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offener brief an professor dr. wolfram groddeck
dr. h. c. D. E.
Sattler arbeitsstelle historisch-kritische Hölderlin-ausgabe
Rutenstraße 8 28203 Bremen
herrn
professor dr. Wolfram Groddeck
Basel
30. januar 2002
lieber Wolfram,
die kluft zwischen uns, die sich, wie ich hoffte, vor jahren
wieder geschlossen hatte, brach, wie ich jetzt deutlich sehe,
längst wieder auf, und dies nicht von meiner seite; so muß
ich mich wundern, daß ich von Luigi Reitanis sicher verdienstvoller
leseausgabe (Lea) erst aus der Neuen Zürcher Zeitung erfahre,
obwohl sie, wie Du selbst schreibst, ohne meine historisch-kritische
ausgabe nicht denkbar wäre, und ich vermute - und lasse
mich gern korrigieren -, daß jenes treffen damals in Italien
schon diesem, mir verheimlichten projekt galt; wie dem auch sei,
das alles ist nicht fein und kann nichts zu tun haben mit differierenden
auffassungen in irgendeiner editorischen sache, es bezeugt vielmehr,
wie vieles andere von verlagsseite, eine 'politische' tendenz,
die mich traurig, zugleich aber auch zuversichtlich stimmt, weil
diese sicher auch durch mein denken und tun mit herbeigeführte
isolierung zugleich als gutes vorzeichen anzusehen ist
als ich heute nacht wegen des ausstehenden briefs an Dich nicht
wieder einschlafen konnte, ging ich an meine arbeit, die ich,
anders als die editionsarbeit am nützlich-schädlichen
gerät, im augenblick ohne schaden, im stehen, verrichten
kann und kam bei der dechiffrierung des letzten satzes im concerto
c-dur für zwei cembali als doppelchor für je drei stimmen
auf die stelle, an welcher der fremdling Abraham den brunnen
bei Berseba gegraben, um dessen nutzung es streit gegeben hatte,
seinen zweiten bund mit Abimelech schließt und in diesem
schönen bild, neben schafen und rindern, sieben lämmer
gesondert darstellt, zum zeichen, daß er es war, der den
brunnen auf fremdem boden grub; da war es mir ein leichtes, einzuschlafen,
und Du siehst mich versöhnungsbereit
leider kenne ich Reitanis leseausgabe der gedichte nicht und
werde sie mir, besonders nach Deiner éloge, wohl kaufen
müssen; was aber den meines erachtens zu sehr herausgestellten
ansatz einer wiedergabe der erstdrucke in den zum teil vom dichter,
zum teil auch nicht von ihm vorgenommenen gruppierungen anlangt,
wären wir bei dogmatischer handhabung wieder bei dem von
Friedrich Beißner 1943 herausgegebenen ersten band der
Schiller-nationalausgabe angelangt, und wir hätten, was
Hölderlin betrifft, dabei auch ein gerüttelt maß
Neuffer, Schiller, Sinclair, Seckendorf und sonstige setzerversehen
und eingriffe
vor fast zehn jahren
konzipierte ich und erarbeitete in meinen 14-stunden-tagen die
chronologisch-integrale edition der werke, briefe und dokumente,
die jetzt partiell in den bänden 19/20 und unmittelbar danach
als chronologisch-integrale leseausgabe (Cilla) erscheinen wird;
so haben, nebenbei bemerkt, beide mägde ihre namen; nach
diesem konzept versteht es sich von selbst, daß die erstdrucke
an ihrem zeitlichen ort erscheinen; in der version der historisch-kritischen
ausgabe so, wie sie da sind - mit den abweichungen überlieferter
handschriften und notwendigen emendationen als marginalvarianten
am rand (zum beispiel 'Andenken' 46: 'Most,' statt 'Mast,') -,
in der chronologisch-integralen ausgabe als edierter text mit
verweis auf nicht beweisbare, nach dem verfahren der FHA entweder
als 'vmtl' oder 'mglw' zu qualifizierende lesarten
dort, auch im hinblick
auf ps CIV,4 und joh III,8 und einen schwarm von Hölderlin-belegen,
der 'Ganymed'-druck nicht mit der 'hochgespielten' lesart 'Ziel',
sondern eher mit dem handschriftlich verbürgten 'Spiel';
unverständlich vielleicht denen, für die nicht dieses
'Du hast ja ein Ziel vor den Augen / damit du in der Welt dich
nicht irrst' (DDR, anfang der 50er jahre) grundsätzlich
gilt, oder auch jenen, die es schon hinter sich gelassen haben
S 1101
3-6
o guter Geist,
Der Wasser, die
Durchs heimatliche Land
Mir irren
im hinblick auf
die chronologisch-integrale edition am schluß der ausgabe
konnte ich mit gutem editorengewissen bei der gattungsspezifischen
einteilung der edition bleiben, an der du anfangs mitgearbeitet
hast; mein auch öffentlich gemachtes ungenügen an dieser
editionsform führte ja zu dem chronologisch-integralen konzept;
andererseits ist festzuhalten, daß weder Du noch ich 1975/76
zu jener besseren, vollständige kenntnis des gesamten materials
voraussetzenden editionsform in der lage gewesen wären
laß mich hier
noch das Pascalsche axiom am beginn meiner arbeit aussprechen:
im zweifel gilt sinn; es ermöglichte mir jene jahrzehntelange
erkenntnisarbeit, deren resultate Du mit dem weg und der voraussetzung
vorweg und pauschal verwirfst; steht es für Dich wirklich
außer zweifel, daß alles, was ich jetzt aufatmend
vorgelegt habe, unsinn ist, und nach Deiner theorie das chaos
einer dichterischen welt vor dem werdewort als einzig denkbare
ansicht zu goutieren sei? dann allerdings hätte ich große
mühe und viel geist daran gewendet, Euch die lektüre
zu erschweren und die äußerliche und nicht inwendige
wahrheit dieses werkteils zu verschleiern; bitte korrigiere mich,
wenn ich nach Deinen brieflichen äußerungen feststelle,
daß der in Basel vorgeschickte und nicht schlecht lektorierte
lizentiat exakt auch Deine - oder soll ich die mitglieder des
instituts für textkritik und die nutznießer und verleger
einer seit 1975 kontinuierlich publizierten arbeit einschließen:
Eure - auffassung wiedergibt
Kriterium des Wahren
ist nicht seine unmittelbare Kommunizierbarkeit an jedermann.
Zu widerstehen ist der fast universalen Nötigung, die Kommunikation
des Erkannten mit diesem zu verwechseln und womöglich höher
zu stellen, während gegenwärtig jeder Schritt zur Kommunikation
hin die Wahrheit ausverkauft und verfälscht. An dieser Paradoxie
laboriert mittlerweile alles Sprachliche. Wahrheit ist objektiv
und nicht plausibel. So wenig sie unmittelbar irgendeinem zufällt
und so sehr sie der subjektiven Vermittlung bedarf, so sehr gilt,
für ihr Geflecht, was Spinoza allzu enthusiastisch schon
für die Einzelwahrheit reklamierte: daß sie der Index
ihrer selbst sei. Den Privilegcharakter, welchen die Rancune
ihr vorrechnet, verliert sie dadurch, daß sie sich nicht
auf die Erfahrungen herausredet, denen sie sich verdankt, sondern
in Konfigurationen und Begründungszusammenhänge sich
einläßt, die ihr zur Evidenz helfen oder sie ihrer
Mängel überführen.
so Th. W. A., bevor
in der Frankfurter schule der busen entblößt ward;
unverschämterweise, ist hinzuzusetzen; ich denke, daß
jene 'Konfigurationen und Begründungszusammenhänge'
in den mehr als tausend seiten der bände 7/8 'gesänge'
vor augen liegen; der leser wird konfrontiert mit einer in dieser
weise vielleicht beispiellosen anstrengung, die denn selbst Dich
zu dem modewort 'Provokation' verleitet hätte; Du behauptest,
daß 'man von Verweis zu Verweis geschickt' würde 'und
die editorischen Entscheidungen nicht versteht und auch nicht
erläutert bekommt'; was die verweise betrifft, so gestatten
sie eine zielgerichtete, vorgreifliche lektüre, die im falle
grundsätzlichen zweifels am verfahren des dichters dem nachginge,
was sie von vornherein als 'unmöglich' betrachtet; soll
ich glauben, daß es dem nicht unbedingt mündigen,
immerhin aber neugierig kritischen leser unmöglich sei,
sich einer mit dem anfang der bände beginnenden und an ihrem
ende endenden lektüre zu überlassen, und ist es zu
viel verlangt, daß er den im editorischen teil vom herausgeber
gegebenen hinweisen in den aufgeschlagenen handschriften und
umschriften des dokumentarischen teils nachgeht? ohne bereitschaft
zu einer solchen lektüre muß die aufgeschlossene tür
ungeöffnet bleiben; für die zunehmende rezeptionsunfähigkeit
auf der 'ungebildeteren' und die rezeptionsverweigerung auf der
'gebildeteren' seite des publikums bin ich nicht haftbar zu machen;
dafür hafte ich, nach meiner einsicht, für die andere,
mit fleiß ausgegrenzte, im eingang von 'Patmos' prägnant
manifeste dimension dieses werks
dieser brief wird im internet veröffentlicht, das gleiche
würde für Deine antwort gelten; edition ist öffentliche
sache, demgemäß gilt für mich Kants am schluß
des entwurfs 'Zum ewigen Frieden' stehende formel des öffentlichen
rechts: ' A l l e a u f
d a s R e c h t a n d e r e r
M e n s c h e n b e z o g e n e n
H a n d l u n g e n ,
d e r e n M a x i m e
s i c h n i c h t
m i t P u b l i z i t ä t
v e r t r ä g t ,
s i n d u n r e c h t . '
dem heimlichen korrespondiert das geschrei; ich zitiere das 'Kolomb'-segment
2062 samt meiner knappen erläuterung:
die rufe beim embarquement
antizipieren die erwartete reaktion; zwei punktierte linien links
und mittig schließen die breite lücke zu S 293:
11 Ein Murren war es
Zu Schiffe aber steigen
ils crient rapport, et fermés maison,
mglw: Zu Schiffe aber steigen / ils[,] crient (das überlange
t von 2 tu fungiert als komma)
tu es un saisrien
Ein Murren war es, ungedultig, denn
Von wengen geringe Dinge
Verstimmt wie vom Schnee war
Die Glocke, womit
Man läutet
Zum Abendessen.
was mag es wohl
mit dem von mir als editorischen terminus gebrauchten 'rapport',
mit dem 'saisrien', dem ungeduldigen 'Murren' und schließlich
gar mit dem 'Abendessen' auf sich haben?
Dein D E Sattler
(der sein 'Dora Emil' nicht aus dem kaufhaus des westens entwendet
hat)
als beilage
dechiffrierung des doppelchörigen konzerts für zwei
cembali c-dur, dritter satz, takt 102-107: schluß gen XXI
und war ein fremdling in der philister land eine lange
zeit
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