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8. 3. 2002

acht einzeln überlieferte kanons (bwv 1072-1078, deest)

Friedrich Wilhelm Marpurg bemerkt in seiner 1753 und 1754 erschienenen Abhandlung von der Fuge nach den Grundsätzen und Exempeln der besten deutschen und ausländischen Meistern zum kanon allgemein: Es war nicht allein ehedessen, sondern es ist auch noch itzo der Gebrauch, daß man über einen zum Grunde liegenden vesten Gesang einen Canon machet… und verweist auf die kanonischen veränderungen über Vom Himmel hoch da komm ich her; dagegen heißt im kritischen bericht (krb) zu Neue Bach Ausgabe (nba) VIII/1 Kanons / Musikalisches Opfer (1976, herausgegeben von Christoph Wolff): Kanons sind im 17. und 18. Jahrhundert in erster Linie Exempel kontrapunktischer Kunstfertigkeit und nicht von primär praktischem Interesse. In diesem Sinne verstehen sich beispielsweise Bachs Widmungskanons, die nicht für eine klangliche Realisierung gedacht sind…

festzustellen, daß ungleichartige verhältnisse durch verallgemeinernde urteile nicht zureichend aufgefaßt und begriffen werden; sie verbauen vielmehr den unbefangenen blick auf die zeichensprache der details und damit auch die einsicht in sachverhalte, mit denen nach derzeitigem wissensstand nicht zu rechnen war; diese haltung gibt sich nicht nur wissenschaftlich, sie ist es auch im ironischen sinn der Hölderlinschen definition des wissens als Kunst, bei positiven Irrtümern im Verstande sicher zu seyn (Untreue der Weisheit; fha 15/347); die vorgeblichen prinzipien dieser ‘kunst’ sind diktiert von pragmatischen maximen und diese wieder reagieren auf unfreie, das heißt ängstliche weise auf die menschlicher realität eingeschriebene aporie, daß das kontinuum des erkenntnisfortschritts zur praktischen nutzung von erkenntnissen angehalten werden muß

die publikationen, in denen dies geschieht, müssen also behauptungen wie die oben zitierte enthalten; sobald sie als apologetisch erkannt sind, wirken sie tragikomisch; tragisch, in welcher form das am szientifischen turmbau tätige bewußtsein auf lücken im fundament reagiert; komisch, mit welchen mitteln es diese für den augenblick verschließt; hier mußte die neue ausgabe sämtlicher werke Johann Sebastian Bachs die gattung des widmungskanons, streng genommen die des canon clausus insgesamt, von der praktischen wiedergabe ausschließen, weil kein text bekannt ist und das keiner anderen als der menschlichen stimme zuzuordnende notenbild zu instrumentaler aufführung wenig einlädt

neben der stimmführung der sieben überlieferten, vermutlich stets in die stammbücher von schülern eingetragenen widmungskanons war also der wortlaut zu ermitteln; beim Canon doppio sopr’ il Sogetto (brv [3_b]) gibt das hinzugefügte Symbolum den unmißverständlichen hinweis; zu diesen persönlichen botschaften tritt noch jene kindern und enkeln entgegengehaltene des Canon triplex à 6 Voc: auf dem Haußmann-porträt von 1747 (brv [65]); wie in allen instrumentalkompositionen Bachs bestimmt der zugrunde gelegte text auch hier melos, artikulation und die quantitäten der ‘sogetti’; darüber hinaus die anzahl der repetitionen

was letztere betrifft, ist die wiedergabe in der nba inkorrekt; krb VIII/1/42: Die eindeutige Textüberlieferung der Kanons macht einen kritischen Apparat überflüssig. Unberücksichtigt bleiben kann die gegenüber den Quellenvorlagen vereinheitlichte Setzung von Wiederholungszeichen (Doppelstrich mit Doppelpunkt zu Beginn und Ende einer jeden Repetitionsperiode); sechs von acht kanons sind am beginn des notenbands im faksimile wiedergegeben; die wiederholungszeichen der kanons haben aber in Bachs handschrift (auch in der druckfassung des Musikalischen Opfers) jeweils vier punkte; dieses kanontypische zeichen dürfte auf die möglichkeit mehrfacher wiederholung verweisen

in relativer chronologie wären die acht einzeln überlieferten kanons in der reihenfolge
brv 67.66.[3_a].64.65.[3_b].69.68 anzuordnen