/ bach-projekt /
sonata I à violino solo
(BWV 1001)
vgl dechiffrierung
yehudi menuhin zu 'sei solo à violino senza basso accompagnato'
Schaue ich auf Bachs
Handschrift, so meine ich einen Himmelskörper in Bewegung
zu sehen und Zeuge zu sein, wie sich eine Naturerscheinung entfaltet
nach der unabänderlichen Weltordnung, in welcher der Mensch
nur ein Bruchteil ist. Kein Wunder, daß wir Bachs Musik
als universal empfinden.
Man sehe den kräftigen, unaufhaltsamen Fluß seiner
Handschrift, einem Strome gleich, der sich unerbittlich zum Meer
hin bewegt und doch, unendlich biegsam und fügsam, jedem
Stein sich anschmiegt, jedem Hügel oder Berg und jedem geringsten
Hindernis seiner Bahn.
Auch läßt sich sein Werk dem Keimen des Samens vergleichen,
in dem die künftige Pflanze vorbestimmt ist bis in
die kleinste Einzelheit von Art und Aufgabe und damit doch auch
gebunden an ihre Gegebenheiten von Licht, Luft und Nahrung, dienend
und beherrschend zugleich.
Die Vorstellung Bachs in seiner Musik ist umfassend: genau wie
sich manche Leute einen Raum innerhalb eines Hauses vorstellen,
andere ein Haus innerhalb einer Stadt und wieder andere die Stadt
als Teil eines Landes, das Land als Teil einer Welt und die Welt
als Teil des Alls, so waltet auch in Bachs Musik eine Vorstellung,
die über das einzelne Werk hinausreicht
Wir wenden uns zu Bach wie zu einer größeren Kirche,
wie zu einem Heiland der Musik. Obgleich der Klang der Musik
unantastbar ist, so daß man annehmen könnte, er sei
nicht zu verderben, so ist Bachs Musik doch gegen Mißdeutungen
nicht gefeit, so wenig wie Christi Wort. Spätere Geschlechter
haben nicht immer gehandelt, wie das Wort es gebietet.
Wie die edelsten Werke der Menschheit alle doch angewiesen bleiben
auf Auge und Ohr, Sinne und Herzen derer, die sie erfassen, so
ist auch Bachs Musik oft von vorübergehenden Moden entstellt
worden.
Schuld ist auch hier die unselige menschliche Gewohnheit, welche
die Leute zwingt, ein universales Prinzip zu einem endlichen
Zweck herabzuwürdigen.
Glücklicherweise besitzen wir in Bachs Handschrift ein greifbares
Zeugnis seines Wollens und Fühlens und können so jederzeit
erinnert und zurückgerufen werden zum echten Buchstaben
und zum Geist seiner Aussage.
(Johann Sebastian Bach, Sonaten und Partiten für Violine
allein. Wiedergabe der Handschrift, Frankfurt am Main 1962, p 5-8)
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