/ rezensionen korrespondenz
/
ralph mueller, hoelderlins fragmentarisch vollendete gedichte.
ein gespraech mit dem hoelderlin-herausgeber d e sattler
neue zuercher zeitung, 19./20. januar 2002
Wie kaum ein anderes
Editionsprojekt hat die 1975 begonnene Frankfurter Hölderlin-Ausgabe
der Editionsphilologie eine neue Richtung gegeben. Im Gespräch
mit Ralf Müller äussert sich D. E. Sattler, der
Herausgeber und Initiant der Frankfurter Edition, über seine
zum Lebenswerk gewordene Ausgabe.
Herr Sattler, nach
über 25-jähriger Arbeit haben Sie die Frankfurter Ausgabe
mit den Bänden 7 und 8, den 'Gesängen', praktisch abgeschlossen.
Können Sie sich erinnern, wie Sie Hölderlin zum ersten
Mal begegnet sind?
Ich hatte mich in
meiner Jugend, auch nach meinem verfrühten Schulabgang,
bemüht, mich umfassend auf eigene Faust zu bilden, war auch
in der Zeit, als meine Eltern noch glaubten, ich ginge zur Schule,
vormittags in der Bibliothek. Ich lieh mir Bücher aus und
las sie im Café. Bis ich dann eröffnete, dass ich
das Abitur nicht machen würde, und dann auch ohne Wissen
der Eltern eine Aufnahmeprüfung bei der Werkkunstschule
bestand. Ich wurde angenommen, aber eine Abschlussprüfung
habe ich dort auch nicht gemacht. In diesem Zusammenhang habe
ich Hölderlin gelesen. Ich hatte Hölderlin schon in
einer Bertelsmann-Lesering-Ausgabe, das war damals das Preiswerteste
für junge Leute. Dann aber habe ich mir tatsächlich
einige Bände der Stuttgarter Ausgabe erarbeitet. Vielleicht
war es der Schweiss, den ich dabei vergossen habe, der dazu geführt
hat, dass ich sie besonders gründlich auch als Laie gelesen
habe - nicht nur die Texte des sogenannten Textbandes, sondern
auch die Lesarten.
Die Stuttgarter
Ausgabe wurde von Friedrich Beissner noch während des Krieges
begründet, sie galt Ende der sechziger Jahre als eines der
herausragenden Editionsprojekte überhaupt. Wie kamen Sie
aus der Position eines Autodidakten zur Kritik an der etablierten
Editionswissenschaft?
Ich benutzte damals
die Stuttgarter Ausgabe als Grundlage für eigene Illustrationen,
denn damals wollte ich noch bildender Künstler werden. Ich
habe als Student der Werkkunstschule Kassel ein kleines bibliophiles
Bändchen mit Hölderlin-Gedichten gestaltet, das ich
dann auch Friedrich Beissner geschickt habe - und an Martin Heidegger.
Damals waren es auch die Hölderlin-Aufsätze Heideggers,
die mich beeindruckten. Ich schrieb einen Aufsatz nur zu meiner
Übung, der wurde dann von einem befreundeten Lehrer der
Werkkunstschule gelesen und heftig kritisiert. Eine Stelle in
Beissners Ausgabe machte mich stutzig. Ich dachte, da stimmt
doch was nicht, Hölderlin schreibt doch nicht hinter 'und
sehen lassen / und das Eingeweid' der Erde' einen Punkt, da ist
doch irgendetwas falsch. Das sagte ich meinem Lehrer. Er wollte
daraufhin von mir nichts mehr lesen, wenn ich über Dinge
spekulierte, die man nachprüfen könne. Er fragte: Gibt
es die Handschriften? Ich sagte: Ja. - Wo liegen sie? - In Stuttgart.
- Dann nehmen Sie sich Urlaub und gucken sich das an! So geschah
das. Ich fuhr nach Stuttgart, um mir die Manuskripte in der Württembergischen
Landesbibliothek anzusehen.
Was ging Ihnen durch
den Kopf, als Sie schliesslich in der Stuttgarter Bibliothek
ankamen und die Blätter zum ersten Mal vor sich sahen?
Ich sah, dass ich
das ja gar nicht lesen konnte. Die Seite war übervoll und
in deutscher Schrift beschrieben, was ich nicht mehr gelernt
hatte in der Schule. So habe ich mir dann ein paar Handschriften
als Kopie bestellt. Zu Hause habe ich versucht, sie anhand der
Stuttgarter Ausgabe, anhand des sogenannten Lesartenbandes, zu
entziffern, und stellte dann fest, dass etwa 30 oder 40 Prozent
dessen, was auf dieser Seite stand, überhaupt nicht im edierten
Text erschien. Und die Stelle, die ich reklamiert hatte, da sah
ich einen Satz am linken Rand, der sehr schwer zu lesen war,
den ich damals so entzifferte: 'Der Rosse Leib war der Geist.'
Das war falsch, gut, aber dieser Satz fehlte ganz in der Stuttgarter
Ausgabe; indessen habe ich danach nie wieder einen fehlenden
Satz gefunden. Denn die Beissner'sche Ausgabe stellt zwar ein
überkommenes Stadium der Editionstechnik dar, ist aber bei
allen ihren Schwächen systemintern fast perfekt.
Wer nun in der Frankfurter
Ausgabe vielleicht zum ersten Mal die Handschriften Hölderlins
zu lesen versucht, der wird wohl nicht nur mit der deutschen
Schrift Probleme haben. Hölderlins Hand zeigt Züge
vollendeter Schönheit, aber an anderen Stellen geht es drunter
und drüber.
'Und Stutgard, wo ich / Ein
Augenbliklicher begraben / Liegen
dürfte': Friedrich Hoelderlins
fragmentarisches Dichten. (Bild
D. E. Sattler)
In dieser Weise sind die Hölderlin'schen Handschriften Bilder.
Als hätte er die Möglichkeit ihrer Reproduktion vorausgesehen.
Als hätte er gewusst, dass diese Handschriften erhalten
bleiben, was ja für sich ein Wunder ist. Ich war als Schüler
als Strom-, Gas- und Wasserableser in Kassel unterwegs. Da kommt
man manchmal auf einen Dachboden, wo jemand vor seiner Kerze
sitzt, ein bisschen verrückt, und was schreibt, und man
fragt, was das sei. Er sagt dann: 'Da wird man noch von hören.'
Natürlich denkt man, o armer Irrer, da wird man nie was
von sehen und hören. So muss man die völlig aussichtslose
Position auch dieses Dichters sehen, der etwas hinterlässt,
und das bleibt tatsächlich erhalten und wird Anfang des
letzten Jahrhunderts zum Gegenstand der Wissenschaft.
Als die ersten Bände
der Frankfurter Ausgabe im Verlag Roter Stern erschienen, war
die Resonanz erheblich. Aber es gab nicht nur Lob. Für einige
Germanisten, nicht nur für Beissner-Schüler, war die
Art der Präsentation ein Sakrileg. Für Aufruhr sorgte
aber auch die Person des Herausgebers.
Sie meinen, dass
ein Dilettant die Ausgabe machte? Ja, ich gestehe das auch ganz
offen. Schiller sagt anlässlich seiner ersten Gedichtsammlung,
er habe sich vor den Augen der Öffentlichkeit gebildet,
das kann ich von mir auch sagen. Es wurde im Lauf der Jahre das
Editionsprinzip immer wieder verbessert, bis hin zu den Bänden
7 und 8, die jetzt vorliegen. Da mussten, um dieses sehr schwierige
Spätwerk darzustellen, noch einmal neue Wege beschritten
werden.
Die Editionstechnik
der bisherigen Bände ist mittlerweile anerkannt, sie hat
wissenschaftliche Standards gesetzt auch für andere historisch-kritische
Ausgaben. In den jetzt erschienenen 'Gesängen' zeigt die
Frankfurter Ausgabe wie in den vorhergehenden Bänden sämtliche
Handschriften Hölderlins in photographischer Reproduktion,
bevor sie diplomatisch in Druckschrift übertragen werden.
Der Weg zu den resultierenden Editionsvorschlägen war bisher
auf Grund dieser Methode transparent. Kritiker werfen Ihnen nun
vor, dass es diese Transparenz in den Bänden 7 und 8 nicht
mehr gibt, da Sie auf die Darstellung einzelner Entwicklungsstufen
der jeweiligen Gedichte verzichtet haben und die Existenz eines
integralen Gesangs nachzuweisen versuchen.
Ich habe in der
Ausgabe die Fragmente segmentiert, also nicht Gesänge einfach
ediert, sondern chronologisch nachvollzogen gemäss den [Forderungen]
der Handschrift. Dann ergibt sich eben, dass der Dichter niemals
oder selten an einem Gedicht pausenlos gearbeitet hat, bis es
fertig war, sondern dass er wie ein Schachspieler an verschiedenen
Brettern so etwas wie einen integralen Gesang geschaffen hat.
'Hesperische Gesänge' nenne ich sie im Unterschied zu Beissners
'vaterländischen'. Durch das Hinzutreten von immer neuen
Segmenten entsteht so etwas wie ein kumulativer Text, so dass
erst am Ende der Ausgabe zusammenhängende Gesangstexte erscheinen.
Gedichte wie 'Der
Rhein' oder 'Patmos' liegen als Reinschriften des Dichters vor,
ihre Edition ist insofern relativ unproblematisch. Aber es sind
ja gerade die Fragmente und ihre Zu- und Anordnung, die Herausgeber
immer wieder vor Rätsel gestellt haben. Ihre Ausgabe der
Gesänge zählt 288 Segmente, also Gedichtteile bzw.
Teilgedichte, die Hölderlin nicht unbedingt vollendet hat.
Ist die Rekonstruktion einer poetischen Ordnung da überhaupt
sinnvoll?
Reinschriften, sofern
sie nicht Überarbeitungen zeigen, scheinen fertig zu sein.
Das Homburger Folioheft und die Handschriften, die darum herum
liegen, also nach 1802, nach der Rückkehr aus [Frankreich]
bis hinein in den Tübinger Turm 1807, zeigen eine andere
Form der Notation. In ihnen bildet Hölderlin sozusagen den
abendländischen Orbis nach, wie er sich gerade in seiner
Jugend nun erst darstellte. Es ist das Zeitalter der Entdeckungsfahrten,
es werden die Inseln entdeckt, es gibt nicht mehr den antiken
ptolemäischen Orbis, wo Afrika, Europa und Asien eine einzige
zusammenhängende Landmasse bilden mit Delphi im Zentrum
oder mit Jerusalem oder mit Rom. Jetzt ist es tatsächlich
eine Inselwelt. Insofern spricht Hölderlin davon, dass seine
Dichtung die Gestalt des Erdballs annimmt.
Heisst das, wenn
der herkömmliche Landweg zum Sinn versperrt ist, dann muss
ich wie Kolumbus den Seeweg über die andere Seite nehmen,
um den Sinn des Gedichteten zu erschliessen? Woher weiss ich
denn, dass am Ende des Meeres sicherer Boden auf mich wartet?
'Es nehmet aber
/ und gibt Gedächtnis die See', heisst es im Gesang 'Andenken'.
Die See ist im Grunde das Element des ständigen nutzlosen
Hin und Her, aber auch das Transportmittel. Der Leser oder der
Herausgeber - und deswegen das Wort Inselwelt - muss nicht die
Ergänzung eines Satzes im Umfeld direkt suchen, also in
nächster Nähe, sondern kann sich jetzt auf eine Entdeckungsfahrt
auch über leere Seiten bewegen. Von dort kann er die Frucht
einer anderen Insel herüberholen und dorthin transportieren,
wo sie hingehört.
Müssen Sie
nicht trotzdem davon ausgehen, dass auch der späte Hölderlin
ganze Gedichte hat schreiben wollen, dass die überlieferten
Fragmente nur ein 'work in progress' sind, an dessen Endpunkt
dem Dichter ein vollendetes Werk vorschwebte?
Das ist eine ästhetische
Frage. Die sogenannt abgeschlossenen Gedichte sind immer auch
ein Scheingebilde. Sie vermitteln den Eindruck der Legitimierung
einer Welt voller Zerrissenheit und Widersprüche, eine Welt,
in der das Wir auch immer eine Lüge ist - als wäre
etwas heil, wo nichts heil ist. Es war Hölderlins Art, vollendete
Gedichte fragmentarisch zu schreiben, das heisst, sie vollendet
zu denken, aber fragmentiert zu notieren, das ist der grosse
Unterschied. So hat dieser Dichter in einer Zeit, die seine Sachen
nur mit Häme bedachte, eine Form gewählt, die das Gedicht
in der Verborgenheit in eine andere Zeit hinübertrug, ohne
dass es zum Bildungsgut werden konnte. Dieser Gedanke, dieser
kühne Gedanke, dass etwas verstreut notiert wird, enthält
ja ein Hoffnungspotenzial der Sammlung oder der Heilung.
Geht dieser Idealismus,
der Glaube, dass man das zerbrochene Ganze heilen könne,
mit Ihrer Betonung des Fragmentarischen bei Hölderlin denn
zusammen?
Es war mir von Anfang
an ganz klar, dass ich, wenn ich der Sache überhaupt zum
Durchbruch verhelfen könnte, die Sklavensprache wählen
müsste. Ich musste mich vollständig zurücknehmen
und nur durchblitzen lassen gelegentlich in den doch notwendigen
Sachkommentaren, was meines Herzens Meinung dazu ist. Aber ich
habe als Herausgeber nicht das Recht, in einer historisch-kritischen
Ausgabe meine Ansichten kundzutun. Insofern es sich auf die Verbesserung
der Textgestalt bezieht, muss ich Hypothesen aufstellen, muss
sie argumentativ belegen. Aber das nicht in der Sprache, in der
ich normalerweise spreche. Hölderlin sagt selbst: Wissen
ist die Kunst, bei positiven Irrtümern sicher im Verstande
zu sein.
|