abbild der Krankheit. Schelling findet schon im Sommer 1803 Hölderlins 'Äußeres bis zum Ekelhaften' vernachlässigt, währenddes 'seine Reden weniger auf Verrückung hindeuteten'. (1) Der Augenschein hat bis heute die Überhand. Abgeschlossene Gedichte, wie BROD UND WEIN, wirken 'von Fleken überdekt'. (2) Obwohl genau im Metrum, verschwinden diese letzten Intentionen in den Lesarten; daß sie Ästhetisches desintegrieren, ist unverzeihlich. Das Gedicht als Form überwältigt, weswegen es geschrieben wurde. Wissenschaft nimmt das Letztgesagte nicht ernst; der Mann steht unter Kuratel. Der Zeitpunkt der Entmündigung wechselt nach Belieben, liegt aber stets Jahre vor dem Septembertag 1806, der den Tobenden in die Kutsche nach Tübingen zwang. Dies ist tabu; die Wahnsinnhypothese verkriecht sich in die Anonymität stillschweigender Übereinstimmung. Sie diskriditiert den Text überall dort, wo die Lesenden ihre eigene Dunkelheit bekennen müßten. Wer will schon zu den 'Achtungslosen' (3) gehören. Zugegeben, jenes unbesehen adorierende Postulat vom Heiligwahren ist nicht weniger zweifelhaft als die psychiatrischen Ferndiagnosen. Wahnsinn oder Wahrsinn: beides scheint vorab nicht verifizierbar. In solcher Ungewißheit gilt das Pascalsche Axiom. Wer Wahnsinn wettet, setzt nichts aufs Spiel, denn dieser gilt ohnehin, verlöre jedoch unendliche Wahrheit, wenn das als Wahnsinn hypostasierte in Wahrheit Wahrsinn ist. Wer Wahrsinn wettet, riskiert seine szientifische Habilitation, gewinnt unendlich, wenn Wahrsinn ist, und verlöre, wenn Wahnsinn wäre, nichts als jene Entbehrlichkeit. Das mathematische Kalkül zwingt, Wahrsinn zu denken. Wer Wahnsinn setzt, gewinnt Wahn. Dafür gibt es einen Augiasstall voll Beweise.

(1) Schelling an Hegel, 11. Juli 1803; St.A. 7,2 S. 262
(2) IN LIEBLICHER BLÄUE…;St.A. 2,1 S. 375
(3) DER RHEIN St.A. 2,1 S. 146