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8. 3. 2002

concordia discors (bwv deest)

nba VIII/1 bietet nur das erste, achttaktige, mit repetitionszeichen versehene, im unterschied zum zweiten nicht durch taktstriche unterteilte notensystem; das zweite, unmittelbar darunter stehende system besteht aus einem einleitenden takt und neun zu repetierenden takten; überdies folgt auf den über die blattbreite verteilten haupttitel Canon  Concordia discors.  von J. S. Bach. der über dem zweiten system stehende zwischentitel Canon perpetuus

das ungelöste, im titel ausdrücklich als lösbar bezeichenete problem der vereinigung zweier unvereinbar scheinender stimmen und kanonformen veranlaßte Wolfgang Reich, der den rätselkanon Bachs 1960 in der sächsischen landesbibliothek Dresden, in einem stammbuch Johann Conrad Arnolds, entdeckte, die untere stimme dem überliefernden Johann Gottfried Müthel zuzuschreiben

der Schweriner hoforganist war, knapp drei monate vor Bachs tod, zu einem einjährigen studienaufenthalt in dessen haus gekommen; der herausgeber von nba VIII/1 kommentiert: Das Bach-Zitat vor seinem eigenen Kanon benutzt Müthel offensichtlich, um Arnold dessen stolzes Enkelschülerverhältnis zu Johann Sebastian Bach klarzumachen; als Hypothese wäre dabei zu bedenken, daß es sich hier um einen Kanon handelt, den Bach Müthel selbst ins Stammbuch geschrieben hat […] ein Stammbuchkanon für Müthel hätte zu den letzten musikalischen Äußerungen Bachs gehört; die möglichkeit, daß aus den divergierenden stimmen ein mindestens vierstimmiger kanon zu bilden wäre, wird nicht betracht gezogen; die Bach zugeschriebene einzelstimme wird im notenband durch spiegelung und verschiebung um eine halbe note zu einem zweistimmigen kanon aufgelöst

da bei rätseln dieser art jedes detail der anordnung und beischrift als wink zur richtigen auflösung gelten muß, ist anzunehmen, daß Müthel das wahrscheinlich ihm gewidmete original mit größtmöglicher genauigkeit nachgebildet hat

wie oben angedeutet, fordert der mittig über dem ganzen stehende titel Concordia discors die vereinigung jener dem anschein nach unvereinbaren notensysteme; mathematisch jederzeit möglich ist dies durch das gemeinsam vielfache der divergierenden taktzahlen acht und neun; demnach ist die längere, Canon perpetuus überschriebene tonfolge in 72 takten und zu ermittelnder stimmlage und verwandlung achtmal am kürzeren, neunmal ostinat wiederkehrenden und analog abzuwandelnden Canon vorbeizuführen; dessen taktstriche fehlen, weil mit ihnen die halbtaktige, kontrapunktisch notwendige verschiebung angegeben und damit der canon clausus zur hälfte schon aufgelöst wäre; da die eintaktige einleitung nicht wiederholt wird, endet die zyklische, mit jeder repetition um einen takt fortschreitenden engführung von Canon und Canon perpetuus in der mitte des 73. takts

überschrift und dechiffrierter umfang weisen auf psalm CXXXIII: siehe  wie fein und lieblich ists  daß brüder einträchtig bei einander wohnen. wie der köstlich balsam ist  der vom häupt aaron herab fleußt in seinen ganzen bart  der herab fleußt in sein kleid. wie der tau der von hermon herab fällt auf die berge zion   denn daselbst verheißt der herr segen und leben immer und ewiglich

die 82 silben dieses den ursprung aller zwietracht ins auge fassenden und mit süßer rede aufhebenden psalmlieds hat Bach in 24 takten vokalisiert; während die wiedergabe im geradzahligen taktmaß der ostinaten unterstimme dreimal gleich bleibt, ergibt sich aus dem überhang des neuntaktigen themas eine dreifach verwandelte artikulation

das concordia-motiv legt einen vollstimmigen chorsatz nahe; dieser dürfte sich mit notation der schon durch Wolfgang Reich nachgewiesenen spiegelung der altstimme in der tenorlage sowie durch analoge verwandlung und transposition der neuntaktigen linie in die sopran- und baßlage ergeben; auf letzteres deuten die beiden oktavsprünge und auch die anordnung dieser den tonumfang nicht ausschöpfenden mezzosopran-stimme unter der achttaktigen linie; nicht auszuschließen, daß auch damit die möglichkeiten der harmonisierung nicht ausgeschöpft sind