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kritik /
albert von schirnding, sueddeutsche zeitung, 14. oktober 1981:
Heilig nüchterne
Wut
Dietrich E Sattlers Briefe über Hölderlin
Der Schuber, der
die zweimal zweiundsiebzig »Briefe« umschließt,
zwei Bände, deren Seiten durchnumeriert sind, winkt mit
Schönheit, Harmonie und Frieden. Eine holländische
Küstenlandschaft zieht sich über ihn hin, mehr als
drei Viertel der Fläche nimmt ein sanftdurchwölkter
»Äther« ein. Das Übermaß der Bläue
stört keinen Augenblick das Gleichgeweicht, das zwischen
Erde, Meer und Himmel, Hügel und Ebene, Landschaft und Menschen
herrscht. Schwer läßt sich Schöneres, Stilleres,
Erhabeneres denken.
Dem Leser wird nicht
direkt gesagt, um welches Bild es sich handelt. Das hat Methode:
Sattler adressiert seine Briefe nicht an Schlaraffenland-Leser,
an jene oral-rezeptiven Konsumentenscharen, die sich an fachmännisch
zubereiteter geistiger Kost delektieren wollen. Es ist immer
noch besser, lautet die Maxime, sich selbst etwas Falsches zu
denken, als sich von anderen etwas Richtiges vordenken zu lassen.
Dieses Prinzip liegt
ja auch Sattlers Hölderlin-Edition zugrunde, für deren
durch widrige Umstände verursachtes Stocken die Briefe entschädigen
möchten; sie können aber auch wie ein Supplementband
gelesen werden. Selbstdenkerprinzip, Gefährdung des Editionsunternehmens
und Epistelflug stehen in einem engen Bedingungsverhältnis.
»Mit jedem Band der neuen historisch-kritischen Ausgabe«,
liest man im 142. Brief, dem Ausschnitt aus einer durchaus im
doppelten Wortsinn ungehaltenen Rede, »wird die Stuttgarter
hinfälliger werden, bis sie endlich unbenutzbar sein wird«.
Dies der um Beißners philologische Großmeisterleistung
versammelten Zunft ins Gesicht, Ansage eines Davidskampfes, der,
so sieht es jedenfalls im Moment aus, anders als sein biblisches
Vorbild enden wird. Warum die Herausforderung? Weil es darum
geht, das traditionelle Abhängigkeitsverhältnis von
Herausgeber und Leser aufzuheben; dieser soll selbst prüfen
können, ob der aus den Entwürfen rekonstruierte Text
annehmbar ist. Ausgaben, die Fertiges bieten, wo der Dichter
nicht fertig wurde, machen ihren Autor eben fertig und den Leser
dazu. Sattler will nicht zu den »klugen Rathgebern«
gehören, die Hölderlin mit unmittelbarem Affront gegen
Schiller in einem vielstrophigen Gedicht verhöhnte, er will
nicht die wohlfeile Erkenntnis, sondern das mühsame Erkennen
lehren.
Daß dies am
Beispiel Hölderlins praktiziert wird, ist alles andere als
zufällig. Sattlers Hölderlin teilt sich nicht in den
Dichter des vollendeten Gesangs und den Kranken, der das, was
ihm gelang, durch auflösende Eingriffe verstümmelte,
sondern die prozeßhafte Gestalt seines Werks ist die tiefverstörte
und eben deshalb wahre Antwort eines sich poetisch behauptenden
Individuums auf den gestörten Zustand seiner und unserer
Welt. In Hölderlins Existenz und Dichtung findet Sattler
den Ort, an dem die in der Vergangenheit und Zukunft verlorenen
Stimmen sich sammeln zu dem einen Gesang, der den Menschen die
schwer erträgliche Wahrheit sagt. Unter dieser Voraussetzung
»geht es nicht mehr um einige Gedichte, zu deren Erklärung
der Rest der Welt aufzubieten wäre, sondern ernstlich um
Einsicht in das fortschreitende Syndrom aus Stumpfheit und Verblendung,
das uns hindert die Sache einzusehen, die er sah, und die einfache
Sprache zu verstehen, in der er davon sagte.«
Nichts verhinderte
solches Verstehen zuverlässiger als die von den Exegeten
einer offiziellen Literaturwissenschaft geleistete Verstehenshilfe.
Sie tilgt gerade das, was an dieser Poesie nicht aufgeht, und
zerrt ihr Zurückgehaltenes, das sich in Andeutung, Wink,
Zeichen äußert, an den Tag einer Aufklärung,
die schon bei Hölderlin als Nachtgeist erscheint. So vereitelt
sie die von dem Dichter erhoffte, geglaubte »Revolution
der Gesinnungen und Vorstellungsarten, die alles bisherige schaamroth
machen wird« durch Entmündigung und Bevormundung.
»Deutung ist Diebstahl«, lautet Sattlers bündige
Formel dafür.
Der zum Selbstfinden
aufgeforderte Leser stößt im 95. Brief auf eine ausführliche
Beschreibung von Adrain van de Veldes Gemälde »Der
Strand von Scheveningen«, das Hölderlin mit großer
Wahrscheinlichkeit 1796, während eines dreiwöchigen
Aufenthalts in Kassel sah. »Die Gemäldegalerie und
einige Statuen im Museum machten mir wahrhaft schöne Tage«,
schrieb er an seinen Bruder. Die »schönen Tage«
tauchen in einem späten, vielleicht erst dreißig Jahre
später geschriebenen Gedicht auf, das der seit einem Vierteljahrhundert
toten Diotima in den Mund gelegt ist. »Es waren schöne
Tage. Aber / Traurige Dämmerung folgte nachher.« Im
Juli war die Familie Gontard mit dem Hofmeister Hölderlin
nach Kassel gekommen, nur der Hausherr war zurükgeblieben.
Der Aufenthalt in Kassel wird zur flüchtigen Verwirklichung
jener Versöhnung, die mitten im Streit ist, und das Bild
van de Veldes zur Chiffre einer Utopie. Der Umschlag der »Briefe«
hält sie dem Leser entgegen, aber ihren Namen und ihre Beziehung
zum Inhalt muß er, nein: darf er selber ermitteln.
Eine sehr komplizierte
Beziehung, geht es doch auf den 650 Seiten des Buches meist gar
nicht versöhnlich, gar nicht friedlich zu. Wir haben es
weniger mit Brief-Tauben, eher mit Brief-Falken zu tun. »Krieg,
nein, kein Gehör den Schwindlern!« heißt es
auf Seite 425 im letzten Aphorismus einer 48 Artikel umfassenden
»Grabschrift für einen Dichter«. Gesungen wird
diese zornige Nänie auf den vor einem Jahr gestorbenen Lyriker
Volker von Törne, doch nicht nur auf ihn. Zugleich ist Hölderlin
im Spiel, wie umgekehrt, wenn Sattler von Hölderlin spricht,
er immer auch unsere Sache meint. Das gilt noch für die
Passagen, bei denen es sich um scheinbar esoterische Rätselkunde
des Entzifferers der Foliohefte handelt.
Auf solche den Abstand
der Zeit zurück und vorwärts überspringende Ähnlichkeiten,
Wiederholungen, Identifizierungsmöglichkeiten ist Sattlers
Ohr mit schmerzhaft gespannter Aufmerksamkeit gerichtet, jenes
Nietzsche-Ohr, das nicht nicht nur das von der allgemeinen Schwerhörigkeit
plump Verwechselte zu unterscheiden, sondern auch zu vereinigen
weiß, was gelehrte Rubrizierungsmanier und -manie säuberlich
getrennt hält. Überall trifft man auf die merkwürdigsten
Korrespondenzen beispielsweise spürt Sattler ein
alchimistisches Werk des frühen 17. Jahrhunderts auf, dessen
Tafeln frappante Übereinstimmungen mit Sprachbildern Hölderlins
aufweisen. Man würde an Beziehungswahn denken, wenn nicht
ein so überwältigendes Belegmaterial aufgeboten würde.
So ist es virtuosdedektivische ars combinatoria, eine, die weniger
das angebliche Dunkel der Hölderlinischen Dichtung erhellt
als die Finsternis, in die wir getaucht sind.
Es ist die Finsternis
einer Klugheit, die längst gemeingefährlich geworden
ist: »Während sie die Vorkehrungen zur plötzlichen
Vernichtung oder langsamen Vergiftung aller trifft, wenn nicht
der gegenwärtigen Generation, dann der zukünftigen,
hat sie noch die Stirn, diese sinnlosen, verzweifelten Maßnamen
für politisch, wirtschaftlich oder sozial auszugeben.«
Dichter sind, wenn sie den Namen verdienen, im Widerstand gegen
das Zeitgenössische, das sie mundtot zu machen sucht. Sie
wehren sich auch durch »Geschrei«; so der Titel eines
der Briefe, die sich, übrigens in umgekehrter Reihenfolge,
an jeweils einem Stichwort entzünden. Das Geschrei gilt
der trügerischen Stille eines gewalttätigen Friedens
nicht weniger als dem geschäftigen Lärm derer, die
sich in Sattlers Perspektive mit den Zeitläufen gemein machen:
den Parteigängern des Staates und der »ehernbürgerlichen«
Gesellschaft, den Professoren und Literaten, vor allem aber den
Hölderlin-Philologen. Auch das sind diese Briefe: die wütende,
traurige, triumphierende Deklaration von Sattlers Austritt aus
der Hölderlin-Gesellschaft, der im 118. Brief unmittelbar
vollzogen wird in Form einer knappen Attacke, die sie gewissermaßen
im Namen Hölderlins für abgeschafft erklärt. Das
Schrille der Polemik wird verständlicher, wenn man das Flugblatt
zugleich als Absage an unsere Gesellschaft begreift. In radikalen
»Thesen zur Staatenlosigkeit« kulminiert Sattlers
Rezeption eines Dichters, der vielleicht nie so genau gelesen
und dabei bis zur Identifikation ernst genommen wurde wie hier. |