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POSITIONEN
VI / 30-33
WG 'Es
scheint [
] ohne Not nivelliert.'; 14 zeilen; zusammenfassend:
ihm scheine, dasz die bezeichnung 'gesang' hier etwas sei, 'das
aus dem Diskurs des Dichters entnommen und dann als editorische
Kennzeichnung gebracht' werde; konstatiert 'eine Art von deskriptivem
Kurzschluß'; zitiert sodann 'eine folgenreiche Unterscheidung'
im editorischen vorwort zu band 7: 'an die stelle des metrisch
vorgeprägten versbegriffes tritt der weniger prätentiöse,
dem quantifizierenden verfahren des dichters adäquatere
der zeile und der zeilenbrechung'; die bezeichnung 'zeile' braechte
'die Verse' nicht nur 'um eine ganze ästhetische Dimension,
nämlich um diejenige der geregelten metrischen Bewegung',
sondern auch um diejenige 'des enorm wichtigen Enjambements';
'zeile' sei 'ein Begriff aus der Schriftlichkeit, während
der Vers mehr aus dem Bereich des Klingenden, des Mündlichen'
stamme; dieser unterschied werde 'in der reduzierten editorischen
Begrifflichkeit ohne Not nivelliert'
GM 'Aber auch die Zeile [
] nicht Zeile
ist, sondern Vers.'; 8 zeilen; bemerkt richtig, dasz sattler,
wie im vorwort angekuendigt, dort 'zeile' sagt oder zeilen zaehlt,
wo sie lieber 'vers' sagen wuerden; kreidet ihm dennoch an, dasz
titelzeilen mit der sigle 'T' und die zeilen der prosa-vorrede
zur 'Friedensfeier' mit 'P' bezeichnet werden; weist auf begriffliche
ueberschneidung von disponierter zeilenbrechung und zeilenbrechungen
aus raumnot hin
30 DARUM ZEILE STATT VERS
roland reusz umschrieb in seiner zu beginn von IV referierten
und zitierten aeuszerung den unzulaessig als 'gesänge' bezeichneten
inhalt der baende 7/8 als 'alle nicht in konventionelle metrische
Schemata gebundenen Gedichte' und fuegte weiter unten hinzu,
der titel 'gesänge' umgreife dasjenige, 'was nicht in konventionelle
Schemata hineinpaßt, aber gleichwohl Gedichtform hat';
eben aus diesem und weiteren gruenden halte ich den metrisch
vorgepraegten versbegriff fuer irrefuehrend und den stattdessen
gewaehlten begriff der zeile schon wegen der in allen reinschriftlich
ueberlieferten gesaengen hervortretenden quantifizierung der
strophen fuer angemessener; ueberdies legte die segmentierende,
das heiszt auch offene schreibweise hoelderlins eine aufgabe
des versbegriffs schon darum nahe, weil das, was konventionellerweise
auch als vers bezeichnet werden koennte, erst durch den rapport
der segmente entsteht; diese waren aber zunaechst nach ihrem
handschriftlichen erscheinungsbild zu edieren, das heiszt auch,
mit einer zaehlung zu versehen, die den status 'vers' nicht haben
konnte; auszerdem haetten nicht eindeutig als glossen erkennbare
oder im verlauf des entwurfsprozesses in ihrer funktion wechselnde
segmente vorab mit den bezeichnungen 'vers' oder 'zeile' qualifiziert
werden muessen; im uebrigen verliert oder gewinnt keine von hoelderlin
geschriebene zeile 'eine ganze ästhetische Dimension', wenn
sie von uns statt 'vers' 'zeile' oder statt 'zeile' 'vers' genannt
wird
31 ZU PROTOKOLL (4. september 2003)
ab hier der vollstaendige text; auf die fortsetzung der entgegnung
kann leichten herzens verzichtet werden, weil die chronologisch-integrale
edition der werke, briefe und dokumente (FHA 19/20) inzwischen
genau an diesen punkt gelangt ist; mit der von vornherein ins
auge gefaszten, von den gespraechsrezensenten wohlweislich beiseite
gelassenen reprise ist zugleich auch die form disponiert, in
der das ueber einen so langen zeitraum entstandene ergaenzt,
geprueft, berichtigt werden kann; dies gilt besonders fuer die
noch ganz von der erkenntnisarbeit gepraegte edition der Gesänge
hoelderlins in den baenden einer historisch-kritischen ausgabe,
in welcher die vollendungsluege nicht aufrechterhalten wird,
und die im setzen wie im erwaegen grundsaetzlich als versuch
und grundlage einer weitergehenden erkenntnisarbeit angesehen
werden sollte; in diesem zweiten editionsschritt wird der darzustellende
sachverhalt formal abweichend behandelt, wobei das hauptgewicht
jetzt auf einer eingehenderen begruendung editorischer entscheidungen
liegt; eine probe erscheint in wenigen wochen an dieser stelle
32 WELT IM VERRINGERTEN MASSTAB
gleichwohl ein wort zum befremdenden tantengambit wolfram groddecks,
der die von mir, zugegebenermaszen, mit geringen mitteln herbeigefuehrte
zahl der 288 segmente in zusammenhang bringt mit zeugen, die
hier ohne belang sind; in der dreiseitigen einleitung zu FHA
8 wurde darauf hingewiesen, dasz sie der kabbala des isaak luria
entnommen ist; vorausgesetzt wurde dabei, dasz die mit seitenzahl
verzeichnete quelle - gershom scholem, die juedische mystik,
frankfurt 1980 - wenn sie schon nicht gemeingut der literarisch
gebildeten sein sollte, doch wenigstens bei einer kritik des
sachverhalts zu rate gezogen wuerde; die rede ist dort von der
zerstreuung der 288 sefirot, ihr eingeschrieben ist die erwartung
einer kuenftigen sammlung; die uebereinstimmung der fragmentarisierenden
schreibweise hoelderlins im zenit seines werks mit diesem als
bruch der gefaesze und deren kuenftiger restitution beschriebenen
vorgang veranlaszte jene formale kongruenz, die nicht mehr und
nicht weniger sagen will, als dasz dem symbolischen akt des die
Welt im verringerten Masstab darstellenden dichters ein gleichfalls
symbolischer akt gegenuebersteht, der dem dies alles zusammenlesenden
leser auferlegt ist; solange jene durch hunderte von beispielen
zur evidenz gefuehrte voraussetzung einfach nur annihiliert wird,
musz die kritik ihren zweck verfehlen
33 VON DER WAHRHEIT
Anfängerin
großer Tugend, Königin Wahrheit,
Daß du nicht stoßest
Mein Denken an rauhe Lüge.
Furcht vor der Wahrheit, aus Wohlgefallen an ihr. Nemlich das
erste lebendige Auffassen derselben im lebendigen Sinne ist,
wie alles reine Gefühl, Verwirrungen ausgesezt; so daß
man nicht irret, aus eigener Schuld, noch auch aus einer Störung,
sondern des höheren Gegenstandes wegen, für den, verhältnismäßig,
der Sinn zu schwach ist.
RR Wir
sollten nochmals auf den Aufbau der Ausgabe kommen. Ihre äußere
Erscheinungsweise gerät dadurch ins Oszillieren, daß
Sattler zusätzlich und, nach eigener Aussage, als Komplement
der Ausgabe den Band 'Hesperische Gesänge' in der 'Bremer
Presse' herausgebracht hat, der die von ihm konstituierten Schlußtexte
transportiert. Wenn man sagt, es gibt innerhalb der Bände
7/8 keine konstituierten Schlußtexte, so haben wir hier
einen Unterschied gegenüber der vorhergehenden Präsentation,
etwa im Elegien-Band. Wird nun in den Bänden 7/8 ein stärkerer
oder ein schwächerer Akzent auf die Textkonstitution innerhalb
der Edition gelegt? Eine andere Frage ist folgende: Die Bände
7/8 sind nicht parallel angeordnet, sondern repräsentieren
eine bestimmte Schrittfolge. Band 7 enthält die Dokumentation,
Band 8 die Edition. Ist diese Art der Außendarstellung
sachlich gerechtfertigt oder gibt es zwischen beiden Teilen eine
Implikation von Voraussetzungen, die dasjenige, was als ein Nacheinander
erscheint, als ein Ineinander erweisen?
WG Die Ausgabe der 'Hesperischen Gesänge'
erweckt letztlich den Verdacht, sie sei wichtiger als die sogenannte
Historisch-Kritische Ausgabe ('sogenannt', weil in der Einleitung
eine Distanz zu diesem Begriff sichtbar wird), so als ob das
eine das mühselige Geschäft der Edition sei, das andere
das Geschenk der Intuition oder Divination. Zwar sind die 'Hesperischen
Gesänge' aus der Edition abgeleitet, aber sie gehen über
diese hinaus und führen die vermeintliche Intention des
Dichters fort. Manche Texte findet man in der ihnen gegebenen
Form in den Bänden 7/8 so nicht wieder. Mein Eindruck ist,
daß die 'Hesperischen Gesänge' als Quintessenz der
beiden Bände über die 'Frankfurter Ausgabe' hinaussteigen
und damit deren Begriff nochmals verändern, weil diese dadurch
wieder zu einer Art Archiv herabgesetzt wird.
GM Ich finde es schon problematisch, den Band
'Hesperische Gesänge' mit in unsere Auseinandersetzung mit
Band 7/8 der 'Frankfurter Hölderlin-Ausgabe' einzubeziehen.
Sattler selbst hat an keiner Stelle darauf verwiesen, daß
die Textkonstitution eigentlich an anderer Stelle stattfindet.
Unter der Rubrik 'zitierte titel' findet sich zwar der Literaturverweis
(VIII 1022), und bei der 'Friedensfeier', glaube ich, weist er
darauf hin, daß in den 'Hesperischen Gesängen' die
triadischen Fugen deutlicher dargestellt werden als in der 'Frankfurter
Ausgabe'. Als deren Benutzer bin ich jedoch zunächst allein
auf die Bände 7/8 angewiesen.
Bei deren Textkonstitution ist rein äußerlich auffallend,
daß, anders, als in den bislang erschienenen Bänden
der FHA, auf den vierten Schritt der Textpräsentation verzichtet
wird. Es gibt, zumindest nach außen ausgewiesen, keine
Gruppe 'konstituierter' oder 'emendierter' Texte. Wenn man genauer
hinsieht, dann wird man allerdings entdecken, daß diese
Konstitutionsarbeit in die dritte Stufe der editorischen Aufbereitung,
in die 'lineare Darstellung', mit eingegangen ist. Sehr viel
stärker als in den vorherigen Bänden wird an dieser
Stelle emendiert, etwa werden Überschriften hinzugefügt,
die nicht da sind.
Das konstruktive Moment ist zudem sehr viel stärker ausgeprägt:
Sattler klaubt sich aus verschiedenen Stellen, die nicht in einem
evidenten materialen Zusammenhang miteinander stehen, Teile heraus
und setzt sie innerhalb der 'linearen Textdarstellung' zusammen.
Aber genau das ist es, was wir eine Textkonstitution nennen.
Von daher ist es ein Etikettenschwindel, wenn er auf den vierten
Schritt rein äußerlich verzichtet. Wenn man genauer
hinsieht, ist der vierte Schritt gar nicht verschwunden. Denn
die Textkonstitution geht ganz massiv, ohne daß man es
immer durchschaute, in den dritten Schritt der Textdarbietung
mit ein.
WG Es werden sogar Texte, die wie die
'Friedensfeier' reinschriftlich überliefert und im
strengeren Sinne Texte sind, wieder aufgelöst und als Segment
bezeichnet. In der sogenannten b-Version werden dann vom
Herausgeber, aufgrund von dubiosen Federfahnenspuren oder Verklecksungen
in der Handschrift, Textsegmente aus anderen Kontexten eingefügt
und ein neuer Text konstituiert, nach dem keinerlei Bedarf besteht,
wenn schon einmal der seltene Fall vorliegt, daß bei Hölderlin
ein in sich geschlossener Text vorhanden ist. So werden, unter
Hinweis auf Daniel 10, 3, wo sich die Formulierung 'in sack und
aschen' findet (VIII 975f.), das Notat: 'und wie der Rathsherr
/ Saktuch', das sich im Homburger Folioheft findet (VII 334),
in die Verse 86-88 der Reinschrift an die Stelle, wo von einem
'festlichen Gewand' die Rede ist, eingeflickt, und die ebenfalls
aus dem Homburger Folioheft stammende dort mit tintenleerer
Feder eingeritzte Aufzeichnung: 'Und der Himmel wird wie
eines Mahlers Haus / Wenn seine Gemählde sind aufgestellet'
(VIII 281) ersetzt die Verse 89 und 90. Die brutale Textmontage,
die ich kaum noch als editorische Weiterdichtung bezeichnen würde,
läßt fast vergessen, was sich Sattler bei der herausgeberischen
Darstellung der einzigartigen Reinschrift von 'Friedensfeier'
sonst noch erlaubt. Die Reinschrift zeigt ja nach jeder Strophentriade
einen größeren Einschnitt. Das wird in der Ausgabe
auch gar nicht bestritten, aber man liest erstaunt: 'deren größere
triadenfugen werden auch hier nicht wiedergegeben' (VIII 975).
'Auch hier nicht' das meint, daß auf die korrekte
Wiedergabe der in der Handschrift vorgegebenen Textkomposition
schon bei der a-Version verzichtet wurde (VIII 641). Solche
herausgeberischen Übergriffe sind auch dort zu kritisieren,
wo Hölderlin selbst Texte später wieder aufgelöst
hat, wie bei der 'Patmos'-Reinschrift. Sie wäre als Reinschrift
im Prozeß der Textgenese festzuhalten und darzustellen.
Genau dies passiert nicht, sondern man hat eine textgenetische
Kontamination, die nicht mehr unterscheidet zwischen Reinschriften,
Drucken, offenen Entwürfen und 'Segmenten', wobei ich mir
nicht sicher bin, ob es bei Hölderlin tatsächlich 'Segmente'
gibt, aber darauf werden wir wohl noch zu sprechen kommen.
RR Das Ganze steht, das sehe ich auch so, in
der Spannung von Dokumentation und Konstitution. Als ich in der
Vorbereitung auf unser Gespräch die Bände 7/8 nochmals
durchgesehen habe, habe ich noch einmal bewußt wahrgenommen,
was das für ein chaotischer Papierüberlieferungszusammenhang
ist, und daß jeder Weg, den man durch ihn zu gehen versucht,
und jede Suche in ihm nach Sinn wie der Durstende in der
Wüste nach Wasser sucht es verdient, aufgeschrieben
zu werden, damit sich andere daran orientieren können.
Problematisch an Sattlers Weg ist aber, daß er den Experimentalcharakter
seines Verfahrens nicht offenlegt: nämlich ohne Kompaß
unterwegs zu sein, sich statt dessen für irgendeine Himmelsrichtung
zu entscheiden und sie angehen zu müssen. Diejenige, in
die Sattler geht, ist eine stark zahlentechnisch orientierte
einerseits, und eine mit bestimmten biblischen Mythologemen versehene
andererseits. Bedenklich ist nun, daß diese Versuchsanordnung
in keinem der beiden Bände a l s s o l c h e benannt
wird. Mit anderen Worten: Ich vermisse, daß derjenige,
der das Experiment macht, die Leute, die ihm dabei zuschauen,
darauf hinweist, daß es sich eben um ein Experiment handelt.
Sattler müßte als derjenige, der die Analysen vornimmt,
hervortreten, damit man die Möglichkeit erhält, besser
zu begreifen, was hier eigentlich geschieht.
Um es klar zu sagen: In solchen Fällen wie in den hier vorliegenden
halte ich es für sinnvoll, eine abstrakte Ordnung vorzugeben
und zu erproben, was passiert, wenn man sie durchexerziert. Diese
muß aber als solche explizit benannt werden. Außerdem
sollte sie den Gegenständen, mit der sie sich auseinandersetzt,
nicht in einer Art Rückprojektion auf die Gegenstände
als bereits existierende unterstellt werden. Ansonsten wäre
es eine Hypostasierung, die zur Intransparenz führt. Denn
wegen des Informationsvorschusses, den der Editor hat, begreift
man nie, ob der Sachverhalt genau so vorliegt oder nur unter
den Bedingungen des Experimentes so erzeugt wurde.
GM Das Fehlen von Explizitheit, das Du beklagst,
bringt Sattler erst einmal wieder in die Nähe von Friedrich
Beißner, der an kaum einer Stelle seine Entscheidungen
und sein Verfahren begründet hat. Dasjenige, was er als
hervorragender Hölderlin-Kenner setzte, war das Gültige,
der Maßstab, von dem alles andere abhing. Dies findet man
zunehmend auch bei Sattler in den Bänden 7/8. Immerhin scheint
mir Sattler in der Art, wie er die Bände anlegt, auf einen
bestimmten Begründungsrahmen hindeuten zu wollen, nämlich
in dem Aufsteigen vom Dokumentarischen zum Editorischen, vom
'Befund' zur 'Deutung', um hier noch einmal Hans Zellers Begriffspaar
zu zitieren. Für diese Grundlegung steht noch vor
der Darstellung der Handschriften und ihrer Transkription
die 'zeittafel', die im Band 7 die Seiten 9-83 in Anspruch nimmt.
Sattler stellt mit dieser chronologischen Datenauflistung und
Briefzitaten, in die er die Entstehungsgeschichte der 'Gesänge'
einmontiert, zunächst ein Gerüst bereit, das für
seine Ausgabe leitend wird. Für diese 'zeittafel' ist nun
Sattlers Begriff 'dokument' zentral, er numeriert sogar die hier
angeführten Dokumente. Dadurch suggeriert er eine dokumentarische
Begründung auch der Chronologie der Entstehung der Gedichte
und behauptet eine enge Verflechtung mit anderen, vor allem brief
lichen Äußerungen Hölderlins.
RR Das ist ein wichtiger Gesichtspunkt. Die
Zeittafel ist immerhin fast 80 Seiten lang und besteht aus vielen
Briefzitaten und anderen Dokumenten, aber auch aus vielen hypothetischen
Datierungen, die bis ins Unwahrscheinliche hinein genau vorgenommen
werden. So werden auch die späten Überarbeitungen der
drei im Homburger Folioheft eingetragenen Elegien sehr genau
in das Jahr 1804 datiert: Unter dem Datum 'letztes aprildrittel
und anfang mai' liest man: 'vmtl für Siegrid Schmid abschrift
der schon hergestellten version b von 'Stutgard'' (VII 52).
Unter dem Datum 'mai bis um den 11. juni' in diese Zeit
fällt auch das Ereignis, daß ein 'strich mit fast
tintenleerer feder' den Gesang 'Germanien' 'tilgt' wird
festgehalten: 'danach vmtl fortsetzung der im märz begonnenen
redaktion b der elegien 'Heimkunft',
'Brod und Wein' und 'Stutgard'' (VII 53). Und schließlich:
'14. bis 18. juni vmtl herstellung der für Leo von Seckendorf
bestimmten druckvorlagen' (VII 56). All diese Übergenauigkeit
in der zeitlichen Zuschreibung textgenetischer Prozesse beruht
auf einem Indiziengeflecht, das nicht mehr zu entwirren ist.
Und diese Zeittafel beansprucht denselben Status wie die Abbildung
der Handschrift selbst, von der man zunächst denkt, sie
sei das eigentlich Dokumentarische.
RR Wir sollten aber diesen Begriff 'Dokument'
in bezug auf die Zeittafel etwas eingehender reflektieren. Der
Wortgebrauch von 'Dokument' hat das Moment bei sich, daß
er gegen die Interpretation gewendet ist. Das Dokument soll interpretationsfrei
gehalten sein, d. h. es ist, was der Interpretation vorausliegt
und die Instanz, an der diese sich zu messen hat. Das Mißliche
an der hier gegebenen Zeittafel besteht jedoch in folgendem:
Sie dient nicht nur der Auflistung der Dokumente, sondern in
sie werden, besonders dann, wenn es um Manuskripte geht, äußerst
spekulative Hypothesen der Werkchronologie implantiert, obgleich
sie den Anschein erweckt, rein dokumentarisch zu sein.
Die zitierten Briefdokumente sind nicht kontrovers, da man sie,
ob eigenhändig datiert oder nicht, meist ohne Schwierigkeit
auf die chronologische Achse abbilden kann. Sattlers Zeittafel
liest sich in diesen Fällen wie ein konventionelles Regestenverzeichnis.
Doch je weiter man vordringt, umso eigenartiger werden die zeitlichen
Hypothesen. Ich gebe ein Beispiel. Es betrifft das Jahr 1802.
'18. prairial X; pfingstmontag; Hölderlin in Straßburg;
sichtvermerk im reisepaß; [stempel:] Vu p.r le M.re des
Strasbourg p.r passer le pont de Kehl [handschriftlich:] le 18.
p. al X / [unterschrift]' (VII 29). Das ist also ein Datum, das
sich mit unserem klassischen Dokumentverständnis genau belegen
läßt. Gleich im folgenden steht dann aber '7. Juni
bis 2. Juli vmtl. entschluß zur wanderung nach Morea; zunächst
vmtl. Bielersee'. Aus meiner Kenntnis des Werkes von Hölderlin
sehe ich keine Instanz, die mich vermuten läßt, daß
Hölderlin tatsächlich nach Morea [i. e. dem Peleponnes;
Anm. d. Red.] wandern wollte. Es gibt sicherlich die berühmte
Stelle in dem Gedicht 'Der Rhein', wo der Name fällt [v.
15]. Aber für die interessante Vermutung, daß Hölderlin
vorhatte, nach Morea aufzubrechen, hätte ich schon gerne
eine Begründung. Statt dessen finde ich die nackte Vermutung
in einer Zeittafel, wodurch der Anschein erweckt wird, als sei
sie aus einem Dokument abgeleitet. Eigentlich ist sie reine Spekulation,
gegen die ich als solche nichts einzuwenden habe, nur, sie sollte
an der Stelle plaziert werden, wo Spekulationen normalerweise
stehen, und nicht in einer Zeittafel, weil diese Vermutung keinen
empirischen Index hat.
PS Die Zeittafel, da dürfte Einigkeit bestehen,
ist nicht zu kritisieren, sofern man sie auf Hölderlins
Leben bezieht. Problematisch wird sie an einigen, auch bereits
genannten Punkten. Zum Beispiel die Abkürzung 'vmtl.', die
immer dort begegnet, wo es um die Entstehung von Handschriften
geht, sofern sie keine Briefe sind. Darüber hinaus gibt
es merkwürdige Formulierungen, die in einer Zeittafel konkretisiert
werden müßten. So die Abfolge von 'um den 3. Januar',
'um den 4. Januar', 'um den 5. Januar' (VII 9f.) etc. Eine Erläuterung
bleibt aus.
Ein anderes Beispiel ist ein Brief Brentanos aus Heidelberg an
Achim von Arnim über Sinclair, datiert auf 'um den 21. september'
1806 (VII 79). Dieser Brief ist verschiedentlich gedruckt worden,
zuletzt vollständig in dem von Schultz herausgegebenen Briefwechsel
Brentano-Arnim, zuvor in der Frankfurter Brentano-Ausgabe, die
selbst bereits problematische Datierungen vornimmt. An dem hier
gegebenen Zitat sieht man, daß Sattler nicht nach der kritischen
Ausgabe und nicht den vollständigen Text zitiert, sondern
nach einer alten Ausgabe, vermutlich der von Steig. Die Auslassungen
sind nicht markiert, wie überhaupt modernisierte und kritische
Texte gemischt zitiert werden. Weil es keine vollständige
Stelle ist, erkennt man nicht, daß hier eigentlich noch
mehr über Sinclair gesagt wird.
Ein großes Problem ist nun die Datierung. Im erwähnten
Brief heißt es: 'Ich sehe täglich der Niederkunft
meiner Frau entgegen'. Bekanntlich ist Sophie Brentano am 31.
10. 1806 bei der Entbindung eines totgeborenen Mädchens
gestorben. So ist es sehr befremdlich, und ich habe es nirgendwo
gefunden, daß Brentano sich schon 'um den 21. september' t ä g l i c h auf
die Niederkunft seiner Frau eingestellt haben wird. Der Brief
wird normalerweise datiert auf Mitte bis Ende Oktober. Wie kommt
Sattler auf seine Datierung? Hier wird eine Verläßlichkeit
vorgespiegelt, die von dem überlieferten Material nicht
gestützt wird.
GM Selbst wenn man diese Unsicherheiten in Betracht
zieht, so wird man immer zugeben müssen: Bei Briefen haben
wir zumeist relativ sichere Daten, zumindest bei den Hölderlin-Briefen
gibt es nur wenige Divergenzen. Deshalb kann man sie auch in
eine Zeittafel einbringen. Das Problematische besteht darin,
die Gedichte in diese Zeittafel zu integrieren. Soweit ich weiß,
gibt es vor der sog. Wahnsinnszeit bei Hölderlin
keinen einzigen Gedichtentwurf, den er datiert hat. Damit Sattler
dieses Zeitgerüst, das er, sicherlich manchmal auch fragwürdig,
aus Briefen gewinnt, überhaupt gebrauchen kann, muß
er die Gedichte einmontieren. Ein Beispiel: 'mai bis um den 11.
Juni' also immerhin eine recht fixe Datierung von etwa
fünf, sechs Wochen 'fortsetzung des entwurfs 'Der
Einzige' [
]; dann vorläufige reinschrift S1331 auf dem doppelblatt 313;
während in der Warthauser reinschrift S130 das wort 'Vaterland'
hervorgehoben wurde, gilt das skripturale signal hier dem erinnernden
ich, dessen selbstgewißheit brüchig wurde; dem denkzeichen
antwortet das neben dem schluß der elegie 'Heimkunft' notierte,
auf das zentrale problem der jenaischen philosophie zurückweisende
S130 'wie / kann / ich /
saagen'; danach die auf dem streifen eines folioblattes notierte
erweiterung S135 'Die Wüste
''
(VII 52).
Was passiert hier? Nicht mehr durch Dokumente, sondern eindeutig
durch Interpretation gestützt versucht Sattler, genaue Abfolgen
von verschiedenen Gedichtteilen oder -niederschriften in das
chronologische Gerüst einzumontieren. Ich finde es außerordentlich
problematisch, daß er den dokumentarischen Teil mit interpretatorischen
Elementen versieht, die für den Leser, der nicht sofort
kritisch herangeht, doch einen Faktizität beanspruchenden
Charakter bekommen.
RR Jeder, der sich wie Sattler mit der Konstitution
und der textkritischen Darstellung der Hölderlin-Texte beschäftigt,
hat das Recht und im Grunde auch die Pflicht, darüber nachzudenken,
wie die Sachen miteinander zusammengehören könnten.
Das kann durchaus spekulativ sein, es muß wahrscheinlich
sogar so sein. Der geeignete Ort aber, um diesen Zusammenhang
zu explizieren, wäre ein Werk-Essay: Wie stelle ich mir
die Chronologie vor, in der Hölderlin die einzelnen Teile
in die Materialien geschrieben hat? Dies würde heißen,
daß man zu begründen versucht, weshalb bestimmte Syllogismen
so vollzogen werden können, und vor allem, daß man
von Zeit zu Zeit auch mal 'ich' sagt.
Daß die Spekulation so pseudoobjektiv in die Dokumentation
einfließt, verstehe ich als Ausdruck von Ängstlichkeit:
Man will dasjenige, was man für sich erschlossen hat, den
andern nicht eigens zur Diskussion stellen. Statt dessen suggeriert
man, daß es sich faktisch so verhalten hat, zumindest wird
durch die Integration der Spekulation in den dokumentarischen
Teil diese Schlußfolgerung nahegelegt. Dieser Vorgang läßt
sich kaum verteidigen, denn er führt zu einer Vermischung
dessen, was man einigermaßen sicher annehmen kann, und
dessen, was nicht. Eine Edition sollte im Gegenteil darauf bedacht
sein, diese beiden Teile scharf voneinander zu trennen.
Damit ist, das habe ich ja schon ein paarmal gesagt, selbstverständlich
kein Präjudiz gegenüber Spekulation oder Interpretation
ausgesprochen, aber der Schritt von der Dokumentation in die
Interpretation, die immer dabei ist, sollte stärker akzentuiert
werden, als das bei Sattler der Fall ist. Abgesehen davon bekommen
wir hier diese Art von Forschungslogik vorgeführt, wie Hegel
sie erstmals, und dann Marx nochmals, expliziert hat: Daß
hier einerseits der Anfang vorgetragen werden soll, auf dem alles
andere basiert. In Wirklichkeit ist bereits in die Darstellung
des Anfangs die gesamte Arbeit eingegangen, während das
Folgende nur die Auswicklung dessen gibt, was in diese Zeittafel
bereits implantiert worden ist.
Und selbst wenn man so vorgeht, müßte man es zumindest
explizieren. Man kann dem Leser nicht einfach nur das fertige
Produkt eines komplexen Gedankengangs vorsetzen und die Zwischenschritte
verschweigen. So entsteht dann leicht der Eindruck, die Schlußfolgerungen
seien stillschweigend erschlichen, und dieser Eindruck entsteht
meiner Meinung nach zu häufig, wenn in der Zeittafel von
Datierung im Zusammenhang mit Manuskripten die Rede ist.
Ein anderes Beispiel: Wir haben bei Sattler fast durchgängig
eine Spätdatierung von Manuskripten, die für mich genau
so wenig gut begründet ist wie die Frühdatierung von
Manuskripten bei Beißner. Ein typischer Fall: 'vmtl. vor
der juli mitte reinschrift / 196 des mglw. schon in Hauptwil
vollständig entworfenen gesangs 'Am Quell der Donau'' (VII
31), und zwar 1802. Ich weiß nicht, wie Sattler auf die
Jahreszahl kommt. Bei Beißner steht: 1801. Beides ist gleich
sinnvoll oder gleich sinnlos, wenn nicht erläutert wird,
wie die Datierung zustande kommt.
GM Ich darf einmal etwas Positives dazwischen
setzen. Es gibt bei Sattler eine philologische Argumentation,
die wirklich Hand und Fuß hat. Keiner hat wohl so genau
Papierqualitäten, Tinten, gebrauchte Wasserzeichen usw.
beobachtet wie Sattler. Da gibt es material ausgewiesene Argumentationsgrundlagen,
und die werden auch evident gemacht, bestimmte Schreibzusammenhänge
zu rekonstruieren. Sie gehen zwar durch die besagte Vermischung
etwas verloren, aber das ist zumindest etwas, was ich positiv
notieren möchte.
RR Dem kann ich mich anschließen. Es wäre
aber sehr gut, und das sage ich jetzt ergänzend, man hätte
eine tabellarische Zusammenstellung von identischen Papieren,
ansatzweise identischen Tinten und von identischen Wasserzeichen
und dergleichen. Dann hätte man die Möglichkeit, diese
hier subliminal auf die Datierung einwirkenden Sachen besser
zu begreifen. Es ist aus der Edition selbst heraus unmöglich
und würde eine Revision der kompletten Ausgabe bedeuten,
wenn man sich darüber Klarheit verschaffen wollte.
Wenn man sagt, man hat damit auch ein positivistisches Erkenntnisziel
verknüpft, fehlen meines Erachtens Materialtabellen, die
für Sattlers stillschweigend vorgenommene Syllogismen, und
auch in seinem Interesse, eine Rolle spielten. So aber wirkt
es wie eine Kryptologie: Man ist nicht in die Geheimlehre initiiert,
und also versteht man sie nicht.
WG Als außenstehender Kritiker könnte
man über diese Ausgabe sagen, sie sei eben unwissenschaftlich.
Das denke ich jedoch nicht. Die Ausgabe ist vielmehr in einem
sehr emphatischen Sinne antiwissenschaftlich. Dazu ein kleines
Beispiel: In Bezug auf die drei letzten Gedichte der sogenannten
'Nachtgesänge' erfährt man im Zusammenhang einer
Satzkonstruktion, die mir nicht ganz klar geworden ist
daß sie 'auf die immer noch künftige, jenseits szientifischer
verhunzung und politischer vereinnahmung liegende wirkung des
Gesangs' deute (VII 47). Die Forderungen, die Du, Roland, stellst,
werden durch den Gestus der Ausgabe, durch den autoritativen
Charakter, den sie zunehmend gewonnen hat, abgeschmettert. Man
soll nicht fragen, sondern sich erst einmal gläubig darauf
einlassen. Die vom Herausgeber konstituierten Texte werden zu
heiligen Texten erklärt, und dies nicht im Sinne eines säkularisierten,
sondern eines neuen Heiligen. Das ist ein Umgang mit literarischer
Überlieferung, den ich ablehne. Deshalb ist diese Ausgabe
auch nicht experimentell, sondern greift zu Darstellungsformen,
die selbst schon semantisch sind, und zwar bis in die abstraktesten
Zahlen hinein. Die insgesamt 288 Segmente sind nicht durch die
Überlieferung gerechtfertigt, sondern durch eine Vorgabe
288 ist nämlich die Verdoppelung von 144, und 144
Tausend Gerechte sind es auch, die beim Jüngsten Gericht
übrig bleiben. (Meine Tante war bei den Zeugen Jehovas,
daher weiß ich das.) Es ist die Apokalypse des Johannes,
wo das steht (Off. 7, 4; 14,1). Die Zahl 144 ist also hochgradig
semantisch besetzt. Und schließlich sind es 2 x 12 Gesänge,
was als Quintessenz aus der Edition in Band 8 herausspringen
soll. Das verweist zunächst auf die 24 Stunden des Tages,
dann aber auch, in der Potenz, wiederum auf die Zahl 144. Diese
Zahlenmystik steckt in der Ausgabe drin, aber sie ist nicht aus
der Überlieferung abgeleitet, sondern sie wird an diese
von außen herangetragen und verdichtet sich zu einem Ordnungsschema,
das im Grunde keine Fragen mehr zuläßt. Oder eben
nur ketzerische.
RR Gegen ein Experiment mit einem abstrakten
Algorithmus wäre an sich nichts einzuwenden, wenn es als
solches offengelegt würde. Ich kann etwa die Vorgehensweise,
mit der Roland Barthes in 'S/Z' Balzac liest, verstehen, auch
wenn es nicht meine Art ist, mit Literatur umzugehen, denn Barthes
beschreibt vorweg genau das Artifizielle des Verfahrens. Die
Vermischung bei Sattler besteht ja darin, daß man die Vorgabe
des Ordnungssystems nicht durchschaut. Und Band 7, der als dokumentarischer
Band ausgewiesen ist, enthält nicht nur die Zeittafel, sondern,
auf sie folgend, Faksimiles mit Umschriften.
Schließlich das Register: Es ist überschrieben mit
'segmente (chronologisch) dokumentarischer teil' (VII 523). Das
Interessante ist, daß die einzelnen Segmente sie
sind nicht vollständig aufgeführt, weil eigenartigerweise
auch Drucke als Segmente zählen, die nur im editorischen
Teil der Ausgabe erscheinen wieder unter Oberkategorien
gefaßt werden, nämlich von 1 bis 24.
Diese Unterwerfung der einzelnen Bruchstücke und
ich sage jetzt ausdrücklich nicht: Segmente unter
die 24 Einheiten ist meines Erachtens willkürlich. Um ein
Beispiel zu nennen: Es gibt auf einer Handschriftenseite, die
wahnsinnig unübersichtlich ist, das mit anderer Tinte geschriebene
Wörtchen 'und'. Das bekommt nun eine Segmentnummer und wird
dann in einen anderen Zusammenhang eingebaut. Das halte ich für
völlig überzogen! Da steht irgendwo das isolierte Wörtchen
'und', und man kann es nirgendwo zuordnen. Aber warum muß
man es denn überhaupt irgendwo einordnen?
GM Die Willkürlichkeit der 24 Einheiten,
die im Segmentregister zu Band 7 zum ersten Mal erscheinen und
die dann in Band 8 als eine Art Obergliederung fungieren, wird
allerdings von Sattler im Vorwort zu Band 7 eigens betont: 'die
bei der arbeit hifreiche einteilung in gliedernde abschnitte
[1] [24] wurde in die edition übernommen.' Sattler
stellt also in diesem Fall heraus, daß es sich um eine
von ihm eingeführte artifizielle Gliederung des überlieferten
Materials handelt, um eine künstliche Gruppierung von Segmenten,
die für die editorische Arbeit bessere Überschaubarkeit
bringen soll und die sich, wie er sagt, bewährt habe. Wenn
er hier wiederum auf die magische Zahl 24 kommt (auch die Einteilung
der Handschriften in 6 Hauptgruppen scheint mir nicht frei von
diesem Zahlenspiel zu sein), kann man das immerhin als selbstironischen
Hinweis auf das 'Gemachtsein' der Zählungen werten. Die
mystisch erscheinende Zahlenspielerei wird überdeutlich
hervorgehoben, wird sozusagen selbstreferentiell 'mit dem Pedal'
gespielt, wie die Russischen Formalisten sagen würden, und
damit von einer allzu großen semantischen Überfrachtung
freigestellt.
*
RR Bei
Dokumenten muß man sich fragen, ob es sich um ideale oder
um materiale Gebilde handelt. Im juristischen Sinne sind mir
Dokumente eher als materiale Gebilde geläufig, etwa als
ein Fetzen Papier: Auf dessen Vorderseite kann sich eine Wäscherechnung,
auf der Rückseite eine Notiz befinden, und doch handelt
es sich um ein Dokument und geht auch als ein solches zu den
Akten. Bei Sattler scheint das Dokument, obwohl es materiale
Bezüge hat und die Faksimiles so situiert werden, als ob
sie Dokumente abbilden, ein ideales Gebilde zu sein. Dokumentiert
werden nämlich die Segmente.
Daraus ergibt sich für mich ein ganzes Bündel gravierender
Probleme. Zunächst: Es gibt hier, wie Gadamer wohl sagen
würde, eine Antizipation auf Vollkommenheit, die als solche
gar nicht erläutert, sondern kurzerhand vorausgesetzt wird,
so als ob das Überlieferte auch tatsächlich v o l l s t ä n d i g überliefert
sei. Exemplarisch ist folgende Aussage in der Einleitung des
editorischen Teils: 'schon mit den 1797 marginal in Gotthold
Stäudlins 'Musenalmanach fürs Jahr 1792' eingetragenen,
stellenweise kaum noch leserlichen bleinotaten [
] sind
innerstes motiv und movens des von jugend an versuchten, aber
erst im sommer 1802 wirklich beginnenden gesangs festgehalten;
gleichwohl ging kein gedanke und kaum ein wort dieser vorstufen
verloren' (VIII 535). Unklar bleibt, ob sich diese Aussage auf
einen bestimmten Text Hölderlins oder seine Dichtung in
der Spätzeit überhaupt bezieht; doch selbst wenn es
sich nur auf den einen Text bezieht, ist es eine Behauptung,
die einer plausiblen Begründung bedürfte!
Es bedeutet nämlich, daß Sattler über Einsichten
in Sachverhalte zu verfügen vorgibt, in die man schlechterdings
keine Einsicht haben kann, nämlich in Verschollenes. Bedenklich
daran ist, daß ich meinen Phantasieraum von vorneherein
stark einschränke, indem ich dasjenige, was überliefert
ist, für vollständig überliefert erkläre.
Wie aber kann ich wissen, ob nicht zu den Texten, von denen er
hier redet, nicht auch Entwürfe existiert haben, die nicht
überliefert sind? Vorausgesetzt wird von Sattler statt dessen,
daß hier alles ediert ist, was Hölderlin je geschrieben
hat. Dieses Konzept klammert ein Problem gänzlich aus, das
Hölderlin gerade in der Spätzeit interessiert hat,
nämlich das Verschollene: Wie kann ich mich überhaupt
auf Verschollenes beziehen, wenn dies a priori nicht in den Raum
meiner Kenntnisse gehört? Muß man tatsächlich
den Raum des Möglichen vollständig auf den des Wirklichen
reduzieren?
WG Die Ausblendung des Verschollenen ist ein
Effekt der vorweggenommenen Vollkommenheit, wie sie sich auch
in den Zahlenspielen zeigt. Das Operieren mit der '24' als fast
schon religiös besetzter Zahl schafft einen irrsinnigen
Sinn-Input in eine möglicherweise nicht durchgängig
sinnvolle Überlieferung, die dann auch keine Lücken
mehr haben darf. Da kann der Herausgeber nur hoffen, daß
nicht plötzlich doch noch Hölderlin-Texte gefunden
werden
PS Das sehe ich auch so. Außerdem hat
die von Sattler behauptete Lückenlosigkeit der Überlieferung
die Pointe, daß alles, was überliefert vorliegt, als
durch und durch autorisiert gilt. So dient sie zu nichts weniger
als zur Autorisierung der Edition.
GM Lückenlosigkeit der Überlieferung
meint bei Sattler natürlich nicht, daß alles, was
Hölderlin je geschrieben hat, überliefert ist, sondern
daß alles, was Hölderlin für bewahrenswert befunden
hat, bewahrt worden ist. Hölderlin ist selbst, wie es bei
Sattler heißt, der Zensus der Überlieferung geworden.
Er vernichtet alles das, was für ihn nicht bedeutsam ist.
Positiv gesprochen bedeutet diese Annahme Sattlers: Alles, was
zur Restitution seiner 'gesänge' von Bedeutung ist, ist
uns auch erhalten.
PS Ich lese einmal die Stelle vor, die es in
diesem Kontext zu deuten gälte: 'die fragmentarisierung
weiterer reinschriften und entwürfe (wie auch das gänzliche
fehlen einiger entwürfe) d e u t e t auf
einen abschließenden zensus, bei welchem alle n i c h t u n m i t t e l b a r zum
corpus des integralen gesangs gehörenden, zu seiner restitution
nicht erforderlichen papiere ausgesondert wurden' (VIII 535).
Eine hinreichend schillernde Formulierung, eine Melange aus Beobachtung
und Setzung. Ich wüßte gerne, wie das Wort 'deutet'
in diesem Satz zu verstehen wäre. Ferner: Was meint 'nicht
unmittelbar
gehörenden'? Und schließlich: Das
Nicht-Gehörende ist doch keineswegs zwangsläufig identisch
mit dem Nicht-Erforderlichen. Ein für die Edition
zentraler Satz wird mit derart vielen Implikationen bepackt,
daß es mir unmöglich wird zu verstehen, was mit ihm
eigentlich gesagt werden soll.
WG Der 'abschließende zensus' ist etwas,
das Hölderlin herausgeberisch unterstellt wird und dazu
führt, daß ein Entwurf wie die sog. 'Feiertagshymne'
aus dem 'corpus des [
] gesangs' herausfällt. Hier
wird nun doch bedenklich reduktionistisch mit der Überlieferung
umgegangen.
RR Das Problem beschränkt sich nicht auf
die offene Frage: Was wäre, wenn es noch Handschriften gäbe,
von denen wir keine Kenntnis haben? Es zeigt sich noch von einer
anderen Seite: bei den Handschriften, die zwar erhalten sind,
aber für diese Gedanken keine Rolle spielen. Immer ist die
Vorstellung eines im Wortsinn Exklusiven leitend, ebenso die
Setzung, daß keine Kontingenz existieren darf. Man kann
von hier aus überleiten zum Begriff des Dokuments, von dem
gesagt werden muß: Man kann zwar die Dokumente vollständig
sammeln, aber ob es wirklich alle Dokumente sind, die existieren,
ist eine andere Frage. Wie man diese Frage beantwortet, scheint
davon abhängig zu sein, ob man die Existenz von Kontingenz
erträgt oder nicht.
Mit der Abschließung nach außen korreliert eine starke
Einschließung nach innen. Dabei hängt der Begriff
des Dokuments für mich eng zusammen mit dem des Zeichens,
der weder, wie meistens bei Sattler, weiter erläutert wird
noch explizit, d. h. als Begriff auftaucht. Dennoch ist er unentwegt
präsent, weil absolut alles von Schmauchspuren bis
Weinflecken und was immer auf den Papieren zu finden ist
als Zeichen gedeutet wird. Ich spreche nicht dagegen, Bestimmtes
semantisch aufzuladen, aber es gibt eine vom Editor zu bestimmende
Grenze zwischen Ereignissen, die kontingenterweise beim Schreiben
passieren können, und Phänomenen, die als absichtlich
in der Handschrift auftretend zu beschreiben sind.
Diese Grenze mag schwimmen, aber ihre Existenz zu leugnen ist
eine ganz andere These. Den Befund von sieben oder acht kleinen
Punkten zu deuten, es handele sich dabei um eine Signatur, heißt,
daß ich mir das Tropfen der Feder nicht vorstellen kann.
Nur ein Beispiel: Geschrieben steht 'Bis zürnend er' (VII
129), dann folgen leicht diagonale, schräge Doppelstriche.
Im Faksimile sieht man, daß an dieser Stelle jemand wohl
getestet hat, wie die Feder läuft. Diese Doppelstriche sind
als Segment gezählt und mit einer Semantik aufgeladen, deren
Plausibilität nur behauptet ist. Sie gehören zu den
Passagen, die wie folgt erläutert werden und zentral sind
für dasjenige, was Sattler als Konstruktion voraussetzt:
'der korrektur am geschönten bild einer welt diesseits der
entscheidung entspricht das syllabische, die segmentierte gestalt
des gesangs vorgebende diagramm S175
: 22' (VIII 526).
Daß die Doppelstriche poetologische Reflexionen sind
rein technisch gesehen können sie ja einfach Momente der
Federführung sein , müßte als Hypothese
gekennzeichnet werden. Sie als Moment der Konstruktion zu nehmen,
ist für mich nicht nachvollziehbar. Auszuschließen,
hier habe Hölderlin nur die Feder eingeschrieben, hängt
mit dem Ausschluß von Kontingenz in Sattlers Darstellungsform
zusammen.
GM Auf derselben Seite wie die Doppelstriche
(VII 129) befinden sich diese ominösen Kastenklammern ohne
Inhalt. Unter der Rubrik 'zur edition' findet man die Erklärung:
'textbegleitendes zeichen' (VII 8). Ich habe diese 'textbegleitenden
zeichen' auf diesen und anderen Faksimiles nicht ausmachen können.
Hier wird also etwas dokumentiert, was zumindest für den
Benutzer der Ausgabe nicht existent ist. Wenn man verfolgt, welche
Relevanz diese 'textbegleitenden zeichen' für die Rekonstruktion
von Segmentzusammenhängen haben, wird man den Eindruck nicht
los, daß sie erfunden wurden, um bestimmte Deutungen zu
ermöglichen. So dient beispielsweise auf Blatt 323/3 ein
Rauchloch von Sattler gedeutet als 'irregulär 'an
harzigen Bäumen' sprossendes blatt' (VIII 901) als
Signal, ein Textbruchstück auf Blatt 307/72 als Textänderung
dem Gedicht 'Der Ister' zuzuordnen und zugleich den Zeichencharakter,
der die a-Version von der b-Version
unterscheiden soll, zu stützen. Es wird also mit der Einführung
der 'textbegleitenden zeichen' ein Kriterium gewonnen, um bestimmte
Deutungen und Textzuordnungen zu rechtfertigen. Umgekehrt wäre
also festzustellen, daß durch die Interpretation die Dokumentation
von Ephemerem oder gar Nicht-Existentem semantisch aufgeladen
wird.
RR An solchen Stellen wünscht man sich,
daß die Edition keine Reproduktionen verwendete, die die
Undeutlichkeit der Vorlage nochmals verdoppeln, sondern Ausschnittsvergrößerungen
oder andere Darstellungsweisen, die die Manuskriptbefunde versinnlichen,
gerade wenn sie eine so bedeutende Rolle spielen. Überhaupt
war es keine kluge Entscheidung, den Kontrast bei der Wiedergabe
der Handschrift wieder zurückzunehmen, wie das zu einem
bestimmten Punkt des Produktionsprozesses hier geschah.
Darüber hinaus sind die, vorsichtig gesagt, asemantischen
Momente der Handschriftenüberlieferung natürlich deshalb
von so großer Bedeutung, weil sie von Beißner oft
nicht wahrgenommen worden sind. Wenn ich an einer Stelle zeigen
kann, d a ß sie eine Bedeutung
haben es gibt etwa in Hölderlins poetologischem Text
'Wenn der Dichter einmal des Geistes mächtig wurde' Passagen,
in denen Kurvenformen vorkommen und von denen bisher keine vernünftige
Interpretation gegeben ist, man kann sich aber vorstellen, daß
diese Kurvenformen mit dem explizierten Gedankengang zusammenhängen
, so gibt das mir noch nicht das Recht, für alle anderen
Stellen, an denen ich merkwürdige Artefakte in der Handschrift
habe, gleichsam automatisch zu unterstellen, daß auch sie
sinnhaltig sind. Das muß in jedem Einzelfall geprüft
werden. Die Voreinstellung kann jedoch nicht in der Voraussetzung
bestehen, daß sie Sinn h a b e n , sondern
nur, daß sie Sinn h a b e n k ö n n t e n
dann aber muß das jeweils begründet werden.
Um einen allgemeinen Punkt hervorzuheben: Zeichen gibt es nicht
von sich aus, sondern wir n e h m e n
etwas als Zeichen für etwas. Es ist also von Kontextbedingungen
abhängig, daß uns etwas als Zeichen auffällt.
Damit es als solches akzeptiert werden kann, bedarf es einer
Erläuterung. Mithilfe von Phänomenen, die ich noch
nicht als Zeichen wahrnehme, kann ich nicht andere, nämlich
semantische Zeichen, in ihrer Abfolge begründen. Von Sattler
wird jedes Federputzen als zeichenhaft vorausgesetzt, ohne das
eigens zu begründen; statt dessen wird sofort davon gehandelt,
worauf es verweist.
GM Naja, es gibt auf den Faksimiles schon eine
ganze Menge Dinge zu sehen, die auch Sattler nicht als Zeichen
interpretiert. Er geht also auch selektiv vor, aber richtig ist
schon, daß bei ihm der Hang zu beobachten ist, möglichst
alles, was auf der Handschrift zu sehen ist, zu verwerten und
mit einer ganz bestimmten Bedeutung aufzuladen.
PS Dieser Hang zeigt sich für mich bereits
auf der Ebene der Materialbeschreibung, wo Bedeutung mitunter
durch die Art und Weise der Dokumentation von Befunden insinuiert
wird. Ich verweise auf zwei Stellen, bei denen sich Brandlöcher
bzw. Schmauchflecken in den Handschriften finden. Im einen Fall
wird es für die recto-Seite vermerkt, bei der verso-Seite
aber nicht, im anderen ist es umgekehrt (VII 258 bzw. 261; 133
bzw. 130). Ein weiteres Beispiel: Auf Seite 321 ist, Zeile 25,
'ein eingekratztes loch' notiert. Auch hier wird auf der recto-Seite
nicht darauf verwiesen, als ob nicht jedes Blatt seine zwei Seiten
hätte.
Dasselbe gilt für die Stellen, die in der Reproduktion nicht
zu erkennen sind, auf S. 285 bzw. S. 313. In beiden Fällen
heißt es: 'perspektivische tuschzeichnungen: stuhl'. Wenn
aber mit Tusche gezeichnet ist, ist es umso unverständlicher,
warum man davon nichts sehen kann. Kommt das von der schlechten
Qualität der Reproduktionen? Wir haben die Sache mit der
tintenleeren Feder, mit den Traubenkronen-Wasserzeichen, was
oft vorkommt: Wieso wird dergleichen nicht wenigstens einmal
durch Infrarot oder Blattpausen dokumentarisch gezeigt?
WG Nocheinmal: Ein Zeichen ist nicht etwas,
was da ist, es kann auch nicht eigentlich dokumentiert, sondern
nur gelesen werden. Prekär wird es unter Umständen
dann, wenn das, was als Zeichen gedeutet werden kann, über
die 24 Buchstaben hinausgeht. Es führt nämlich nicht
nur einfach zu einem Zuwachs an Bedeutung, sondern es enthält
auch ein destruktives Moment. Eine der schönsten Selbstbezüglichkeiten
solcher Zeichenlese findet sich im Schluß von 'Patmos',
wo es heißt: 'und [b]estehendes wohl / Gedeutet.', zu dem
Wort 'Gedeutet' ist als Anmerkung gesagt: 'markierung unter 'Gedeutet':
StA fehlt' (VII 421). Die fragliche Markierung ist schwach zu
erkennen: zwei Pünktchen, die dem Herausgeber zum Anlaß
erneuter Segmentierung werden. Wobei sich mir allerdings nicht
erschlossen hat, welche Markierung welchem Segment zugeordnet
wird. Soweit ich verstanden habe, ist der Punkt unter 'Gedeutet'
als Teil von S15715
zu verstehen und führt jedenfalls zu weiteren herausgeberischen
Eingriffen Sattlers (VIII 841). Interessanterweise findet sich
aber dasselbe Spiel mit den in der 'Stuttgarter Ausgabe' fehlenden
Zeichen auch schon in der 'Patmos'-Niederschrift im Homburger
Folioheft. Wieder unter dem Wort 'Gedeutet' finden sich dort
zwei Markierungen diesmal immerhin deutlich sichtbar
welche, aufgefaßt als 'aufhebungszeichen' wiederum in 'StA
fehlen' (VII 257). Und hier werden sie vom Herausgeber so verstanden,
daß sie 'die jetzt auf zwei wörter verkürzte
schlußzeile a disponieren' (VIII 943).
Anders gesagt, der Schluss von 'Patmos' lautet jetzt nicht mehr:
'Dem folgt deutscher Gesang', sondern endet wahrhaft performativ
mit dem Wort 'Gedeutet'. Auch wenn mir die Kritik am nationalistischen
Beigeschmack eines 'deutschen' Gesangs ebensosehr wie an dem
eines 'vaterländischen' sympathisch ist, und mir insofern
auch der Verzicht auf den letzten Satz von 'Patmos' nicht so
schwer fiele, ist das philologisch alles andere als gut gedeutet.
RR Die fraglichen Tinten-/Papierphänomene
werden häufig ja nicht nur ohne weitere Begründung
mit Semantik aufgeladen, sondern haben darüber hinaus gewissermaßen
einen übergeordneten Charakter, weil von ihnen redaktionelle
Züge ausgehen. Sie liegen also nicht auf derselben Ebene
mit dem, was wir in Buchstaben vorliegen haben, sondern regulieren
diese: Umstellungen u. dgl. werden Punkten untergeschoben; wenn
die Tinte falsch über das Papier läuft, wird daraus
auf die Anordnung von Texteinheiten geschlossen, die ihrerseits
die Zeichenhaftigkeit des Tintenbefundes unterstützen sollen.
Auch hier findet sich eine Rekursion in der Begründung.
Zumindest in der ersten Stellung des Gedankens dazu wären
diese Sachen nämlich strikt voneinander zu trennen. Wenn
ich Asemisches mit Semantik versehe, spiele ich anderes, das
semantisch ist, in seiner Bedeutung herunter, weil die Grenze
zwischen dem Bedeutungsvollen und dem Bedeutungslosen entfällt.
Daß Sattler sein Augenmerk vornehmlich auf solche Sachen
richtet, scheint mir an der Werkchronologie zu liegen, denn diese
sind in der Beschreibung Beißners zu kurz gekommen und
dort, wo sie regelnd wirkten, gar nicht gesehen worden. So ist
in der Tat der Schnitt oben im 'Stuttgarter Foliobuch' als ein
ordnendes Moment dieses Heftes übersehen worden. Dieser
Schnitt hat an dieser Stelle durchaus eine explizierbare Bedeutung,
und man kann zeigen, welche Auswirkungen er hat. Daraus ist jedoch
nicht zu schließen, daß jeder Einriß auch eine
Bedeutung haben muß, und wenn ein Defekt des Überlieferungsträgers
etwas bedeutet, dann nur nach Einbeziehung der Kontexte, nach
Explizierung von Gründen, aber nicht als Generalunterstellung.
GM In diesen Begriff der Dokumentation reicht
schon ein bestimmtes Hölderlin-Verständnis hinein.
Als Grundtenor nicht nur durch diese, sondern auch schon
durch vorhergehende Bände ist wahrzunehmen, daß
Sattler Hölderlin unterstellt, er habe eine Geheimsprache
geschrieben, die nicht ohne weiteres zu entziffern ist, und wenn,
dann durch Kundige, eventuell erst in zukünftiger Zeit.
Dieses Muster führt dazu und präpariert die Dokumente
so, daß Ansatzpunkte für die vorgebliche Dechiffrierung
vorhanden sind. Sie sind für Sattler nur allzu oft Beleg
für eine 'verdunkelnde kunst' (VIII 901).
RR An die Frage, was ist ein Zeichen, schließt
sich gleich die Frage an: Was ist ein Segment? Wenn ich es richtig
verstanden habe, ist für Sattler das Segment die kleinste
bedeutungstragende Einheit innerhalb des Ganzen. Um das Problemfeld
zu eröffnen, möchte ich die Situation schildern, in
der wir uns befanden, als wir Kafkas 'Oxforder Quarthefte' edierten.
In ihnen finden sich Aufzeichnungen, die zum Teil miteinander
zusammenhängen, die nicht alle linear hintereinander, sondern
auch parallel, teilweise wechselnd von Heft zu Heft geschrieben
worden sind. Wir überlegten, was für einen numerus
currens wir ihnen geben sollten, damit die größeren
Bedeutungseinheiten einen Namen erhalten. Der Vorschlag 'Segment'
schien uns unbrauchbar für das, was wir bei Kafka vorliegen
haben, weil er ein ganzes Problem in sich bereits aufgelöst
enthält, nämlich das Problem des Zusammenhangs der
Segmente. Segmente sind Teile, die immer nur im Kontext von Kreisen
eine Rolle spielen, bei Hölderlin etwa bei der Stelle mit
dem 'hesperischen orbis', die dem Band 8 explizit vorangestellt
wird.
Mit der Einteilung in Segmente wird darum immer schon ein Ausgriff
auf den Totalzusammenhang genommen. Wir haben uns bei Kafka deshalb
dafür entschieden, es 'Aufzeichnungen' zu nennen
denn Aufzeichnungen können ergänzt werden, es können
auch welche fehlen, ohne daß wir mit dieser Benennung eine
implizite Aussage darüber machen, was das Ganze ist, in
dem die einzelnen Aufzeichnungen enthalten sind.
Mir hat sich bei 'segment' zudem folgende Frage aufgedrängt:
Wieso orientiere ich die Segmentierung in ihrer einfachen Sukzession
von Ordnungszahlen nicht am Material? Das würde den dokumentarischen
Charakter dieser Ordnungszahlen unterstreichen. Bei Sattler werden
die Segmente jedoch nicht in einer Abfolge, die das Material
vorgibt, gezählt, sondern bis zur Undurchschaubarkeit über
es verteilt. Dabei hilft auch das Register nicht sonderlich weiter,
denn man muß wissen, daß auch Drucktexte wie 'Der
Winkel von Hahrdt' als Segmente zählen, aber im Register
zu Band 8 nur die Handschriften aufgeführt werden. 'Der
Winkel von Hahrdt' zählt genauso als Segment wie das 'l'
oder 'und', aber nicht so, daß nach den Zusammenhängen
auf der entsprechenden Seite ein numerus currens gemacht wird,
sondern schon verquickt mit Deutungszusammenhängen.
WG Das ist es ja, was die Ausgabe auch so schwer
lesbar macht. Beim Lesen möchte man sich eigentlich an den
Handschriften, an den Dokumenten orientieren, doch das wird erschwert
durch ihre undurchsichtige Durchnumerierung. Band 7 kann man
ausgabenimmanent nur über die Segmentierung in Band 8 lesen.
Die Segmentierung ist eine extrem aufgeladene, interpretatorische
Kategorie, die über die Dokumente gelegt wird. Vieles findet
man in Band 7 nicht, wenn man nicht zufällig weiß,
wie das Segment anfängt, und das ist sehr lästig.
GM Das Segment ist in der Tat die grundsätzliche
Ordnungseinheit für den Band 8. Es sind insgesamt 288, wobei
einzelne bis zu 18mal unterteilt werden, es gibt etwa ein Segment
74,13. Auf der anderen Seite gibt es, zumindest im Vokabular
von Sattler, Segmentgruppen. Ich habe nicht recht verstanden,
nach welchen Kriterien sich Segmente zu Gruppen zusammenschließen.
Darüber hinaus gibt es innerhalb eines Teilsegmentes in
der Beschreibung wiederum gesonderte Segmente.
Mit dem Wort 'Segment' verbinde ich zunächst nichts anders
als das, was ich als 'Bruchstück' bezeichnen würde.
Beim Segment aber ist sicherlich das Ganze, wie Roland es eben
dargestellt hat, in der Form des Kreises vorstellbar. Darüber
hinaus, und das halte ich für entscheidender, steckt in
dem Wort 'Segment' die Art, in der es entstanden ist. Beim Bruchstück
ist unklar, wodurch es zerbrochen ist, das Segment hingegen ist
durch Schneiden entstanden (von lat. 'secare'). Hier gibt es
also jemanden, der das Ganze, vermutlich einen Kreis, geschnitten
hat. Das Segment ist also etwas bereits absichtlich Zerteiltes.
Wir müssen über das Ganze und über die Instanz
sprechen, die diese Teilung vorgenommen hat. Dieses Segment tritt
an die Stelle der 'Textstufe', wie Sattler in den zuvor erschienenen
Bänden die einzelnen Abschnitte der Entstehung innerhalb
der linearen Darstellung nennt, die zu einem Gedicht gehören.
Der Begriff der Textstufe entfällt in den Bänden 7/8.
WG Ich glaube, mit dem Begriff 'segment' wird
unterstellt, Hölderlin selbst habe seinen Gesang zerteilt
und verstreut, damit er in späterer Zeit wieder zusammengefügt
werde. Das ist die editorische Grundannahme für die Textkonstitution
in den Bänden 7/8.
GM Dafür gebraucht Sattler, wie ich meine,
das Wort 'fragmentarisieren'. Wir haben schon verschiedentlich
auf den Satz aus der Vorrede zu Band 8 verwiesen: 'die fragmentarisierung
[
] deutet auf einen abschließenden zensus'. Fragmentarisieren
meint offenbar den von Hölderlin angeblich bewußt
eingesetzten Prozeß des Herstellens eines Segments.
WG In der editorischen Praxis passiert nun etwas
Interessantes: Die ursprüngliche ideale Vorstellung, daß
man 288 Segmente hat, reicht nicht aus. Wie bei einer 'historisch
gewachsenen' Bibliothek, die mit der Zeit eine immer absurdere
Katalogisierung erf ährt, weil bestimmte Sachen beieinander
stehen müssen, erhalten die einzelnen Segmente immer wieder
zusätzliche Unternummern. 'Friedensfeier' zum Beispiel erscheint
als ein Segment, das ein Untersegment von einem Segment ist,
nämlich als S2012
, bzw. S2013
(VIII 638-644). Umgekehrt hat man einzelne Wörter oder Buchstaben,
die ein Segment für sich darstellen sollen. Das S190
beispielsweise besteht aus zwei Wörtern: 'dran Schuldig.'
(VIII 871), S66 besteht nur aus einem
Buchstaben: 'H.', der von Sattler als Abkürzung für
Herkules gedeutet wird (VII 711), in der 'Stuttgarter Ausgabe'
aber noch ein 'Schnörkel als Federprobe' war (VII 446).
Ein weiteres Ein-Buchstaben-Segment ist S2783
, das diesmal von der 'Stuttgarter Ausgabe' als 'h' (VII 377)
, von der 'Frankfurter' aber als 'versalie B' gelesen wird. Eigentlich
wird das Zeichen aber von Sattler als Zeichnung zweier Flüsse
gedeutet, wie man im Kommentar zum Segment erfährt (VIII
985).
RR 'Segment' kann demnach einerseits ein einzelner
Buchstabe, andererseits ein kompletter Gedichttext sein, z. B.
'Hälfte des Lebens' im Druck. Manches von dem, was Sattler
setzt, begreife ich als kontraintuitiv. Ein Beispiel auf S. 294
(das Segment 101), das in die Zeittafel ausstrahlt (VII 47):
Hier geht es um die Gedichte, die später im Wilmanschen
'Taschenbuch für das Jahr 1805' aufgelegt worden sind. Mit
erstaunlicher Diktion heißt es in der Zeittafel: 'mit der
anscheinend zusammenhanglos über S931
: 22 'Gebirg hänget See
' notierten minuskel S101
'l' ist die überschrift der palinodie S102 'Hälfte des Lebens'
gefunden'.
Auf der fraglichen Seite kann ich zwar erkennen, daß dort
etwas oben drüber geschrieben worden ist und es ein 'l'
sein soll, aber ich würde erst einmal überlegen, ob
das 'l' in den Kontext dieser Stelle gehört. Aus dem, was
Sattler expliziert, kann ich nicht erkennen, daß das 'l'
in irgendeiner Weise mit der Findung von 'Hälfte des Lebens'
zusammenhängt. Wenn irgendwo in dem Gedicht isoliert ein
einfaches 'l' gesetzt ist, wie will man dann plausibel herleiten,
dieser Buchstabe habe etwas mit 'Hälfte des Lebens' zu tun?
Wenn Sattler eine so starke Behauptung aufstellt, kann es nicht
sein, daß die Begründung oder Erläuterung umso
schwächer wird, je stärker die Behauptung ist. Ich
hätte schon gerne gewußt, was er sich bei dieser starken
Behauptung gedacht hat. Sie ist alles andere als selbstverständlich.
Und ebenso wie das eine Extrem, daß nämlich ein einzelner
Buchstabe Segment-Status bekommt, halte ich auch das andere Extrem,
daß ich zu etwas, das wie 'Hälfte des Lebens' als
Druck in sich abgeschlossen ist, Segment sage, für kontraintuitiv.
WG 'Hälfte des Lebens' ist übrigens
noch in einem ganz anderen Sinne 'segmentiert'. Das Gedicht gehört
ja eigentlich zu den neun bei Wilmans publizierten Gedichten,
die als 'Nachtgesänge' bekannt geworden sind und die für
das Spätwerk Hölderlins eine unbestritten programmatische
Bedeutung haben, weil er dort bestimmte Formexperimente vorführt,
zwischen der gebundenen Form der sechs Oden und der metrisch
freieren Form der drei übrigen Gedichte. In der FHA werden
diese Gedichte voneinander getrennt. Es kommen nur die drei,
dann zum guten Ende auch noch als 'paralipomena' bezeichneten
(VIII 756), metrisch nicht erkennbar gebundenen Texte aus den
neun, wahrscheinlich von Hölderlin selbst durchnumerierten
Gedichten zum Abdruck; die andern sechs sind in den 'Oden'-Bänden
zu suchen, wie im übrigen schon bei Beißner. Auch
das ist ein Auswuchs des unseligen 'Segment'-Denkens. Die Vorstellung
des Herausgebers, die Grundidee von Hölderlin erfaßt
zu haben, ist so stark, daß sich jedes 'segment' wie unter
einem starken Magnet zurechtbiegt, um diese Grundidee zu bestätigen.
Da das Material selbst aber ich meine das in einem ästhetisch
positiven Sinne chaotisch ist, entsteht über die
herausgeberisch behauptete oder verfügte Hyperlogik eine
eher bedrückende Unlesbarkeit, gerade in diesen beiden Bänden.
RR Wir haben festgestellt, daß Sattlers
Hypothese Zahlenregularitäten unterstellt. Hölderlin
reflektiert teilweise selbst auf Zahlenverhältnisse, und
zwar so, daß bestimmte Zahlenvorstellungen gerade dann,
wenn man sie erwartet, nicht eingelöst werden. Wir haben
es mit Texten zu tun, die nicht vor der Frage: Regularität
oder Irregularität stehen, sondern die dieses Verhältnis
zu ihrem Thema haben. Der klassische Fall ist 'Andenken'. Wenn
es nach Sattler ginge, müßte das Gedicht wahrscheinlich
60 Verse haben, und nicht 59, bestehend aus vier Strophen zu
12 Versen und einer zu elf. Die Wahrnehmung gerade eines solchen
Gedichtes sollte flexibler machen für die Einschätzung
metrischer und zahlenspezifischer Verhältnisse. Man kann
nicht anhand einer Fixierung auf runde Zahlen Konstruktionen
unterstellen, sondern man muß den Zusammenhang der äußeren
Formalitäten und der Semantik des Ausgesprochenen ref lektieren.
Es ist signifikant, daß gerade bei 'Andenken' die Defizienz
in der Zahlengestalt, wenn man es überhaupt so sagen will,
mit dem emphatischen 'Was bleibet aber, stiften die Dichter'
einhergeht. Da gibt es einen Konnex, daß ausgerechnet diese
Strophe elf und nicht zwölf Verse hat. Der abschließende,
ebenmäßige Charakter, den man bei zwölf Versen
hätte, wird gerade durch die Form unterlaufen. Solche Sachen
lassen sich nicht kontextübergreifend und pauschal für
alle Gedichte klären, sondern verlangen den Einstieg in
die jeweiligen Gedichte und die Prüfung des individuellen
Sachverhalts. Zahlenspekulationen interessieren mich sehr wohl,
nur darf man dabei nicht so naiv sein und meinen, sie seien kontextinvariant.
Gerade bei Zahlen ist der irreguläre Ablauf das eigentlich
Interessante.
Nun aber zu der Art der textgenetischen Darstellung, wie sie
bereits in den Umschriften gegeben wird. Mir ist aufgefallen,
daß bereits in der Kolumne am Kopf der Seite und in den
gegebenen Annotationen stark vom Dokumentarischen abgewichen
wird. Die Seiten sind polyperspektivisch gestaltet; diese Polyperspektivik
erkennt man schon daran, daß ich am Kopf der Seiten Verweise
auf die Segmente habe. Die Nützlichkeit dieser Verweise
bezweif le ich, denn sie tragen nichts zum besseren Verständnis
bei, sondern machen die Seite nur unübersichtlicher.
Zweitens haben wir unten extensiv Annotationen über die
Unterschiede zur 'Stuttgarter Ausgabe', was mich im Grunde gar
nicht interessiert, aber das ist wahrscheinlich aus der Geschichte
der Ausgabe erklärbar. In dem deskriptiven Teil finden sich
jedoch immer wieder Momente der Deutung. Das betrifft die Auszeichnung
innerhalb des Textes manches erscheint in Fettschrift
, aber vor allem asemische Vorkommnisse im Manuskript,
die semantische Bedeutung zugewiesen bekommen.
Drittens gibt es bestimmte Darstellungsformen, bei denen ich
nicht sicher bin, ob sie vom Editor der Transkription implantiert
worden sind oder ob sie der Handschrift tatsächlich inhärent
sind. Ein wichtiges Beispiel finde ich auf S. 350, das insofern
vorbelastet ist, weil es im Einleitungsband der Frankfurter Hölderlin-Ausgabe
quasi als Motto abgedruckt war: '(und mich leset) [
] ihr
Blüthen von Deutsch/(l)Land'. Ich habe immer wieder versucht,
in der Handschrift das Wort 'Deutschland' so zu lesen, wie Sattler
es transkribiert hat. Ich kann darin beim besten Willen weder
eine Virgel noch ein Zeichen für einen Zeilenbruch erkennen.
Das Wort 'Deutschland' steht normal in einer Zeile. Wenn an dieser
Stelle ein Zeilenbruch von Hölderlin angezeigt wäre,
dann haben wir mindestens 999 weitere Instanzen, in denen es
eigentlich auch angezeigt werden müßte.
Die Bedeutung dieser Stelle liegt darin, daß Sattler Einwände
gegen die Rede von Versen hat. Dann spricht er, dem entgegen,
davon, daß Hölderlin das Kunstmittel der Zeilenbrechung
im Wort anwendet (VIII 540). Ich habe den Eindruck, daß
die Transkription, die Sattler hier gibt, einen von ihm selber
erst produzierten Eingriff wiedergibt, der in der Handschrift
so nicht aufzufinden ist. Falls man tatsächlich die Existenz
von so etwas behauptet wie einer Zeilenbrechung im Wort und diese
ein Kunstmittel wäre, sollte man zunächst einmal erläutern,
wie überhaupt bei Hölderlin das Verhältnis von
Vers und Zeile ist. Mit einer einfachen Behauptung ist es nicht
getan. Da das in der Handschrift so nicht zu lesen ist, werden
mit der Rede von der Zeilenbrechung im Wort die eigentlichen
Fragen auf einen Nebenschauplatz abgedrängt: Wie werden
aus solchen Notizen Verse? Wie wird daraus ein Gedicht?
Auf der einen Seite in der Konstruktion des Bandes keinen Akzent
auf die semantische Kraft der Versgrenze zu legen, auf der anderen
Seite das Theorem zu statuieren, es gebe bei Hölderlin so
etwas wie eine intendierte Zeilenbrechung im Wort (nicht intendiert
gibts das ja in jeder Tageszeitung), nun ja, das ist ein
bisserl eine arge Zumutung.
WG Ich denke, hier ist eine bestimmte Deutung
von Hölderlin am Werk, nämlich diejenige, daß
Hölderlin sich aus allen Konventionen des Schreibens und
des Dichtens gelöst habe. Das ließe sich vielleicht
mit den Wilmans-Briefen begründen, wo Hölderlin von
einer 'noch kinderähnlichen Kultur' spricht, in der sich
der Dichter opfert. Diese 'noch kinderähnliche Kultur' entspräche
die traditionelle Verssprache, während die eigentliche Dichtung
der 'Vaterländischen Gesänge' darüber hinausginge.
Meines Erachtens wäre es aber ganz kurzschlüssig, zu
denken, daß darum Verssprache und Metrik verabschiedet
seien.
*
Ich versuche nun
an dieser Stelle einen Übergang von Band 7 zu Band 8, dem
eigentlich editorischen Geschäft, und setze bei den akribischen
Neulesungen an, bei denen man manchmal den Verdacht nicht los
wird, sie seien nur um des Anderslesens willen da, so etwa in
der Notiz bzw. dem für sich stehenden Vers in dem 'Warthäuser-Fragment'
von 'Der Einzige'. In der Handschrift steht: 'Von Gott aus gehet
mein Werk.' (VII 476) In diesem Wortlaut und als eine Art Kommentar
zu 'Der Einzige' wurde die Stelle jedenfalls bisher immer gelesen.
Sattler dagegen liest: 'Vor Gott aus gehet mein Werk' und versieht
das 'vor' mit der Signatur ' DES ' (VII 477), die sich im übrigen
auch bei der vorhin erwähnten Stelle 'Deutsch/(l)Land' findet.
Überprüft man dies in der Handschrift, so läßt
sich sowohl 'n' als auch 'r' lesen. Der neue und wie ich meine
agrammatische Satz wird in FHA 8 als S129 geführt und führt
auf die S. 785. Dort heißt es dann: 'die zeile schließt
den satz S130:85. 86
'Nemlich
frisch // Noch unerschöpfet und voll mit Loken,': sie wurde
vmtl mit dem nicht überlieferten entwurf zu dieser teilreinschrift
auf der rückseite des noch leeren, dann die reinschrift
ß S1331
aufnehmenden doppelblatts 313 notiert; vgl 'Dichterberuf ' V
B 61. 62 'Fruchtlos bleibet aber, so er muß, der
Mann / Einsam vor Gott
' (bd 5/561)'. Wenn man jetzt in
dem folgenden 130 die Verse 86f. anschaut, findet man zu 'Noch
unerschöpfet und voll mit Loken,' die Bemerkung: 'zu dem
quadratisch ausgemalten einweisungszeichen über dem komma
nach Loken vgl S129 'Vor Gott ausgehet mein
Werk.' und die redaktion der schlußepode S1401
' (VIII 787). Geht man nun zu S1401
, dann kommt man zu dem editorischen Endergebnis: 'Noch unerschöpfet
und voll mit Loken, / Vor Gott aus gehet mein Werk. / Der Vater
der Erde freuet nemlich sich deß' (VIII 798). Hier findet
sich ein Segment, das aus zwei Handschriftenzeugen man
muß wohl sagen zusammengestoppelt ist.
RR Zu den Sattlerschen Entzifferungen, die Abweichungen
transportieren, ließe sich im allgemeinen die Schleiermachersche
Maxime ins Feld führen, daß hier behaupten mehr ist
als beweisen, weil es uns dazu führt und so scheint
mir Sattler sein Vorgehen angelegt zu haben , daß
wir an Stellen Anstoß nehmen, die vorher vom Verstehen
durch Automatismus geschluckt worden sind. Insofern bin ich erstmal
durchaus nicht dagegen, an dieser Stelle zu sagen, es könnte
auch heißen: 'Vor Gott aus gehet mein Werk.' Ich finde
es hingegen nicht ausreichend, daß man es oben in die Entzifferung
einsetzt und denkt, man sei der Auseinanderlegung der beiden
semantischen Pfade, denen man folgen könnte, enthoben, indem
man unten notiert, Beißner habe 'von' gelesen.
Bei solchen Stellen braucht man eigentlich eine ausgiebige Erläuterung,
die auch den Grund explizieren müßte, warum Sattler
der Ansicht ist, daß Hölderlin an dieser Stelle eine
befremdliche Verschiebung der Perspektive vorgenommen hat. Zu
unterstellen, daß Hölderlin eine solche Verschiebung
vornehmen könnte, finde ich an sich nicht skandalös.
In 'Der Winkel von Hahrdt' gibt es ja auch diese eigenartigen
Konstruktionen, bei denen einzelne syntaktisch an sich notwendige
Momente fehlen, und dann muß man reflektieren, was es bedeuten
könnte, daß sie fehlen. Auszuschließen sind
solche Verschiebungen nicht. In der Tat schwankt dieses Graphem
wie allerdings häufig bei Hölderlin zwischen
'n' und 'r'. Auch weil er, wie Heidegger wohl sagen würde,
ein Leitsatz ist, der dort niedergeschrieben ist, verlangt es
nach einer ausführlichen Erörterung, weshalb man sich
für diese und nicht die andere Lesung entscheidet.
WG Es ist ja so, daß diese Zeile, die
für sich steht, im Grunde rätselhafter ist, als wenn
man die Zeile, wie hier versucht wird, in einen Text integriert,
wo sonst eine Lücke wäre. Es ist der Versuch, etwas
zu glätten, wobei in Kauf genommen wird, daß der Satz
bei aller Hermeneutik keinen Sinn mehr ergibt.
RR Der Unterschied der Lesungen ist der folgende:
Bei dem einen Mal wird gesagt, daß Gott das Prinzip ist,
aus dem heraus die Dichtung oder sein Werk fließt
und diese Lesart deckt sich völlig mit dem von Hölderlin
in einem Brief an seinen Bruder mehrfach beschworenenen Motto:
'A deo principium'. Im andern Fall meint die Stelle, daß
angesichts Gottes das Werk verstummt oder nicht mehr existent
ist. Insofern handelt es sich hier um eine überaus brisante
Stelle, die nicht einfach durch Entzifferung geklärt werden
kann, sondern durch Problematisierung erörtert werden muß.
Gerade wenn man sagt, dieser Satz stehe wie ein Leitsatz über
den Überlegungen des späten Hölderlin wobei
noch zu fragen wäre, an welcher Stelle er seinen Platz hätte
innerhalb eines Gedichtes und in welchem Kontext , und
wenn dieser Satz verschieden entziffert werden kann, dann sollte
man an dieser Stelle eine ausführliche Erörterung erwarten.
Um meine Kritik an den Bänden 7/8 zusammenzufassen: Ich
finde es schade, daß die Überlegungen Sattlers während
seiner editorischen Arbeit nicht in einem Vorlauf band expliziert
oder zur Diskussion gestellt worden sind.
Dazu gehört auch die Frage, wie man mit Schwankungen umgeht.
So wie es innerhalb des ganzen handschriftlichen Konvoluts so
gut wie keine Stelle gibt, die nicht dem Zwang zur Integration
unterliegt obwohl wir an vielen Stellen unsicher sind,
ob sie hier oder dorthin gehören , so finde ich es
auch bei den Entzifferungen das eigentliche Problem, daß
es das Moment des Zögerns und der Unentschiedenheit in der
Fixierung von Gedanken eigentlich nicht geben darf. Und an der
fraglichen Stelle kann man nicht einfach qua Befund entscheiden,
ob es ein 'n' oder ein 'r' ist. Man muß das dann Entzifferte
nicht unbedingt mit einem Fragezeichen versehen; das ist nur
die eine Möglichkeit, die andere besteht darin, oben eine
Lesung festzusetzen und unten die andere, gleichermaßen
mögliche Lesung zu vermerken. Das hätte zudem den Vorteil,
auch auf die Bedeutung einer solchen Lesung hinzuweisen. An der
Stelle aber, wo Semantik ins Spiel kommt und Kontexte ansatzweise
erörtert werden, ist bei Sattler die Alternativ-Lesung nicht
mehr existent, und damit auch nicht die Konsequenzen, die sich
aus beiden Lesungen für Hölderlins Selbstverständnis
ergeben.
GM Wenn ich mir die Handschrift anschaue, so
kann ich mir schon vorstellen, wie Sattler zu seiner Lesung gekommen
ist. Es fehlt für das 'n' nämlich ein zweiter Haken,
der auslaufende Schriftzug geht tatsächlich so hoch, wie
Hölderlin zumeist ein 'r' gemacht hat. Wenn auch sicherlich
eine Lesung 'von' nicht auszuschließen ist, so spricht
schon einiges für 'vor'. Was mir in diesem Fall jedoch bemerkenswert
erscheint, ist, daß Sattler nicht nur unterläßt,
eine Lesungsalternative zu diskutieren, sondern im Fall
der Lesung 'vor' nicht im mindesten mit der Möglichkeit
rechnet, daß Hölderlin etwa zunächst einen anderen
Satzverlauf im Sinn hatte und mitten im Schreiben dann die Satzkonstruktion
veränderte. Durch die textkonstituierende Aktivität
des Herausgebers in der linearen Darstellung wird jetzt so eine,
sagen wir, 'Fehlleistung' des Autors es kann auch sein,
daß bei Hölderlin zwei verschiedene Gedanken zusammenlaufen
plötzlich festgeschrieben und zu einer absichtlichen
Fügung gemacht. Das finde ich überaus problematisch.
Eine Ausgabe müßte einen solchen Befund des harten
oder gar inkorrekt erscheinenden Textverlaufs ganz anders signalisieren
und auf jeden Fall jeden Eindruck des Fertigen, Abgeschlossenen
vermeiden, damit der Bruch als Bruch deutlich bleibt. Wenn jedoch
der brüchige Entwurfstext dann sogar vier- oder fünfmal
in Sattlers Konzept des 'kumulativen Textes' wiederholt und damit
der Text in Richtung auf Vollkommenheit sukzessive weiter vervollständigt
wird, scheint mir das Vorläufige des Entwurfs, das nur flüchtig
Hingeworfene, verloren zu gehen. Für Sattler hat alles,
was Hölderlin irgendwo hinschreibt, einen erstaunlichen
Grad von Endgültigkeit. Vorläufiges gibt es da nicht,
alles Niedergeschriebene hat unumstößliche Geltung.
Durch diese Art der editorischen Verzeichnung erhält auch
diese (mögliche) Lesung 'Vor Gott' ein solches semantisches
Schwergewicht.
RR Diesen Zug sehe ich im Zusammenhang mit Sattlers
Ausschließung von Kontingenz: Der Gedanke, daß eine
Fluktuation, ein Schwanken stattfindet, wird nicht akzeptiert,
wodurch editorisch ein stark dezisionistischer Akzent gesetzt
wird. Man braucht sich nur anzusehen, was Sattler über den
Gedichttitel 'Die Entscheidung' schreibt. Man gewinnt den Eindruck,
daß auch alles, was dort steht, entschieden ist, und zwar
nicht vom Editor, sondern von Hölderlin, wobei der Editor
derjenige ist, der die Entscheidung nach außen sichtbar
macht. Das deckt sich nicht mit den Erfahrungen, die ich mit
den Hölderlin-Handschriften und überhaupt mit schriftlicher
Fixierung gemacht habe. Es heißt auch, den Möglichkeitsspielraum,
den jemand beim Schreiben hat, unnötig einengen, wenn man
unterstellt, daß alles, was er schreibt, entschieden sei.
Dann hätte man nur noch als Entwürfe getarnte Reinschriften
vorliegen. Wirkliche Entwürfe wären sozusagen qua Prämisse
abgeschafft.
Zunächst würde ich in solchen Situationen versuchen,
mit der Hypothese auszukommen, daß Stellen denkbar sind
mit einer größeren, einer geringeren und gar keiner
Dichte der Entschiedenheit im Wortlaut. Eine Edition könnte
dann erörtern, wo solche Stellen jeweils vorliegen, einmal
abgesehen davon, daß hier irgendwie auch der Spruch repetiert
wird, Hölderlin habe kein falsches Wort geschrieben. Das
kann sogar zutreffen, nur meint Falschheit etwas anderes als
Unentschiedenheit. Es kann ja zum Richtigen dazugehören,
daß an einer Stelle gezögert und eine Alternative
sichtbar wird, die in der Entzifferung als Entzifferungsproblem
auftaucht. All das im Vorfeld auszuschließen heißt,
daß eine bestimmte Dimension der Selbstverständigungsbewegung,
die im Schreiben stattfindet, wegfällt. Ich sehe an dieser
Stelle nicht, daß Sattler hier einfach falsch entziffert,
sondern daß er ein Problem der Entzifferung auf die denkbar
schlichteste Weise angegangen hat, indem er seine Existenz leugnet.
WG Noch ein Wort zur Entzifferung: Daß
die Entschiedenheit im Haupt des Dichters als eine nicht mehr
zu hinterfragende Eigenschaft Hölderlins vorausgesetzt wird,
hat zur Konsequenz, daß auch der Herausgeber immer einen
eindeutigen Text präsentieren zu müssen glaubt, sonst
wäre er ja seinem Gegenstand nicht adäquat. Das führt
mich zu einer Stelle in der vorhin schon einmal beigezogenen
Handschrift. Es handelt sich um diejenige mit dem gebrochenen
'Deutsch/(l)Land' (VII 350). Dort findet sich die Bleistiftnotiz:
'dem Leuen gleich,'. Beißner liest 'der lieget / In dem
Brand / Der Wüste', die 'Frankfurter Ausgabe' liest: 'luget'.
Da Sattler hier der Löwe an der Bursa in Tübingen vorschwebt,
kann er eine andere Lesung, die vor mehr als zehn Jahren einmal
gleichzeitig von Dieter Burdorf und von mir ins Spiel gebracht
worden ist, nämlich daß der Löwe eventuell 'lüget',
gar nicht denken. Ich will gar nicht behaupten, daß der
Löwe jetzt unbedingt lügen muß, aber graphisch
ist diese Lesung mindestens ebenso evident wie 'luget'. Beide
Entzifferungsalternativen wären in dieser Form bei Hölderlin
hapax legomena. Warum wird in der FHA mit einer Neulesung definitiv
gesagt, daß der Löwe 'luget'? An dieser Stelle könnte
man in der Tat mehrere Lesungen anbringen, und dann müßte
man überlegen, in welcher Lektüre welches Wort als
eine angemessene Entzifferung gelten kann.
RR Ich komme nochmals auf das Problem der Segmentierung
zurück und zu der Frage, warum beispielsweise das Wort 'Werkkomplex'
nicht vorkommt. Ich habe hierzu keinen endgültigen Gedanken,
möchte aber einen Einstieg wählen, der ein wenig Aufschluß
verspricht. Die Handschrift findet sich auf S. 235. Das ist ein
Zusammenhang, bei dem Sattler nach und nach versucht, etwas in
einen Zusammenhang hineinzuziehen, der meines Erachtens ausschließlich
an semantischen Spekulationen, nicht an materialen Befunden hängt.
Der Zusammenhang, um den es hier geht, ist derjenige von 'Andenken',
von dem Sattler behauptet, es sei eine Art Eröffnungsgedicht
(wir erfahren aber nicht so recht, was es eröffnet). Von
dem Blatt von S. 234 schreibt er zunächst nur, daß
Hölderlin hier Notizen gemacht hat, die später in 'Andenken'
nochmal aufgenommen werden: 'das auf p 73 des folioheftes entworfene
S64 'Viel thuet die gute
Stunde
' stellt das material zum ersten, nicht erhaltenen,
vom späteren druck vmtl abweichenden 'Andenken'-entwurf
[1-48] bereit' (VII 43). Darauf kommt er, weil darin von der
'Charente' die Rede ist. Später wird auf eben dasselbe Fragment
Bezug genommen, nämlich auf S64, indem gesagt wird: 'vollzogene
eingliederung der palingenetischen bewegung des 'Andenken'-konzeptes
S64' (VII 45).
Zunächst wird also noch vorsichtig gesagt, S64
stelle das Material zu einem Entwurf dar, der nicht erhalten
ist. Zwei Seiten später wird festgestellt, dies sei das
'Andenken'-Konzept selber. Wir haben hier eine Mutation vorliegen:
Das Material zu einem Konzept wird kurz darauf selbst zu dem
Konzept. Bei Hölderlin gibt es Aufzeichnungen, die auf seinen
Frankreich-Aufenthalt zurückgehen. Weil sie auf den Frankreich-Aufenthalt
zurückgehen, ist meine erste Frage: Muß es dann automatisch
bedeuten, daß sie zu 'Andenken' gehören?
Auf S. 346 findet man dann etwas Eigenartiges, nämlich unter
S1601
den von Sattler gegebenen Titel: 'Zur Märzenzeit', folglich
ist es ihm die Vorstufe zu 'Andenken'. Das Wort 'Märzenzeit'
kommt auf dieser Seite aber gar nicht vor, sondern nur in 'Andenken'.
Die Agglomeration von semantischen Feldern führt dazu, daß
eine Identifikation von Werkkomplexen vorgenommen wird. Der Befund
gibt sie nicht her, sondern nur Notizen für ein Gedicht,
das sich aus bestimmten Frankreich-Assoziationen auf baut. Aber
deshalb diese Stelle hier zu einer Vorstufe von 'Andenken' sozusagen
herabzusetzen, hat mit der philologischen Darstellung dessen,
was überliefert ist, nichts zu tun.
Also nochmal: Zuerst wird ganz vorsichtig formuliert: v e r m u t l i c h sind
es Notizen für das nichterhaltene Konzept. Bereits auf der
nächsten Seite ist es bereits mit diesem identifiziert worden.
Und durch die Übertitelung 'Zur Märzenzeit' wird es
zu einer Vorstufe von 'Andenken'. In dieser Darstellung haben
wir einen reichlich gewaltsamen Versuch, vermittelt über
äußere Assoziationen von Vorstellungskomplexen, durch
die Rede von der 'Charente' und vom 'Nordost' dies besagt
aber bei genauerer Betrachtung gar nichts: Wir haben bei Hölderlin
semantisches Material, das an verschiedenen Stellen auftaucht.
Weil die Schwäne an der einen Stelle vorkommen, muß
'Menons Klagen um Diotima' nicht in denselben Werkkomplex gehören
wie 'Hälfte des Lebens'. Das können wir nicht entscheiden;
das einzige, was man sagen kann, ist, daß es eine Nähe
im semantischen Material zu 'Andenken' gibt. Es wird aber bei
Sattler von Seite zu Seite stärker assoziiert. Anscheinend
impliziert die Aufeinanderfolge der Seiten in der Edition selbst
einen Prozeß, nämlich der zunehmenden Agglomeration
von Vorstellungskomplexen.
Um jetzt nicht mißverstanden zu werden: Ich halte Sattlers
Assoziation für interessant und debattierenswert, aber sie
als bares Faktum gleichsam zu generieren, finde ich nicht in
Ordnung. Man kann nicht ohne schwerwiegende Konsequenzen die
persönlichen Vorlieben für die Vorlieben des Autors
ausgeben. Natürlich wird es in der FHA mit dem Anspruch
auf Sachadäquatheit vorgetragen, auch von Sattler, aber
es wird die Differenz zur persönlichen Vorliebe nicht mehr
gemacht. Das obige Beispiel ist exemplarisch für diese Tendenz
der nachträglichen Verifikation durch Erschleichung von
Zusammenhang. Bei 'Andenken' ist dieser Zusammenhang recht übersichtlich.
Je undurchsichtiger es wird, desto schwieriger wird es, die Einzelschritte,
die zu ihm geführt haben, zu rekonstruieren. In diesem Zusammenhang
sollten wir einen Begriff erörtern, der in den Bänden
7 und 8 immer wieder eine Rolle spielt und der mit Sattlers Vorstellung
von a- und b-Versionen direkt zusammenhängt.
Ich habe mir lange den Kopf darüber zerbrochen, was das
Ursprungsmoment für die Einführung der Rede vom 'Doppelgesang'
war.
WG Nun, zunächst gibt es da eine
etwas versteckte Stelle in der Zeittafel, die als Keimzelle
dieser Konzeption zu verstehen wäre: 'die unterstreichung
von 'weltlich' in den schlußzeilen des S622: [101. 102] 'Die Dichter
müssen auch / Die geistigen weltlich seyn.' disponiert die
zweizügige, die Verschiedenheit der Meinung (89)'
hier bezieht sich Sattler auf eine nur als Regest überlieferte
Brief bemerkung Sinclairs 'berücksichtigende ausführung
a b dieses und so auch der
elf anderen beidseits des wassers wachsenden gesänge' (VII
40). Das S622 das materialiter
lediglich aus der Unterstrichelung der beiden letzten Wörter
des Entwurfs zu 'Der Einzige' im Homburger Folioheft besteht
(VII 238) hat demnach Schlüsselfunktion. In Band
8 liest man, daß diese Unterstrichelung 'die doppelgestalt
der 12 'hesperischen gesänge'' disponiere
Aber im
Grunde weiß ich es auch nicht genau abgesehen davon,
daß es die bekannte Vorstellung von exoterischer und esoterischer
Lehre fortsetzt. Es gibt das wesentlich Esoterische, das sind
die b-Versionen. Im Vorwort zu
der Begleitedition, den 'Hesperischen Gesängen', heißt
es: 'auf das proömium 'Andenken' folgt hier die erste der
beiden in vier gesangstriaden gegliederten gruppen der zwölf
'hesperischen gesänge'; sie unterscheidet sich von der zweiten
gruppe der b-versionen durch ihre weltlicher
rezeptivität mehr angepaßte und von der geistigeren
version in umfang und wortlaut dezidiert abgesetzte gestalt.'
Das lese ich als den Versuch, einen esoterischeren Hölderlin
zu restituieren. Es ist eine Werkvorstellung mit parareligiösem
Charakter. Ausgelöst sein könnte es dadurch, daß
es Entwürfe wie z. B. 'Der Einzige' gibt, die tatsächlich
in zwei Richtungen weisen und sozusagen in sich eine Entscheidung
darstellen: es gibt den einen Schluß und es gibt einen
andern. Das stellt für eine Edition, die derart auf Entschiedenheit
aus ist, ein Problem dar: Jetzt sind wirklich zwei Textvarianten
vorhanden! Die editorische Lösung: diese Struktur muß
aufs ganze Werk erweitert werden. Es wird systematisiert, indem
nun alle zwölf rekonstruierten Gesänge in einer a-
und b-Version vorliegen.
GM Am klarsten wird mir diese Konzeption der
Doppelversion noch an 'Mnemosyne'/' Die Nymphe', wobei zu fragen
ist, ob man es wirklich so machen kann, wie Sattler das hier
sich stellende Problem löst. Auf diesem Blatt 91 im 'Homburger
Folioheft' (und entsprechend schon auf dem separaten Entwurfsblatt)
kommen mindestens zwei Konzeptionen zueinander, die man ganz
schwer auseinander sortieren kann. Man hat den Eindruck, als
ob in dieser Handschrift mehrere in sich geschiedene Vorstellungseinheiten
zusammenstoßen, ohne daß der Autor etwa durch
Streichungen deutlich werden läßt, was nun
endgültig gelten soll. Er weiß es offenbar selber
nicht, und es bleibt also das anscheinend Sich-Ausschließende
nebeneinander stehen. Das zeigt sich schon im Titel: Zunächst
heißt es in der Handschrift 'Mnemosyne.', dann setzt Hölderlin
'Die Nymphe.' darüber, ohne etwa die darunter stehende Überschrift
zu tilgen. Ich würde es sehr viel ernster nehmen als etwa
Beißner, wenn Hölderlin, wie in diesem Fall, die Streichung
unterläßt. Auch in den nachfolgenden Niederschriften
bleiben miteinander unvereinbar erscheinende Texte nebeneinander
bestehen, laufen zum Teil ineinander und übereinander, ohne
daß etwa ein darunterstehender Text getilgt wird und man
einen Ersetzungsvorgang vor Augen hat. Es zeigt sich, daß
sich offenbar zwei graphisch und dann auch konzeptionell unterschiedliche
Schichten überlagern. Ich selbst versuchte mir immer eine
Erklärung in der Weise zu geben, daß hier Hölderlin
eine überaus große Spannung innerhalb eines Sinnentwurfs
zum Ausdruck bringen möchte, etwas, das mit den überkommenen
Möglichkeiten des Schreibens und Redens nicht mehr gefaßt
werden kann. So scheint er mir in unserem Beispiel von dem gewohnten
Konzept der Schriftlichkeit eines Gedichtes, einer Literatur,
abzugehen und auf dem Blatt verschiedene Gedankendimensionen
ineinander zu schieben; es könnte sich quasi um eine revolutionäre
Art der dichterischen Fixierung von Sinnvorstellungen handeln,
die über das Traditionelle hinausgeht. So etwas mag auch
Sattler vorgeschwebt zu haben; er bringt es freilich durch seine
systematisierende Aufteilung in a- und b-Versionen in eine ganz
andere Richtung.
Indem man nämlich, wie Sattler es macht, die Versionen des
'Doppelgesangs' vollkommen voneinander trennt darum wunderte
ich mich, daß er in den 'Hesperischen Gesängen' die
Doppelgesänge nicht gegenüber, sondern in zwei Abteilungen
stellt , hebt man diese ungeheure Spannung, die in Hölderlins
späteren Entwürfen steckt, auf. Darum hätte es
m. E. auch näher gelegen, in der Sammlung der 'hesperischen
Gesänge' die Doppelgesänge synoptisch gegenüberzustellen,
statt sie in zwei Abteilungen zu separieren. So, wie Sattler
das diff izile editorische Problem löst, hat man nicht mehr
vor Augen, daß es etwa beim Gedicht 'Der Einzige' zwei
gegensätzliche Verläufe gibt oder daß der dem
Tod nahestehenden 'Mnemosyne' die Nymphe, die Fruchtbarkeit und
neues Leben verspricht, an die Seite gestellt wird. 'Aber es
haben zu singen
' Es sind zwei Antwortmöglichkeiten,
die Hölderlin nicht ausschließen kann und auch nicht
will, sondern die in Kollision geraten, und diese Kollision will
er, wie ich meine, auch zum Ausdruck bringen. Das könnte
für mich das Konzept des Doppelgesangs begründen. Die
Frage bleibt, wie man es editorisch umsetzen kann. Sattlers Weg
der Doppelgesänge scheint mir dem überlieferten Material
wenig angemessen zu sein.
RR Es ist immer die Gefahr, daß man zu
viel Rationalität in der Entscheidung für eine Begrifflichkeit
unterstellt. Zunächst scheint mir der Begriff 'Doppelgesang'
eingeführt worden zu sein im Kontakt mit konventionellen
Vorstellungen von innerer und äußerer Kirche, was
auch die platonische Schule hatte: die geschriebene und die ungeschriebene
Lehre. Entzündet hat es sich wohl an zwei Gedichten, an
denen Hölderlin gearbeitet hat, nämlich an 'Der Rhein'
und 'Patmos'. Daß man hier über die verschiedene Form
der Ausführung nachdenken muß, macht das Material
selbst erforderlich, weil die verschiedenen Ausführungen
der Gedichte mit verschiedenen Widmungen versehen waren. Je nach
Empfänger sind verschiedene Richtungen in der Niederschrift
beschritten worden, so daß man eine Spaltung sehen kann,
die allerdings nichts mit dem Esoterischen und Exoterischen,
nichts mit Geheimlehren, die die Rede vom Doppelgesang ins Spiel
bringt, zu tun hat. Vielmehr erhält sie ihren Akzent von
der Kommunikativität, welche so ein Gedicht eröffnen
will. Die Differenziertheit der Gedichte ist mit Bezug auf ihren
Empfänger eingetreten, und deshalb kann man daraus kein
allgemeines Konstruktionsprinzip ableiten. Der Angesprochene,
auf den die Gedichte zugeschrieben sind, gehört zur Gestalt
des Gedichts prägend hinzu. Wenn ich umgekehrt k e i n e
Information habe, wem ein Gedicht gewidmet ist, greift
das Konzept nicht mehr. Ich kann dann auch nicht konstruieren,
das eine sei exoterisch und das andere esoterisch.
WG Man kann das aber auch ganz nüchtern
sehn: Hölderlin hat bei 'Patmos' das eine Gedicht dem Landgrafen
von Homburg übergeben und das andere eben weiter bearbeitet.
RR Dasselbe ist mit Heinse und Sinclair. Wenn
man die kommunikative Situation als eine Sache ernstnimmt, die
für die Entstehung der Gedichte entscheidend ist, dann kommt
man nicht auf die Assoziation von geheimer und öffentlicher
Lehre, sondern darauf, daß diese Gedichte als bezogen auf
verschiedene Personen verschieden gestaltet worden sind. Man
kann dann fragen: Was bedeutet es, wenn jemand auf einmal denkt,
daß seine Gedichte nicht mehr auf Personen bezogen sind
und keinen Adressaten haben. Dann entfällt bloß der
Bezug, wodurch es nicht als Konstruktionsprinzip übernommen
wird. Man könnte sich auch vorstellen, daß ein Text
wie 'Patmos' an drei Personen gerichtet wäre es ist
denkbar, daß Teile verschollen sind , dann sähe
das Gedicht wiederum anders aus. Weil zwei Widmungen erhalten
sind, wird geschlossen, daß nur zwei Widmungen existieren
können, so daß man dann ein Strukturprinzip abheben
kann, das sich auf das gesamte Werk in der Spätphase abbilden
läßt wobei zudem der kommunikative Bezug nicht
weiter ref lektiert wird. Bei 'Mnemosyne' steht 'Mnemosyne' und
'Die Nymphe': Schon die Behauptung, daß beides zu einem
Gedicht gehört, ist alles andere als selbstverständlich.
Beide Entwürfe (wenn man so sagen kann) stehen aber graphisch
versetzt auf dem Papier, wie wenn man zwei Orgelpfeifen ineinander
verhakt. Ob es nun zwei Orgelpfeifen sind oder eine, die zwei
Richtungen hat, das kann man gar nicht entscheiden.
Es gibt keinen einfachen Weg von der doppelten Gestalt von 'Der
Rhein' je nach Adressaten zu dieser eigenartigen Weise, in der
auf der 'Mnemosyne'-Seite 92 die Sachen nebeneinander stehen.
Dies in Parallele zu 'Der Rhein' oder 'Patmos' zu setzen und
auch hier als Ordnungssystem das nicht sonderlich elaborierte
Konzept Doppelgesang zu nehmen, achtet sehr gering, daß
es sich hier um divergente Schreib- und Vorstellungsverhältnisse
handelt.
GM Wieso soll eigentlich Sinclair das Exoterische
sein und Heinse das Esoterische? Das habe ich nicht begreifen
können.
RR Das ist der Versuch, editorisch mit dieser
Gestalt der Situativität dieser Texte, deren Bezug auf die
Empfänger, umzugehen. Im Grunde wird durch die Vorstellung,
daß es wechselseitig voneinander Varianten sind, durch
den Begriff des Doppelgesangs eliminiert, daß diese Gedichte
um es so stark wie möglich zu pointieren nicht
für Sattler geschrieben sind. Durch den Bezug auf Heinse
oder Sinclair sind es andere Gedichte, die nur noch denselben
Titel haben. Außerdem stehen die Widmungen nicht über,
sondern nach dem Titel, und d. h. doch: sie gehören integral
zum Gedicht. Dadurch haben wir eine andere Situation als etwa
beim Entwurf 'Mnemosyne', wo kein externer Kommunikationspartner
angesprochen wird. Bei 'Mnemosyne' stellt Sattler zudem das,
was dort ineinander verkantet ist, wiederum chronologisch entzerrt
dar. Die Chronologie ist aber hier wie auch sonst
nur ein äußerliches Ordnungprinzip, das über
den immanenten Auf bau von Gehalten niemals entscheiden kann.
WG Das Ganze ist und das wird erst deutlich
über die Ausgabe der 'Hesperischen Gesänge'
der Versuch einer K a n o n i s i e r u n g von
Hölderlins Werk. Damit überholt die FHA als Doktrin
alles, was bisher an Hölderlin-Edition geschehen ist, indem
gesagt wird, es gäbe 24 gültige Gesänge, die aufeinander
bezogen sind. Alles, was in den Handschriften verteilt ist, wird
in jenes Schema reingepreßt, das der eine schmale Band
der 'Hesperischen Gesänge' festschreibt die Bände
7/8 sind dann nur noch der dornige Weg dorthin.
GM Das ist die Sicht auf die Bände 7/8,
wenn man von den 'Hesperischen Gesängen' herkommt. Im Band
8 selbst geht die Konzeption der 'Doppelgesänge' praktisch
unter im Kontinuum der Textdarstellung: Alles wird hier zu einem
unendlichen Gedicht, zu einem fortlaufenden 'integralen gesang',
wie Sattler im Vorwort programmatisch vermerkt. Die einzelnen
Entwurfsgrenzen werden verwischt, die Gedichte gehen ineinander
über, selbst die von Hölderlin zum Druck gebrachten
werden von dieser entgrenzenden Art der Präsentation nicht
ausgenommen. Kaum einmal unterteilt eine Gedichtüberschrift
den Fluß dieser Textdarstellung. Eine Katastrophe für
denjenigen, der mit bestimmten Suchinteressen und mit den üblicherweise
an eine Edition gerichteten Erwartungen an diese Bände der
FHA herangeht. Wenn man versucht, einzelne Gedichte aufzuspüren
und zu ihnen alle Entwurfs- und Bearbeitungsstufen zusammenzustellen,
und dieses Material gar noch miteinander vergleichen will, wird
es ungemein schwierig: Die Register sind schwer zu handhaben,
man muß hier an mehreren Stellen nachschlagen, um überhaupt
fündig zu werden, oder sie versagen ganz, weil Entwürfe
oder Überarbeitungen unter dem jeweiligen Incipit, jedoch
nicht unter dem vertrauten Titel geführt werden. Auch fehlen
als Hilfestellung die kleinen Strophenschemata, die in früheren
Bänden der FHA den Vergleich der einzelnen Werkstufen erleichterten.
Andererseits: Wenn man sich wirklich auf diese Art der editorischen
Auf bereitung einläßt, wenn man sich vom Strom der
Texte forttragen läßt, dann auf die zahlreichen Zwischentexte
des Herausgebers stößt, die bezeichnenderweise sehr
viel stärker das Corpus der 'gesänge' gliedern als
die Grenzen von Gedichten und Handschriften, so hat man tatsächlich
die Chance, ganz neue Erfahrungen mit diesen Texten des Hölderlinschen
Werkes zu machen. Hier zeigt sich nun auch der Herausgeber als
außerordentlicher Kenner der Materie: Er kann auf Zusammenhänge
aufmerksam machen, die man bislang nicht gesehen hatte, selbst
wenn man Hölderlin einigermaßen zu kennen vermeinte.
Die Art der chronologisch fortlaufenden Darbietung eröffnet
für die Texte oftmals neue Sinndimensionen; es ist anregend
und manchmal geradezu spannend, sich ganz dieser Verkettung von
poetischen Bildern und Gedanken hinzugeben. Sie kann einem die
Augen öffnen, wenn denn immer man bereit ist, sich von den
überkommenen Vorstellungen und Erwartungen an eine Edition
zu lösen. Und wenn man nicht der vom Herausgeber nur allzu
nachdrücklich unterstützten Verlockung erliegt, die
hier gebotenen Hypothesen kanonisch zu nehmen, sie nicht als
die ultima ratio auffaßt, sondern sie als ein mögliches
und durchaus anregendes Angebot versteht, als Appell, sich mit
ihnen auseinanderzusetzen, kann die Lektüre von Band 7/8
der FHA höchst produktiv sein.
RR Diese Erfahrung verstehe ich sehr gut. Ich
hatte eine ähnliche, als ich die Tübinger 'Meridian'-Edition
in der Hand hatte. Dabei kam ich sehr ins Assoziieren. Wenn ich
aber meine Lektüre-Erfahrung vergleiche, so würde ich
sagen, daß die Assoziationen, die sich beim Lesen des 'Meridian'
ergeben, solche sind, die nicht mit einer Darstellungsweise zu
kämpfen hatten, die die Gutmütigkeit des Lesers immer
wieder auf die Probe stellt. Bei Sattler bin ich an jeder Stelle
gezwungen und das geht mir bei Historisch-Kritischen Ausgaben
selten so , eine Unterscheidung zu machen zwischen dem,
was ich von Hölderlin wissen will, und zwischen dieser Art
von Aneignung, die Sattler vornimmt. Das Problem, das ich damit
habe, ist nicht das der Aneignung selbst. Wenn jemand aus dem
von Hölderlin Überlieferten eine Fuge schreibt, dann
ist das insofern in Ordnung, als es nach seiner subjektiven Seite
klar artikuliert ist. Das wenig Hilfreiche an Sattlers Ausgabe
ist das Verklumpen von beidem. Ich stelle mir die Hilfestellung
einer Edition anders vor. Es sind zum Teil Fragen der Formulierung,
an denen mich nicht das Provozierende stört, sondern eher
das Verwaschene. Man merkt immer wieder einmal, der Editor traut
sich nicht, es vollständig auf die Seite der Provokation
zu legen, und wählt statt dessen eine bewußt schwammige
Formulierung. Diese Art von v e r s t e c k t e m Kommentar
finde ich nicht gut, dann hätte man wirklich explizit einen
Kommentar schreiben sollen, wenn es einem auf Explikation angekommen
wäre. Dann hätte auch jeder andere die Möglichkeit
gehabt, am Fundus von Sattler zu partizipieren. Beim editorischen
Teil hätte die Trennung zwischen demjenigen, in das der
Editor selbst auch in der Art seiner Darstellung eingreift, und
demjenigen, was er darstellt, besser gewahrt bleiben müssen.
Und weil das kommentierende oder edierende Ich nicht an die Oberfläche
der Erscheinung hervortritt, werden die Sachverhalte einbetoniert,
was bereits der persönlichen, insbesondere aber der wissenschaftlichen
Kommunikation abträglich ist. So hat man keine Chance, die
Stimme dagegen zu erheben, wenn es nötig ist.
GM Wenn ich kritisiere, was Sattler in Band
8 macht, also die editorische Verarbeitung des in Band 7
dokumentierten Materials mich nicht zu überzeugen vermag,
dann stelle ich zugleich auch immer die Frage nach einer möglichen
Alternative: Was kann man mit dieser Werküberlieferung überhaupt
editorisch machen? Einmal abgesehen von den wenigen Texten, die
eine einigermaßen 'fertige' Gestalt bekommen haben, haben
wir es mit einer sehr großen Zahl von Textelementen zu
tun, die nicht nur örtlich, sondern auch semantisch disparat
sind. Welche Lösungen bieten sich an? Zum einen der Beißnersche
Weg, möglichst alles Überlieferte einzelnen Gedichten
zuzuordnen und teleologisch als Stufen eines 'idealen Lesartenwachstums'
darzustellen. Oder man orientiert sich allein an den Textzeugen,
den Handschriften und Drucken, und gibt die Texte so, wie sie
dort erscheinen, 'diplomatisch' wieder. Sattler geht einen anderen
Weg: Er ordnet das überlieferte Material vorwiegend (wenn
auch nicht ausschließlich) chronologisch. Das hat dann
erhebliche Konsequenzen: Wenn ich mir etwa den Gedichtkomplex
'Mnemosyne' vornehme und darauf gestoßen werde, daß
ich das gesamte Feld der zugehörigen Textstufen, angefangen
mit S69 und endend mit S218,
über fast den gesamten Band 8 verteilt finde, dann wird
es für mich schwierig, dasjenige, was sich beispielsweise
im 'Homburger Folioheft' auf Blatt 90/91 abspielt, zu durchschauen.
Es gibt zwei Bewegungen, die bei Sattlers Art der Textdarbietung
ineinander, zum Teil auch gegeneinander gehen: Zum einen ist
da das Zusammenklumpen und -kleistern von Textbruchstücken
auf verschiedenen Seiten, wie Roland es bereits beschrieben hat.
Sattler spart da nicht mit Überraschungen, so etwa, wenn
er Notate auf den Seiten 76 und 37 des 'Homburger Folioheftes'
mit dem, was er auf S. 90/91 findet, in einen chronologischen
und semantischen Zusammenhang bringt, und zwar aufgrund von kleinsten
Zeichen, wo man sich fragt, in wieweit sie plausibel sind und
eine so gravierende Zuordnung überhaupt zu begründen
vermögen. Zum anderen reißt Sattler das, was sich
auf einem Handschriftenblatt befindet, auseinander, um das chronologische
Ordnungsprinzip zu wahren. Aber woher weiß er so genau,
wann und in welchem Zusammenhang Texte auf den Handschriften
niedergeschrieben worden sind? Und seine Konzeption reicht ja
weit über den Anspruch einer relativen Chronologie hinaus:
Er intendiert, eine absolute Entstehungsfolge editorisch zu realisieren.
Das sind also zwei Bewegungen auf der einen Seite das
Zusammenbringen von Disparatem, auf der andern Seite das Auseinanderreißen
von örtlichen, zum Teil auch syntaktischen Zusammenhängen
der Handschrift , die sich durchkreuzen und die anvisierte
Lösung so unbefriedigend sein lassen.
RR Ich habe mir auch überlegt, welche Art
von Alternative es zu Sattlers Verfahren gibt. Natürlich
hat man gut reden, wenn man es nicht selbst machen muß,
aber es geht zunächst nur um eine Strukturmöglichkeit.
Was ich als Alternative sehe, sind drei Schritte: (1.) Du gibst
ein Faksimilie mit Transkription der Handschriften. Dabei wahrst
Du die Zusammenhänge der Handschriften, die existieren,
indem Du die Seiten, die ineinander gelegt und zusammen überliefert
sind, auch hintereinander abdruckst. Dann nimmst Du auf jeder
Seite die Sachen, die deiner Ansicht nach und sie wäre
zu begründen zusammengehören, und vergibst einen
numerus currens, und zwar durchgehend durch die gesamte Überlieferung.
Damit ist noch keine Anordnung vorgenommen, sondern nur eine
fortlaufende Separierung der Vorkommnisse. (2.) Im zweiten Schritt
wird von der Ordnungszahl 1 bis sagen wir 450 jedes einzelne
Teil im Hinblick auf seine Semantik und auf die Beschaffenheit
des Manuskriptes an der betreffenden Stelle erläutert. (3.)
Erst in einem dritten Schritt explizierst Du die Zusammenhänge,
die Du zwischen den Teilen erkennst. Das hätte den Vorteil
einer größeren Übersichtlichkeit, weil man das
Ganze nicht einem äußerlichen Ordnungsprinzip unterwirft,
das keiner versteht. Das einfache Ordnungsprinzip ist die bloße
Anordnung der Reihe nach. Dabei stößt Du natürlich
auf ein Problem wie etwa bei 'Mnemosyne', ob das, was rechts
steht, und das, was links steht, denselben oder einen anderen
numerus currens bekommt. Ich würde sagen: Es bekommt zwei,
um dann das Verhältnis zwischen beiden zu erörtern.
Und bei dem früher erwähnten 'und' etwa sieht man,
daß es wahrscheinlich auf dem Blatt stand, bevor die anderen
Sachen geschrieben worden sind wieso solltest Du ihm keine
eigene Nummer vergeben? Diesen Befund kannst Du dann explizieren,
ohne es in irgend ein Ordnungsschema gleich integrieren zu müssen.
Sattlers Konstruktion ist nicht so alternativlos, wie sie selbst
vorgibt. Es wäre viel angenehmer, einen äußeren
Formalismus anzuwenden und die Teile bloß durchzuzählen
und ansonsten zu jeder dieser Einheiten, die man daraus bildet
bzw. setzt, Begründungen zu geben, weshalb man etwas auf
dieser Seite für eine separate Einheit hält. Dann hätte
man schon ein Großteil der Argumentation expliziert, die
einem in der Rekombination dann zur Verfügung steht. Für
jeden Außenstehenden wären die daraus gezogenen Folgerungen
einsehbar. Basierend auf diesen Ordnungszahlen lassen sich dann
auch Diagramme zeichnen, die über den Zusammenhang der einzelnen
Teile Aufschluß geben. Die editorische Arbeit ist zwar
ziemlich vertrackt, aber das induktive Prinzip bei der Erstellung
der Ausgabe stärker in den Vordergrund zu rücken, hätte
ich für sehr nützlich auch im Hinblick auf die Rezeption
der Ausgabe gefunden.
WG Ich denke, es gibt nur einen Zugang zu dem
riesigen Schreibprozeß, den die Bände 7 und 8 darzustellen
versuchen: Der besteht darin, daß man die Sattlersche Interpretation
ab ovo nachvollzieht. Was entfällt, ist die Möglichkeit,
sich einen eigenen Zugang zu schaffen, indem man das 'Homburger
Folioheft' oder die anderen Handschriftenkonvolute durchgeht
und schaut, was mit den einzelnen Stellen nach Meinung des Herausgebers
geschieht. Wenn man sich einen Überblick über die beiden
'Gesänge'-Bände verschaffen will, muß man, pointiert
gesagt, den Apparatband einer anderen Hölderlin-Ausgabe
zu Hilfe nehmen, um die Handschriften zu den einzelnen Textkomplexen
zusammenzusuchen. Das ist eine gravierende Darstellungsschwäche,
die aus der Phantasie entspringt, daß man jetzt in der
FHA den ganzen Gesang hätte. Das mag ein faszinierender
Wurf divinatorischer Deutung sein und ich meine das ganz
unironisch für den Gebrauchswert der Ausgabe bringt
dies aber enorme Nachteile.
GM Ich stelle an eine Edition auch die Frage:
Geht nun tatsächlich Hölderlin in diesem Zeitabschnitt
von der Vorstellung des Gedichtes als einer angestrebten Werkeinheit
ab, so daß man sie vollkommen ignorieren darf ? Gibt es
nicht Zusammenhänge, die zu beachten wären, um Hölderlins
Gedichtproduktion authentisch wiederzugeben? Ich denke, Hölderlin
schreibt nach wie vor Gedichte. Zudem wäre es für mich
als Herausgeber schon ein wichtiges Kriterium, ob Hölderlin
nun ein Gedicht in den Druck gibt, ob es in Reinschrift oder
irgendwo als flüchtiger oder abbrechender Entwurf überliefert
ist. Das sind immerhin auch mögliche Kategorien, um dieses
Material in eine sinnvolle editorische Ordnung zu bringen. Die
Unterscheidung in Veröffentlichtes bzw. reinschriftlich
Überliefertes und nichtreinschriftlich, bruchstückhaft
Gebliebenes bietet für mich eine verantwortbare Editionsalternative,
solange man nicht der Versuchung erliegt, selbst als Herausgeber
das Unfertige in vollendeter Gestalt zu repräsentieren.
Das gehört nun leider zu den großen Sünden der
früheren Hölderlinphilologie.
*
RR Wir
sollten uns einmal genauer anschauen, wie Sattler seine These
von einer fünfstrophigen 'Mnemosyne'-Gestalt zu begründen
versucht, und müssen dafür zunächst tief in die
Verhältnisse verschiedener Texte zueinander einsteigen,
vor allem in den von Sattler rekonstruierten Bezug von 'Mnemosyne'
auf jenen Entwurf, der unter dem Titel 'Ister' bekannt geworden
ist. Teile dieses Gesangs befinden sich auf einem Zettel, auf
dem auch der erste Entwurf zu 'Mnemosyne' steht. Sattler spekuliert
hier zunächst über die Art, in der Hölderlin versucht,
Überschriften zu konstellieren. Wie hast Du, Gunter, den
Überschriftenzusammenhang von 'Die Schlange' begriffen?
GM Das hier Fragliche befindet sich auf dem
Blatt 339/4 (VII 453), also einem apart vom 'Homburger Folioheft'
überliefertem Doppelblatt mit verschiedenen Entwürfen.
Auf der vierten Seite haben wir einen ziemlich weitgehenden Entwurf
mit Material, das später in den gesamten 'Mnemosyne'-Komplex
eingeht. Oben drüber, und das scheint zunächst klar
zu sein, steht die Überschrift 'Die Schlange.'. Der Punkt
dahinter verweist auf Hölderlins Versuch, einen Titel festzulegen.
'Die Schlange.' wird dann gestrichen. Darunter schreibt Hölderlin,
leicht nach rechts versetzt, 'Das Zeichen.', auch das wiederum
offensichtlich als Titel intendiert, der in dieser Handschrift
nicht gestrichen wird. Dann folgen rundherum, z. T. auch den
Titel überschreibend, 'aber es haben / Zu singen,' und dann
'Schön ist / Der Brauttag' usw. Das sind Materialien, die
Sattler dem 'Mnemosyne'-Komplex damit meine ich sowohl
den a-Gesang, dem er den Titel
'Mnemosyne' gibt, wie auch den b-Gesang, den er 'Die Nymphe'
nennt zuschlägt.
Interessant finde ich nun, wie Sattler von vornherein bestimmte
Deutungen festlegt, die dann die Verteilung und die Zuordnung
der Teile bestimmen. Er schreibt zu 'Die Schlange.' im editorischen
Teil: 'vmtl zusammen mit dem nachgetragenen titel S672 'Der Adler.' als dritte
chiffre der dichterischen bewußtseinsformen; vmtl erste
überschrift des stromgesangs [Der Ister.]' (VIII 712). Hier
werden zwei Hypothesen vorgetragen, die für Sattler leitend
werden: (1.) Die Überschrift ist eine 'chiffre der dichterischen
bewußtseinsformen', wodurch sie einen esoterischen Charakter
zugesprochen bekommt. Sie spricht nicht für sich selbst,
sondern für ein anderes, und so scheint er zumindest den
Titel 'Das Zeichen.' zu verstehen. (2.) In dem Bild, das mit
der Überschrift 'Die Schlange' aufgerufen wird, wird der
Lauf des Stromes mimetisch nachgebildet. Zu 'Das Zeichen.', das
Hölderlin nachfolgend als Titel niederschreibt, wird zunächst
'Viel Männer möchten da seyn, wahrer Sache' (VIII 713)
hinzugeschlagen. Dann, unter S721
, schreibt Sattler, daß der Neuansatz 'aber es haben /
Zu singen' zugleich das Aufgeben des Titels 'Das Zeichen.' bedeute:
'neuansatz über dem damit aufgegebenen titel S711 'Das Zeichen.'; zur späteren
integration in den gesang vgl S178 'Ein Zeichen sind wir
'' (VIII 714).
Von der Handschrift her gibt es nicht unbedingt ein Indiz, daß
'Ein Zeichen.' durch die Niederschrift 'aber es haben // Zu singen,'
aufgehoben wird, wenngleich 'Zu singen' mit der Schrift in 'Das
Zeichen.' hineinragt. Sattlers Argumentation läuft jetzt
wie folgt: Indem die Überschrift hier frei wird, kann er
sie für einen anderen Zusammenhang gebrauchen, und er verwendet
sie dann für die b-Version von 'Der Ister',
wobei wir dann die Konstellation haben, daß beide Titel,
derjenige von der a- wie auch der von der b-Version,
als solche in keiner den 'Ister'-Text überliefernden Handschriften
steht, sondern von Herausgeber gesetzt sind. Von Hellingrath
übernimmt Sattler den Vorschlag, über das Bruchstück
den Titel 'Der Ister' zu setzen; erst in Vers 21 des Gedichtes
wird der Donau-Strom unter diesem Namen genannt. Für 'Das
Zeichen.' gibt es in der weiteren Durchführung des Gedichtes
ebenfalls ein Indiz: 'Sie [die Ströme] sollen nemlich /
Zur Sprache seyn. Ein Zeichen braucht es / Unwissend', heißt
es in S74, 11, z. 50-52 (VIII 723).
Dieses Auftauchen des Wortes 'Zeichen' ist für Sattler Argument
dafür, den nun freigewordenen Titel 'Das Zeichen.', der
ursprünglich zum 'Mnemosyne'-Komplex gehörte, zum 'Ister'-Gesang
herüberzuziehen. Soweit Sattlers Argumentation.
Selbstverständlich und das wird man mitbedenken müssen
gehört für Sattler zum 'Mnemosyne'-Komplex der
spätere Anfang der ersten Strophe 'Ein Zeichen sind wir
', wo also an pointierter Stelle der Zeichenbegriff wieder
erscheint. Von daher gäbe es ebenso plausible Gründe,
'Das Zeichen.' als Titel einer Vorstufe in dem ursprünglichen
Schreibzusammenhang zu belassen und nicht einem anderen Gedicht
zuzuschlagen.
RR Ich denke, es gibt eine einfache Grundannahme,
die diesem Verfahren zugrunde liegt und in gewisser Hinsicht
dem Verfahren, semantisch Ähnliches, aber räumlich
Getrenntes in einen Zusammenhang zu stellen, parallel läuft.
Was ich meine, läßt sich vielleicht mit dem Begriff
der Kontaguität beschreiben: Daraus, daß etwas in
der Nähe von etwas anderem steht, wird gefolgert, daß
es auch inhaltlich zusammenhängt. Es wird also versucht,
aufgrund der Lokalisation von Niedergeschriebenem eine Hypothese
zu entwickeln.
In diesem konkreten Fall sind wir an jener Nahtstelle, wo auf
der vorhergehenden Seite dasjenige steht, was unter 'Ister' bekanntgeworden
ist, und auf der folgenden Seite der erste Entwurf zu 'Mnemosyne'
beginnt. Es scheint hier folgende Vermutung aufzutauchen: W e i l wir
ein Wortfeld haben, das sich überlappt, hat das Ganze den
Charakter einer Fuge. An dieser Stelle wird die Konstellation
der Überschriften 'Die Schlange' einerseits und 'Das Zeichen'
andererseits als Fugenelement zwischen den beiden Werkkomplexen
'Der Ister' einerseits und 'Das Zeichen' andererseits verwendet.
Ich bin diesbezüglich skeptisch: So, wie das hier steht,
kann man zwar sagen, durch die Setzung der Wörter 'Das Zeichen'
ist möglicherweise die Phantasie in bezug auf die erste
Niederschrift der Strophe 'Ein Zeichen sind wir, deutungslos'
stimuliert worden. Deshalb ist aber nicht notwendigerweise zu
unterstellen, daß die Niederschrift der beiden Wörter
'Das Zeichen' schon mit Blick auf 'Mnemosyne' getätigt worden
ist und umgekehrt. Wieso sollte es nicht möglich sein, daß
jemand sich die Wörter 'Das Zeichen' notiert, und mehr nicht?
Er beschäftigt sich zwar mit dem Begriff Zeichen, aber müssen
wir, wenn wir eine solche Wahrnehmung machen sie besteht
darin, daß 'Das Zeichen' nicht in den Zeilenfall des Restes
auf der Seite integriert ist , annehmen, daß es bereits
in einen Kontext gehört?
GM Ich würde scharf trennen zwischen der
editorischen und der interpretierenden Verarbeitung. Selbstverständlich
hat bei dieser Konstellation jeder die Möglichkeit zu sagen,
hier im Vorstufen-Titel 'Das Zeichen' ist schon der spätere
Gedicht-Anfang 'Ein Zeichen sind wir, deutungslos' antizipiert.
Es ist aber nicht Aufgabe eines Editors, eine solche Deutung
festzulegen, und weil das Kriterium sehr viel schwächer
ist als das der Zuordnung zu 'Mnemosyne' schon gar nicht,
definitiv zu behaupten, der Titel gehöre zum 'Ister'-Komplex.
Die Argumentation Sattlers: 'Das Zeichen' wird als Überschrift
frei und deswegen transportiere ich es zum 'Ister'-Gesang, und
zwar mit einer sehr starken bedeutungshaften Aufladung, erscheint
mir mehr als gewagt. Die Motivation einer solchen Operation ist
nur allzu durchsichtig: Denn hiermit wird einem titellosen Gedichtbruchstück
eine Überschrift zugeordnet, die Sattlers Konzept der Doppelgesänge,
nämlich der exoterischen Ausrichtung der a-Version und der esoterischen,
sprich zeichenhaften Bedeutung der b-Version, entscheidend zu
stützen vermag. Hier liegt genau genommen eine zirkelhafte
Argumentation vor. Zumindest aus einer Edition würde ich
eine solche Spekulation verbannen.
RR Kann man sagen, daß diese Art der Erläuterung
ein ökonomisches Moment impliziert? Das Niedergeschriebene
bleibt nicht, wie man denken würde, einfach so stehen, sondern
wird auf etwas anderes bezogen, damit es eine Funktion hat und
nicht überf lüssigerweise dasteht. 'nachdem die überschrift
und strom-metapher S691
'Die Schlange' durch S711
'Das Zeichen' ersetzt und auch dieser zweite titel (nach einführung
des 'Nymphe'-motivs S721
:3. 4 'Schön ist / Der Brauttag
') wieder zur disposition
steht, ist die in b
S7413 :[54. 55] präzisierte
funktion des 'zeichens' als verweis auf die überschrift
anzusehen' (VIII 724). Ich kann unterstellen, daß, wenn
dort etwas steht, es seine Funktion mit Bezug auf anderes hat,
was dort steht. Es kann seine Funktion wechseln, wenn weiteres
Geschriebenes hinzukommt, aber immer hat es eine Funktion. Auf
diese Weise wird ein Freiheitsspielraum der schriftlichen Aufzeichnung
preisgegeben, ohne daß dafür eine Notwendigkeit bestünde.
In unserem Kulturkreis kann 'Schlange' alles mögliche implizieren.
Es ist eine sehr starke, keineswegs alternativlose These, die
Schlange als Metapher für den Stromlauf der Donau zu nehmen.
Hölderlin hätte ein Gedicht architektonisch aufbauen
wollen, das sich mit dem Motiv der Schlange beschäftigt.
Aber das alles wissen wir gar nicht. Wir können die Spielräume
dessen, was möglich ist, nicht darauf reduzieren, was dann
tatsächlich überliefert ist.
Das ist der Syllogismus, der bei Sattler im Hintergrund steht:
Wenn etwas dasteht, dann bezieht es sich auf etwas, das auch
da steht. Für mich ist das eine gravierende Verkürzung,
denn es kann auch etwas dastehen, das sich auf etwas bezieht,
das nicht dasteht. Wenn wir Sattlers implizite Behauptung ernstnehmen,
dann hätten wir keine Entwürfe mehr, sondern immer
Realisationen dessen, was niedergeschrieben worden ist. Im Hintergrund
steht also eine starke These über die notwendige Verflochtenheit
alles Aufgeschriebenen, die zwar erwogen werden kann, aber nicht
die einzig denkbare ist.
WG Die Frage ist dann, wenn man diesen Gedanken
weiter verfolgt, ob diese Entwürfe überhaupt noch als
konstituierte Texte edierbar sind oder ob nicht die Entschiedenheit
im Haupte des Editors dasjenige ist, was eine Edition erst wieder
ermöglicht, eine Edition, die deutlich weiter und offener
ist als die Hölderlin-Ausgaben, die jetzt im Handel sind.
Mit der fünfstrophigen 'Mnemosyne' wird, beinahe ironisch,
gezeigt, daß das Feld offener ist, in dem man sich bewegt.
Dasjenige, was die FHA nicht zugibt, ist, daß in den Handschriften
Unsinn oder Nichtsinn steht, es ist immer Sinn, aber es ist so
entschieden Sinn, daß man als ihr Leser geradezu gezwungen
ist, sich dagegen zu verhalten. Als editorisches Konzept erinnert
mich das durchaus an die Ausgangsbasis der FHA vor 25 Jahren.
Die andere Frage ist, ob man darüber auch eine bestimmte
Vorstellung von Edition und Edierbarkeit dieser Entwürfe
verabschieden muß. Ihre eigentliche Editionsleistung wäre
dann die Faksimile-Ausgabe des 'Homburger Folioheftes', der anderen
Konvolute und die Ergänzungen dazu. Diese Editionen müssen
so gut wie möglich sein und so genau wie möglich transkribiert
sein mehr ist eigentlich nicht möglich. Das, was
bei Sattler 'Dokumentation' heißt, ist Edition, und das,
was bei Sattler 'Edition' heißt, ist reine Interpretation.
GM Man kann dem Leser nicht, so einleuchtend
das zunächst wäre, die sehr komplex beschriebenen Blätter
des 'Homburger Foliohefts' und der in dessen Umkreis gehörenden
Entwürfe so ohne weiteres überlassen. Man sollte schon
einen ganzen Schritt weitergehen in der Präparierung des
editorischen Materials. Man kann bestimmte graphische Zusammenhänge
und Gegebenheiten, die den Blättern tatsächlich zu
entnehmen sind, und auch grammatikalisch-syntaktische oder auch
metrische Zusammenhänge als Argument nehmen, bestimmte Textgruppen
zusammenzuschließen, meinetwegen auch zu konstituieren,
rein schon vom Befund her, ohne daß damit schon ganz bestimmte
Deutungen dominant würden. Dasjenige, was ich an Sattler
kritisiere, ist eben, daß er eine sehr starke Hypothesenbildung
zur Grundlage seiner Textkonstitution macht, und das auf Kosten
der graphischen Befunde, die sich oftmals, wie wir gesehen haben,
den Deutungen beugen müssen. Eine solchermaßen beherrschende
Hypothesenbildung, die bei allen Entscheidungen in den beiden
Bänden, von der Zeittafel bis hin zur Konzeption der 288
Segmente und der 12 Doppelgesänge, leitend ist, sprengt
den Rahmen einer Edition und hätte in Kommentaren, Auslegungen,
Monographien einen angemesseneren Platz als in einer historisch-kritischen
Ausgabe.
WG Es ist ja eine historische Tatsache, daß
von 'Mnemosyne' heute 14 oder 15 Textkonstitutionen zugänglich
sind. Darüber könnte man doch auf den Gedanken stoßen,
daß es halt nicht möglich ist, eine verbindliche Textversion
von 'Mnemosyne' zu bekommen. Sattler, und das unterscheidet seine
Edition von allen bisherigen, verzichtet nun auf die eine und
erstellt zwei, die a- und die b-Version. Deren Zusammensetzung
ist so kühn, daß man sie eigentlich nicht teilen kann.
GM Es wäre jetzt spannend zu sehen, wie
Sattler argumentiert, wenn er die drei- oder vierstrophigen Versionen
von 'Mnemosyne', die unmittelbar aus der Handschrift ersichtlich
sind, plötzlich zu einer fünfstrophigen macht, und
zwar sowohl die a- als auch die b-Version.
Er kommt zu dieser Hypothese, indem er nämlich an ganz anderer
Stelle im 'Homburger Folioheft' stehende Textstücke (auf
den Seiten 37 und 71) in die begonnene Reinschrift (S. 90-92,
die damit natürlich vollends aufgelöst wird) einmontiert,
und zwar, wie ich meine, mit sehr schwachen Argumenten, nämlich
aufgrund von Bedeutungs-Assonanzen und der Annahme von bestimmten,
ihm unfertig erscheinenden Satzstrukturen, wo er dann die syntaktischen
Ergänzungen aus ganz anderen Zusammenhängen des 'Homburger
Folioheftes' geradezu hervorzaubert und mit diesem Material die
unvollständigen Sätze und Strophen auffüllt. Das
ist eine durchaus wackelige Grundlage für eine doch sehr
weitgehende Hypothese, daß nämlich die Gesänge
'Die Nymphe' bzw. 'Mnemosyne' von vornherein fünfstrophig
konzipiert seien, und das gegen den äußeren Anschein
der Handschrift, wo auf den Seiten 90-92 im besten Fall vier
Strophen auszumachen sind.
WG Neben den fünf Strophen ist die Versanzahl
fast noch die größere Zumutung. Die a-Version hat pro Strophe
17 Verse bzw. Zeilen, die b-Version hat deren 18. Die
17 Verse waren, wegen der berühmten 'Zählpunkte', auf
die Beißner erstmals einging, das einzig Sichere, was man
für die Konstitution eines Textes hatte wenn man
denn überhaupt einen Text konstituieren möchte, was
ich nicht für möglich halte. Deshalb ist mir eine offensichtlich
unmögliche Konstitution lieber als eine, die, wie die dreistrophigen
von Beißner oder Schmidt, den Anschein erweckt, als sei
sie wissenschaftlich abgesichert.
RR Da bewegen wir uns auf sehr schwankem Boden.
Das Problem bei dieser Angelegenheit ist, daß die Annahme
immer mitgeht, die Textkonstitution könne um so kühner
sein, je genauer die Textdokumentation verläuft. Aber das
kann nicht die Wahrheit sein: Nur um die Textkonstitution problematisch
werden zu lassen, machen wir eine völlig irrsinnige, damit
jeder begreift, was für eine unmögliche Sache eine
Textkonstitution ist. Dann könnte man es auch bei dem einfachen
Satz bewenden lassen: Eine Textkonstitution ist nicht möglich.
WG Dann aber kommt einer daher und sagt: Doch!
Doch! Was aber hier vorsätzlich gemacht wird, das ist eine
Dekonstruktion jeder möglichen Textkonstitution, indem eine
unmögliche vorgeführt wird.
GM Trotz meiner ganzen Kritik und Skepsis gegenüber
Band 8 ist mir ein solches Konzept schon sehr viel lieber als
das, was mir in anderen Ausgaben vorgeführt wird, wo eine
Endgültigkeit der Textkonstitution vorgespiegelt wird, die
in den Handschriften einfach nicht existiert. Das natürlich
in der stärksten Ausprägung in der 'Stuttgarter Ausgabe',
wo im Textband eine als fertig erscheinende Version vorgeführt
wird, und alles, was nicht integrierbar ist und auch nicht taugt
zur Herausstellung einer weiteren 'Fassung', steht dann im Apparatband,
wo freilich die Dokumentation der tatsächlichen Überlieferung
überhaupt nicht geleistet wird, sondern das Material schlicht
abgekoppelt wird; es ist für den Leser praktisch nicht verfügbar.
Da ist mir Sattlers Darstellung lieber, die doch immerhin in
den Zwischentexten sehr deutlich macht, daß hier eine Hypothese
die Grundlage ist, daß also, wie Wolfram sagt, die Dekonstruktion
sofort mit angelegt ist und gezeigt wird, so könnte man
es machen, wenn man von den und den Prämissen ausgeht. Diese
Prämissen sind in ihren Kriterien sicherlich wackelig, aber
sie sind Anreiz und Ermunterung, selbst immer wieder in die hier
sich auftuenden Probleme einzusteigen, Konstitutionen zu wagen
oder auch zu sehen, wie hier auf den Blättern des
'Homburger Folioheftes' dem Autor Hölderlin offenbar das
Zusammenschließen der verschiedenen, auseinanderstrebenden
Entwurfsbewegungen nicht mehr vollauf gelingt, aus welchen Gründen
auch immer.
RR Ich bin mir nicht sicher, ob diese wohlwollende
Einschätzung, daß es sich hier um Vorschläge
handelt, die ihre eigene Zerstörung in sich enthalten, etwas
wäre, das Sattler ohne weiteres unterschreiben würde.
Man sollte seine Textkonstitution schon ernstnehmen. Sie ist
der letzte Stand seines Nachdenkens über diesen Gegenstand.
Es ist eine Position, die eine bestimmte Härte hat und nicht
zerschmilzt, wenn man sie auch nur anschaut. Man kann sich schon
fragen, wie es Wolfram vorhin skizziert hat, was die Alternativen
zu Sattlers Edition wären. Wenn man sieht, wie hochkomplexe,
in sich relativ autonome Gebilde wie einzelne Strophen von 'Mnemosyne'
aufgrund eines Wortes, das in ihnen vorkommt, und insbesondere
ohne Berücksichtigung der Versgestalt auf ein anderes, ähnlich
komplexes Gebilde bezogen wird, dann ist das eindeutig zu wenig
an interpretatorischem Aufwand, um Bezüge herzustellen.
Ich befürchte, daß das Problem bei Hölderlin
gar nicht so sehr ein editorisches ist; das editorische ist vielleicht
gegenüber dem hermeneutischen Problem nachgeordnet, dem
Umstand nämlich, bei den vielen semantischen Komplexen,
die auf einer Manuskriptseite koexistieren, überhaupt zu
erläutern, warum sie dort so stehen, wie sie dort stehen.
Bei anderen Ausgaben mag es genau andersherum sein: daß
der Kommentar auf Basis einer Edition funktioniert. Bei Hölderlin
müßte man zunächst einmal einen catalogue raisonné
haben, der darüber informiert, worum es in diesen Texten
überhaupt geht. Dann erst lassen sich inhaltliche Bezüge
herstellen. Dazu vermisse ich bei der Beschreibung sehr vieler
handschriftlicher Seiten überhaupt Hinweise. Man kann daraus
keine Verwaltungsaktion machen: zwei Worte an verschiedenen Stellen
nur, weil sie ähnlich scheinen, aufeinander zu beziehen.
Die Wörter stehen innerhalb der Strophe, in denen sie gerade
gesetzt sind, in bestimmten Bezügen. Aber was bedeuten diese?
GM Ist das, was Du forderst, in einer Edition
zu leisten? Ich erinnere nur daran, Du selbst brauchst etwa 700
Seiten, um das darzustellen; Dieter Burdorf hat für 'Das
Nächste Beste', für vier Seiten Folioheft, knapp 300
Druckseiten, wo er tatsächlich genau dieses macht: er prüft
jedes einzelne Notat von Hölderlin und diskutiert ganz genau
die Anschlußmöglichkeiten, wobei er es nicht wagt,
überhaupt eine Textkonstitution vorzuschlagen.
RR Mag sein, aber so ist das halt, wenn man
sich mit Hölderlin beschäftigt. Das Vernüftigste
wäre es, wie Wolfram bereits gesagt hat, zunächst eine
relativ zurückhaltende Dokumentation zu machen. Man kann
es dann der Öffentlichkeit durchaus als Aufgabe mitgeben,
an dem catalogue raisonné mitzuarbeiten. Das muß
nicht sogleich den Anspruch auf Vollständigkeit und Abgeschlossenheit
haben, wahrscheinlich auch nicht gleich in Buchform vorliegen.
Mittlerweile gibt es alternative Möglichkeiten, sich so
etwas vorzustellen. Die interpretatorische Last, die durch die
Zuordnung von einzelnen Aufzeichnungen Hölderlins zueinander
auf einem lastet, ist nicht durch einen Handstreich aus der Welt
zu schaffen. Sie erfordert viel Geduld, Ausdauer und Explikationsvermögen.
Sattlers aphoristische Einstreuungen sind hierzu ein erster Ansatz,
aber nicht hinreichend, um so komplexe Gebilde, wie wir sie hier
vorliegen haben, überschaubar aufeinander beziehen zu können.
Da ist sehr viel Intuition dabei, die ebenso richtig wie falsch
sein kann. Man würde sie aber in jedem Fall gerne erläutert
bekommen.
WG Beim augenblicklichen Stand des Gesprächs
würde ich sagen: Zu kritisieren wäre der Band 7, und
nicht der Band 8, weil der Band 7 die ganze 'Dokumentation' bringt
und dafür zu wenig offen ist. Man hat z. B. nicht die Möglichkeit,
über die substituierten Werkzusammenhänge zusammen
zu bekommen, was denn alles dazugehört. Bei Band 7 ist durch
die miserablen Register, die ihm beigegeben sind, fast keine
Benutzbarkeit möglich, während in Band 8 es fast keinen
Sinn mehr hat, sich im einzelnen damit auseinanderzusetzen, es
sei denn, man will sich über interpretatorische Sachen streiten.
Im Band 7 ist zu wenig Offenheit. Man kann allerdings dagegen
halten, die Ausgabe sei nach zwei Seiten hin verlängert:
einerseits im Editorisch-Dokumentarischen hin zu Supplementausgaben,
wo noch eine Chance bestünde, die wissenschaftliche Offenheit
durch bestimmte Registerverfahren wirklich zu garantieren, als
eine Art reiner Objektivität ohne die genialische Subjektivität
des Herausgebers, andererseits hin zu den visionären oder
spekulativen Textkonstitutionen, wie man sie in den 'Hesperischen
Gesängen' findet und die 'an sich' durchaus wieder lesbar
sind.
GM Noch eine Bemerkung zu der Frage, ob Sattler
eine Dekonstruktion wollte oder nicht. Wenn ich an eine solche
Ausgabe herangehe, ist es mir vollkommen gleichgültig, was
der Herausgeber wollte. Für mich ist allein maßgebend,
was in den Texten steht, wie sie präsentiert werden und
was ich damit anfangen kann. Das ist für Editionen durchaus
ein gewichtiger Aspekt: Was kann ein Leser mit ihnen machen?
Wie ist ihre Nutzbarkeit? Die negativen Seiten haben wir in verschiedenen
Aspekten bereits angesprochen: unübersichtliche Registerbildung,
Fehlleitungen etwa durch den Kolumnentitel, die nicht leisten,
was sie leisten sollten, etwa dadurch, daß Wörter
aufgenommen werden, die im Text gar nicht stehen.
RR Abschließend sollten wir noch etwas
sagen über die überraschende Art, in der Sattler die
Punkte in der Strophe 'Wie aber lieber Sonnenschein' von 'Mnemosyne'
deutet. Darüber gab es verschiedene Diskussionen. Eine Position
bestand darin, daß man sagte, Hölderlin habe versucht
sich zu vergewissern, wieviele Verse diese Strophe hat. Man kann
sich jetzt überlegen, ob es aus einer Unsicherheit heraus
geschehen ist oder um sie nur noch einmal festzuklopfen. Welchen
Eindruck habt Ihr von der Erläuterung, die Sattler dazu
gibt? Erstens wird wieder behauptet, ohne eine nähere Begründung
dafür zu geben, daß Hölderlin ein Gutteil der
Anregungen für seine Gedichte innerhalb dieser Zeit aus
der Lektüre von Herders 'Adrastea' gewonnen habe, und es
ist offenbar Sattlers Auffassung, daß der Anlaß,
'Mnemosyne' als Überschrift zu erwägen, ein Musengespräch
aus Herders 'Adrastea' ist. 'im hinblick auf diesen 'bezugspunkt'
[
] ist zu zeigen, in welcher weise der doppelgesang 'Die
Nymphe' / 'Mnemosyne' von anfang an auch formal an die stelle
des fünfstrophigen, jetzt offenbar als prooemium vorgesehenen
gesangs 'Andenken' tritt' (VIII 731).
Ich habe vergessen zu erwähnen, daß im Hintergrund
von Sattlers fünfstrophiger Konstitution die Überzeugung
steht, daß das Ganze abbildbar ist auf 'Andenken'. Daß
'Andenken' fünf Strophen hat, ist insofern evident, weil
wir davon auch einen Druck haben. Jetzt wird 'Andenken' zu einem
'Prooemium' (ein Begriff, der bei Sattler öfters vorkommt)
funktionalisiert. Unverständlich ist mir, wieso nicht gesagt
wird: in Analogie, sondern als Prooemium? Dann fährt Sattler
fort: 'mit der klärenden reinschrift S761
werden die überschrift b, der mittelteil und die
zweite hälfte des später in version b
aus 18zeiligen,
in a 'Mnemosyne' aus 17zeiligen
strophen bestehenden gesangs bereitgestellt; die erste, anderthalbstrophige
vorfügung S77 'Auf falbem Laube
'
wurde mit dem eher ironischen Herderzitat S78 'Cäcilia.' verworfen'
(in Parenthese gesagt: Dort steht nur das einzige Wort 'Cäcilia.'.
Aus einem isoliert gesetzten Wort abzulesen, es sei ironisch
gemeint, ist, ehrlich gesagt, schon ein sehr großer Ausgriff
auf mein Verstehensvermögen) 'und mit S761
'Die Nymphe.' die überschrift a
vorgegeben;
nach entwurf der 'Mnemosyne'-Strophe S794
und den nach und unterschiedenen 'Früchte'-strophen S801-4 wird der grundentwurf b durch
punktierung von der 'Mnemosyne'-version a
unterschieden;
das zwischen strophe 3 und 4 notierte S81 'Wohl ist mir die Gestalt
/ Der Erd' ist erster ansatz zur späteren, zweizügig
ausgeführten vervollständigung des gesangs; vgl die
bemerkung vor S166 'Gerächet oder
vorwärts
''. Offenbar ist es Sattlers Meinung, daß
es sich bei der Punktierung nicht um eine Zählung, eine
Überprüfung der Versanzahl handelt, sondern daß
sie eine Zuordnung dieser Verse zu einer anderen, alternativen
Textgestalt anzeigen, nämlich der Version b.
GM Es kommt dann noch eine weitere Stelle, wo
die Problematik noch deutlicher wird. Sattler ist nämlich
gezwungen, diese Reihe von Punkten zu ergänzen, damit sie
in der Weise funktioniert, wie er es annimmt. Dabei setzt er
sich auch polemisch ab von Beißners These, die Punkte würden
die stehenbleibenden Verse zählen.
RR Sattler schreibt: 'zeilenweise markierung
der 18zeiligen eingangsstrophe S803
ab S801
:3 'wie auf den Schultern
' vor der kolumne; so ebenfalls
bei der vorletzten und bei der gleichfalls 18zeiligen schlußstrophe
der version b
'Die Nymphe'
(in S763
am zeilenbeginn verdeckte markierung der eingefügten zeile
[88] 'Die Seele schonend sich' im darunterstehenden 'Zu'; der
vorentwurf der zweiten und dritten strophe bleibt unpunktiert;
da die komplizierte 'Mnemosyne'- redaktion [
] und der verhältnismäßig
eindeutige, jedoch zeilenintern gebrochene neuentwurf des schon
notierten 'Mnemosyne'-schlusses (b geltend vor a S794 : [78a]) ebenso unberücksichtigt
bleiben wie auch der unübersichtliche beginn der eingangsstrophe
b S801-3
:1-6, ist eine 'vergewissernde zählung' auszuschließen;
zusätzliche zeichen ergänzen in zweifelsfällen
die punktierung; ein diagonales zeichen (statt punkt) vor der
kolummne S792
:[67] 'Der Alpen, hälf[t]ig' meint vmtl die rechts notierte
version b S762
:[67] 'Der Alpen, dort'; ebenso zielt der eingerückt wiederholte
punkt vor S761
:[68]1 auf das gleichfalls hinter
der kolumne notierte b 'Bei Windessausen
';
ein vertikaler strich hinter der gegen die divergiernde
zeilenbrechung in a
S793 :[63. 64] gültigen
zeile S763
:[69] verdeutlicht zugleich die zugehörigkeit des darüber
notierten 'Der Alpen, dort' zur version b 'Die Nymphe'; ebenso bestätigen
drei striche unter dem von a
S793 :[65] 'auf hoher
'
überlagerten S763
:[70] 'auf der schroffen
' die gültigkeit dieser fügung
in version b' (VIII 740).
Es wird also versucht, auch an den Stellen, wo kein Punkt vorne
dran steht, den Eindruck zu erwecken, als habe Hölderlin
eine Markierung vorgenommen, die schon im Manuskript den von
Sattler sogenannten b-Gesang von dem sog. a-Gesang
separiert. Hier wirkt die Hypothesenbildung, die nicht explizit
ausgeführt wird, so stark, und hier ist das Konzept vom
Doppelgesang so mit Systemzwang eingesetzt, daß selbst
Befunde, die nun gar nicht hineinpassen, so zurechtgebogen werden
müssen, daß sie am Ende so erscheinen, wie der Editor
das gerne hätte. Warum ist das notwendig? Das Gedicht wird
dadurch weder besser noch schlechter, daß am Anfang der
Strophe die Punkte stehen und am Ende nicht mehr. Ich sehe darin
eine Überformung des handschriftlichen Befunds, die dem
Leser keinen Deut bessere Zugangsmöglichkeiten erschließt,
als es der Fall wäre, wenn diese Art von brachialer Reimplantation
von Einsichten unterbliebe.
GM Ich habe noch eine andere Frage, die einen
sehr starken Baustein in Sattlers Argumentation betrifft, daß
nämlich Hölderlin von vornherein den Plan von zwölf
Doppelgesängen gefaßt habe. Wie begründet Sattler
diese seine Hypothese? Dasjenige, was ich sehe und was wirklich
ein wichtiges Indiz wäre, ist die Verteilung von Überschriften
und von Gedichtansätzen im 'Homburger Folioheft'. Hier scheint
Hölderlin tatsächlich eine bestimmte Reihe von Gedichten
zu planen. Das ist auch in anderen Zusammenhängen, etwa
bei Uffhausen, Grund gewesen, eine Hypothese herauszubilden,
wie dieses Gedichtbuch hätte aussehen können, wenn
es denn zum Abschluß gekommen wäre. Bei Sattler sieht
das anders aus. Er schließt die drei Elegien am Anfang
des 'Homburger Folioheftes' aus, d. h. er kann diese Sammelhandschrift
nicht mehr ohne weiteres als Sammelbecken oder Planungsheft für
die Konzeption der Doppelgesänge nehmen. Wo gibt es denn
weitere Indizien?
WG Ich befürchte, das Ganze ist ein Indizienprozeß,
wo sich aus einer Überlegung die nächste ergibt und
wo nach einer gewissen Zeit die ursprüngliche Hypothese
zur Gewißheit wird. Das ist eine Entwicklung, die sich
im Selbstvollzug der Edition herausgebildet hat und die wohl
nur noch ästhetisch zu rechtfertigen ist. Wenn einem das
mit den zwölf Gesängen gef ällt, schön
das hat ja auch eine seltsame Evidenz, und man muß sich
erst einmal davon absetzen, um zu begreifen, daß es diese
nun weit über Uffhausen hinausgreifende Gesamtheitsvorstellung
des 'Gesangs' nicht gibt.
RR Um es konkret zu beantworten: Ich habe keine
Instanz im Überlieferten gefunden, die darauf hinweist,
daß man die Hypothese der zwölf Gesänge genauer
begründen könnte. Ich hätte mir den Gedankengang
so vorgetragen gewünscht, daß man ihn explizit als
behelfsweisen Kompaß für den Weg durch den Dschungel
einführt und seine erschließende Tauglichkeit dann
an den Handschriften plausibel macht. Mit dieser Art der Herangehensweise
könnte ich etwas anfangen, weil sie von Anfang an mit offenem
Visier vorgeht und einen dazu ermuntert, sich auf die Hypothese
einzulassen und sie gegebenenfalls aufzugeben oder zu ändern.
Die Frage ist, ob die Hypothese Anstoß gibt, alternative
Hypothesen zu formulieren, oder ob sie ihren experimentellen
Charakter verwischt und den Anschein erwecken will, alternativlos
zu sein. Die Dezidiertheit, mit der hier über Sachen geredet
wird, die man allenfalls im Modus der Vermutung artikulieren
sollte, finde ich nicht förderlich für die Frage der
Durchschaubarkeit der Argumentationsweise. Es ist eine Hypothese,
die nach ihrer Fruchtbarkeit beurteilt werden will, und als solche
hat sie einen anderen Status als die Behauptung einer faktischen
Existenz von Plänen. Es fehlt eine Ebene, die man sinnvollerweise
einziehen sollte, um so etwas into operation zu bringen.
Es gibt ein Moment bei der Textkonstitution dieser komplexen
handschriftlichen Überlieferung, das nach hermeneutischen
Aktionen schreit. Daß wir die Diskussion führen über
die Frage, wie das Gedicht 'Mnemosyne' eigentlich aussieht, hängt
damit zusammen, daß eigentlich niemand es für nötig
erachtet, sich der schwierigen Arbeit zu stellen, genau zu erläutern,
was er von bestimmten Strophen hält. Man muß ja das
Verständnis von den Blöcken klären, die dort oder
dort eingefügt werden, und ich bin mir bewußt, daß
wir aufgrund der Extension, die das alles annehmen würde,
an der Grenze dessen sind, was e i n e Person
leisten kann. Dennoch können wir nicht anstelle dessen
weil wir etwa so mutig wären, es uns trotzdem zuzutrauen
die Reflexion abbrechen und lieber etwas festsetzen, als
dem Nachdenken gar nichts zu überliefern. Dem Nachdenken
ist durch die Dokumentation schon genug überliefert, da
brauchen wir nicht noch zusätzlich diesen Überbau.
GM Ich glaube, wir können jetzt noch einmal
zurückkehren zu dem Satz, den wir bereits aus den Einleitungen
zu den Gesängen zitiert haben: 'es ist die erfahrung dieser
1972 begonnenen arbeit, daß im zerbrochenen gesang dieses
dichters die nur zu sichtbare zerstreuung des lichts nachvollzogen
und, im kühnsten aller künstlerischen akte, die möglichkeit
seiner restitution disponiert ist.' (VIII 537) Wenn ich unser
Gespräch richtig verstehe, folgen wir Sattler in der ersten
Hälfte des Satzes: Die 'zerstreuung des lichts' ist nicht
Symptom einer Geisteskrankheit, sondern als eine äußerst
komplexe Auseinandersetzung mit der Zeit zu sehen. Die Möglichkeit
einer Restitution, die in dem Überlieferten angelegt sein
mag, bleibt der Deutung überlassen und kann nicht mehr Gegenstand
der Edition sein. Ich befürchte, dieser 'kühnste aller
künstlerischen akte' ist tatsächlich Sattlers künstlerischer
Akt, und nicht der von Hölderlin.
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