/ rezensionen korrespondenz / diskussion /


ZITAT STATT REPLIK III - zu michael braun, die grosse sehnsucht nach dem heiligen, basler zeitung, 3. september 2003


UNSICHTBARE STREITENDE KIRCHE

Der Anspruch auf Unfehlbarkeit pflegt nicht nur in Amtskirchen und Sekten, sondern auch in den Geisteswissenschaften beträchtlichen Schaden anzurichten […]

Sie wissen, die Geister müssen überall sich mittheilen, wo nur ein lebendiger Othem sich regt, sich vereinigen mit allem, was nicht ausgestoßen werden muß, damit aus dieser Vereinigung, aus dieser unsichtbaren streitenden Kirche das große Kind der Zeit, der Tag aller Tage hervorgehe, den der Mann meiner Seele, (ein Apostel, den seine jezigen Nachbeter so wenig verstehen, als sich selber)  d i e  Z u k u n f t  d e s  H e r r n  nennt. Ich muß aufhören, sonst hör' ich gar nicht auf.

hoelderlin an ebel, 9. november 1795


IN CHÖREN GEGENWÄRTIG, EINE HEILIGE ZAHL

[…] Das auf zahlenmystische Vorstellungen zurückgehende Ordnungsschema, das Sattler den Hölderlin-Fragmenten unterlegt, führt zu willkürlichen Montagen ursprünglich voneinander geschiedener Textteile […]

Zulezt ist aber doch, ihr heiligen Mächte, für euch
Das Liebeszeichen, das Zeugniß
Daß ihrs noch seiet, der Festtag,

Der Allversammelnde, wo Himmlische nicht
Im Wunder offenbar, noch ungesehn im Wetter,
Wo aber bei Gesang gastfreundlich untereinander
In Chören gegenwärtig, eine heilige Zahl
Die Seeligen in jeglicher Weise
Beisammen sind, und ihr Geliebtestes auch,
An dem sie hängen, nicht fehlt…

hoelderlin, Friedensfeier, S 2012:100-109


TEXT = LESART

[…] Am Ende dieser schwer durchschaubaren Entzifferungsarbeit sind die Hölderlin-Fragmente wieder bei jenem Geltungsanspruch angelangt, der mit der Frankfurter Ausgabe doch relativiert worden war: sie sind zu in sich geschlossenen, heiligen Texten geworden, die sich in ihrer Klandestinität nur noch dem Editor selbst erschliessen.

axiom 3

IN ZWEIFELHAFTEN SITUATIONEN IST DER EDIERTE TEXT ALS LESART ZU BETRACHTEN

in älteren noch zitierfähigen ausgaben bezeichnet der falsch gebrauchte terminus Lesarten die nach abzug des bereinigten textes im apparat verbliebene restmenge von
überlieferungs- und entstehungsvarianten; dem axiom gemäß ist der begriff jedoch auf
den Text jener editon und textredaktion vermischenden im übrigen unüberprüfbaren editionen anzuwenden; instrumentale bedeutung erhält das axiom bei der editorischen
darstellung des von Hölderlin mit voller absicht segmentiert notierten gesangs der jahre
1803-1806

d e sattler, genetischer text : wort
text : kritische beitraege, heft 5, 1999, herausgegeben von roland reusz, wolfram groddeck und walter morgenthaler