paul franck, schatzkammer...























     paul franck
     schatzkammer, allerhand versalien
     lateinisch vnnd teutsch…
     nuernberg 1601

 

AUGENLUST
Kalligraphie – die vergessene Kunst

… Jene formale Harmonie, die Neudörffers Frakturschriften auszeichnet, ist jedoch nur Teil einer höheren, von Dürer übrigens vorweggenommenen Synthese, in welcher die geometrisch-rationale, das heißt streng konstruierte, 'lateinische Antiqua' der duktisch-irrationalen, das heißt von innen heraus mit freier Hand geschriebenen 'deutschen Fraktur' die Waage hielt. Was da für einen Augenblick human beruhigt war, erhellt die späte Analyse Sigmund Freuds zum Problem der Moses-Religion. Wie das abstrakte Gottesbild des ägyptischen Mose die archaischen Götterbilder des israelitischen Hirtenvolkes verdrängte und diese in immer neuen Verwandlungen wiederholt und wieder verdrängt wurden, so verdrängten die römischen Eroberer die rohen, gerade erst im Entstehen begriffenen Schriften der unterworfenen Völker jenseits der Alpen, so paßten sich die karolingischen Schreiber, in der überall abgerundeten Unziale, dem römischen Bogen (sobald sie ihn spitzhatten) im Übermaß der Nachahmung an; so erschien, nach dialektischem Gesetz, die gotische Textur quasi rächend aus dem Orkus der Vergessenheit.

Das ist die Vorgeschichte der Konjunktion am Schreibmeisterhimmel der Freien Reichsstadt Nürnberg, die mit historischer Langsamkeit verging und sich nach und nach in den feindseligen Aspekt verkehrte. Zuvor jedoch, um 1600, erscheinen, statt des einen Sterns, drei konkurrierende am gleichen Firmament: ein Nachkomme Neudörffers, der sich als Sachverwalter der rechten Schreibkunst ansah, das Originalgenie Paul Franck, dessen gewaltige Fraktur-Initiale jener Enkel, mißbilligend, versteht sich, 'einen gantzen Wald voller Buchstaben' nannte, 'sonderlich das großbauchende W, auff welches ich mit verlangen warte, wanns einmal werffen sollte, was doch für wunderbarlich newe Buchstaben herfür kommen würden'. Der dritte in jener Konstellation, Christoph Fabius Brechtel, erweist sich als einer der frühesten Theoretiker der Moderne: einem 'etwas irr gezogenen' Hauptstrich sei mit einem kleinen kontradiktorischen 'beystrich leichtlich zu helfen'.

Das Falsche als auflösbare Dissonanz ist ins kompositorische Kalkül gezogen – ein musterhaft manieristisches Prinzip. Gustav René Hocke hat denn auch Werner Doedes erste, schon Ende der fünfziger Jahre publizierte Vermessungen und Analysen dieses versunkenen Kontinents (in seiner maßgeblichen 'Bibliographie deutscher Schreibmeisterbücher' bei Hauswedell und einem längst vergriffenen, in zwei oder drei Auflagen erschienenen Vorläufer dieses Buchs, gleichfalls bei Prestel) als Paradigmen in seine vielgelesenen Manierismus-Studien aufgenommen. Hier ging es längst nicht mehr um 'Blätter, zu lernen' (so Hölderlin im späten Entwurf 'Griechenland'), sondern um unnachahmliche, höchst artifizielle Inventionen …